TRAGVERHALTEN VON STAHLBETONFortbildungskurs fr Bauingenieure
ETH Zrich 30.9./ 1.10.1999
Prof. Dr. Peter Marti Dr. Manuel Alvarez Dr. Walter Kaufmann Dr.
Viktor Sigrist
Institut fr Baustatik und Konstruktion, ETH Zrich Zrich,
September 1999
VorwortWissenschaftliche Untersuchungen des Tragverhaltens von
Stahlbeton haben am Institut fr Baustatik und Konstruktion der
Eidgenssischen Technischen Hochschule Zrich eine lange Tradition.
Seit 1960 hat sich eine eigentliche Zrcher Schule entwickelt, die
sich durch die systematische Anwendung der Plastizittstheorie, die
berprfung mit Grossversuchen und die Aufbereitung der
Forschungsergebnisse fr die praktische Anwendung auszeichnet. Die
bis 1990 vorliegenden Erkenntnisse wurden in den letzten Jahren in
verschiedener Hinsicht ergnzt und erweitert. Im Zentrum stand die
bessere Erfassung des Verformungsvermgens. Vertiefte Untersuchungen
des Verbundverhaltens, die Verknpfung mit plastizittstheoretischen
Modellvorstellungen sowie der Einbezug bruchmechanischer
Betrachtungen fhrten zu ersten Fortschritten, die nun mit diesem
Fortbildungskurs dargestellt werden sollen. Fr die sorgfltige
Ausarbeitung ihrer Beitrge und die Zusammenarbeit bei der
Vorbereitung und Durchfhrung des Fortbildungskurses bin ich den
Herren Manuel Alvarez, Walter Kaufmann und Viktor Sigrist zu
grossem Dank verpflichtet. Die organisatorische Vorbereitung lag in
den Hnden von Frau Regina Nthiger. Sie wirkte auch bei der
Herstellung meiner Manuskripte mit, fr deren Bildteil Herr Matthias
Schmidlin verantwortlich war. Fr ihre umsichtige und przise Arbeit
mchte ich den beiden Genannten herzlich danken. Ein weiterer
herzlicher Dank ergeht an alle meine heutigen Mitarbeiter fr ihre
Mithilfe, insbesondere fr die Vorbereitung und Durchfhrung der
Demonstrationsversuche. Schliesslich mchte ich auch allen meinen
ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meinen Dank
aussprechen. Durch ihre theoretischen und experimentellen Arbeiten
haben sie wesentlich zum heutigen Kenntnisstand beigetragen. Die
diesem Fortbildungskurs zugrundeliegenden Forschungsarbeiten wurden
von der ETH Zrich, vom Schweizerischen Nationalfonds zur Frderung
der wissenschaftlichen Forschung, von der Stiftung fr
wissenschaftliche, systematische Forschungen auf dem Gebiet des
Betonund Eisenbetonbaus des Verbands der Schweizerischen
Cementindustrie (Cemsuisse) sowie vom Bundesamt fr Strassenbau
finanziell untersttzt. Ausser der Frderung der Stahlbetonbauweise
ermglichten diese Beitrge die wissenschaftliche Weiterbildung einer
stattlichen Zahl junger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dafr
mchte ich allen Verantwortlichen aufrichtig danken. Zrich,
September 1999 Peter Marti
Inhaltsverzeichnis1 Einfhrung 1.1 Einleitung 1.2 Tragverhalten
1.3 Traglastverfahren 1.4 Abschtzung von Verformungen 2
Traglastverfahren 2.1 Elastisch-plastische Systeme 2.2
Fliessbedingungen 2.3 Grenzwertstze 2.4 Anwendung auf Stabtragwerke
3 Bruchwiderstand von Scheiben 3.1 Einleitung 3.2 Statische und
kinematische Beziehungen 3.3 Fliessbedingungen 3.4 Spannungsfelder
3.5 Bruchmechanismen 4 Bruchwiderstand von Platten 4.1 Einleitung
4.2 Statische und kinematische Beziehungen 4.3 Fliessbedingungen
4.4 Gleichgewichtslsungen 4.5 Fliessgelenklinienmethode 4.6
Einfluss von Querkrften 4.7 Membranwirkung 5 Verhalten von Stahl
und Beton 5.1 Einleitung 5.2 Bewehrungsstahl 5.3 Beton unter
einachsigem Zug 5.4 Beton unter einachsigem Druck 5.5 Beton unter
mehrachsiger Beanspruchung 5.6 Verbund 6 Zuggurtmodell 6.1
Einleitung 6.2 Modellbildung 6.3 Lasteinwirkung 6.4
Zwangbeanspruchung 6.5 Vorgespannte Zugglieder 6.6 Vergleich mit
Versuchsergebnissen1 1 2 6 11 15 15 24 37 40 45 45 46 50 54 73 81
81 82 88 93 106 113 118 121 121 122 126 133 137 139 149 149 149 153
159 164 171
i
Inhaltsverzeichnis
7 Gerissenes Scheibenmodell 7.1 Einleitung 7.2 Druckfeldmodelle
7.3 Gerissenes Scheibenmodell 7.4 Nherungsverfahren 7.5 Vergleich
mit Versuchsergebnissen 8 Druckgurtmodell 8.1 Einleitung 8.2
Druckgurtmodell 8.3 Praktische Anwendung 9 Verformungsnachweise 9.1
Einleitung 9.2 Balkenbiegung 9.3 Plastische Verformungsbereiche 9.4
Schnittgrssenumlagerung 9.5 Vergleich mit Versuchsergebnissen 9.6
Nherungsverfahren 10 Mindestbewehrung 10.1 Einleitung 10.2
Mindestbewehrung nach Zuggurtmodell 10.3 Vergleich mit
Normbestimmungen 10.4 Praktische Anwendung 10.5
Duktilittsanforderungen 11 Vorspannung 11.1 Einleitung 11.2
Zugglieder 11.3 Biegetrger 11.4 Scheiben 11.5 Vorspannung ohne
Verbund 11.6 Externe Vorspannung 12 Stahlfaserbeton 12.1 Einleitung
12.2 Biegeverhalten 12.3 Vergleich mit Versuchsergebnissen 12.4
Praktische Anwendung 12.5 Schlussbemerkungen Literatur
Bezeichnungen
175 175 183 187 192 195 199 199 199 207 209 209 209 211 219 223
230 239 239 239 245 247 252 257 257 263 265 276 277 280 281 281 281
287 290 292 294 300
ii
1
EinfhrungPeter Marti
1.1 Einleitung1.1.1 Hintergrund Der Nachweis der Tragfhigkeit
von Betonbauten aller Art erfolgt heute nach der Norm SIA 162 [96]
auf der einheitlichen Grundlage der Plastizittstheorie. Die in den
Jahren 1963, 1975 und 1983 unter der Leitung von Prof. Dr. Bruno
Thrlimann an der ETH Zrich durchgefhrten Fortbildungskurse [108,
105, 107] und die ihnen zugrundeliegenden Forschungsarbeiten trugen
wesentlich zu diesem Entwicklungsstand bei. Die Anwendung der
Plastizittstheorie setzt ein ausreichendes Verformungsvermgen aller
Tragwerksteile voraus. Die Fragen nach dem erforderlichen und dem
vorhandenen Verformungsvermgen werden jedoch von der
Plastizittstheorie nicht beantwortet. In der Bemessungspraxis
versucht man mit der Wahl duktiler Baustoffe sowie durch geeignete
konstruktive Massnahmen ein ausreichendes Verformungsvermgen
sicherzustellen, und man fhrt in der Regel fr Grenzzustnde der
Tragfhigkeit keine Verformungsnachweise durch. Dies ist zwar meist
unbedenklich, grundstzlich aber unbefriedigend. Oft ergeben sich
Unsicherheiten bei der Beurteilung der Frage, ob sich ein der
Bemessung zugrundegelegter Gleichgewichtszustand tatschlich
einstellen kann und wie die zugehrigen Verformungen ermittelt
werden sollen. Diese Probleme werden noch akzentuiert durch die in
den letzten Jahren festzustellende Reduktion der
Duktilittseigenschaften des Bewehrungsstahls. Bei der berprfung
bestehender Tragwerke stellen sich hnliche Probleme, oft noch
verschrft durch eine mangelhafte konstruktive Durchbildung. Aus den
dargelegten Grnden wurde 1990 an der ETH Zrich ein langfristig
angelegtes Forschungsprojekt initiiert, mit dem Ziel, eine
widerspruchsfreie, auf klaren physikalischen Grundlagen basierende
und experimentell abgesttzte Theorie des Verformungsvermgens von
Massivbautragwerken zu erarbeiten. Die bisherigen Arbeiten fhrten
namentlich zur Entwicklung zweier theoretischer Modelle, die eine
umfassende Beschreibung des Tragverhaltens von Zuggurten und
Stegscheiben in schlaff bewehrten und vorgespannten Bauteilen
gestatten. Mit der Entwicklung eines analogen Modells fr Druckgurte
wurde begonnen. 1.1.2 Zielsetzung und bersicht Der vorliegende
Fortbildungskurs hat zum Ziel, einerseits die Grundlagen der
Plastizittstheorie und deren Anwendung auf Stahlbeton aus heutiger
Sicht darzustellen und andererseits die wichtigsten, im Rahmen des
in Kapitel 1.1.1 erwhnten Forschungsprojekts gewonnenen
Erkenntnisse zusammenzufassen. Nach der Einfhrung einiger wichtiger
Begriffe und Zusammenhnge in Kapitel 1 werden die Grundlagen der
Plastizittstheorie und deren Anwendung auf Stabtragwerke (Kapitel
2), Scheiben (Kapitel 3) und Platten (Kapitel 4) dargestellt.
Ausgehend von einem berblick ber das Verhalten von Stahl und Beton
(Kapitel 5) werden dann die grundlegenden Modellvorstellungen fr
Zuggurte (Kapitel 6), Stegscheiben (Kapitel 7) und Druckgurte
(Kapitel 8) behandelt, und
1
Tragverhalten
Fragen der Verformungsnachweise und Schnittgrssenumlagerungen
(Kapitel 9) sowie der Mindestbewehrung und Duktilittsanforderungen
(Kapitel 10) werden errtert. Die Kapitel 11 und 12 ber den Einfluss
einer Vorspannung und die Anwendung von Stahlfaserbeton dienen der
Abrundung der Darstellung. 1.1.3 Abgrenzung Die vorliegende
Darstellung beschrnkt sich im wesentlichen auf zeitunabhngige
Effekte sowie Einflsse 1. Ordnung. Ferner werden Einwirkungen,
geometrische Grssen und Baustoffeigenschaften in der Regel als
deterministische Grssen behandelt. Die Bercksichtigung
entsprechender Unschrfen und die Fragen nach dem in einem gegebenen
Fall angemessenen Zuverlssigkeitsniveau sowie nach den zur
Gewhrleistung dieses Niveaus erforderlichen Massnahmen sind nicht
Gegenstand der vorliegenden Darstellung.
1.2 Tragverhalten1.2.1 Modellbildung im Kontext der
Projektierung Im Zentrum der Beschftigung mit dem Tragverhalten von
Stahlbeton stehen Fragen der Modellbildung. Mit Bild 1.1 wird
versucht, einen berblick ber den entsprechenden Kontext zu geben
[95]. Die Projektierung eines Bauwerks, an die sich dessen
Ausfhrung, Nutzung und Erhaltung anschliessen, kann in den Entwurf,
die Berechnung und die Bemessung unterteilt werden. Mit dem Entwurf
soll, von den Nutzungsanforderungen des Bauherrn ausgehend, ein
klares Baukonzept erarbeitet werden. Mit der Berechnung soll das
Tragverhalten im Hinblick auf die zu betrachtenden
Bemessungszustnde erfasst werden, und mit der Bemessung werden die
Abmessungen, die Baustoffeigenschaften und die konstruktive
Durchbildung abschliessend festgelegt. Entwurfsanforderungen an ein
Bauwerk oder Tragwerk betreffen allgemein seine Einpassung in die
natrliche und gebaute Umwelt, seine Gestaltung, seine
Zuverlssigkeit, seine Wirtschaftlichkeit, seine Robustheit und
seine Dauerhaftigkeit, d.h. die Gewhrleistung von Tragfhigkeit und
Gebrauchstauglichkeit im Rahmen der vorgesehenen Nutzung und der
vorhersehbaren Einwirkungen, ohne unvorhergesehenen Aufwand fr
Instandhaltung und Instandsetzung. Die Entwurfsarbeit beinhaltet in
der Regel die Ausarbeitung verschiedener Entwurfsvarianten unter
Bercksichtigung der Entwurfsrandbedingungen, die berprfung ihrer
Machbarkeit und die Beurteilung der verbleibenden
Realisierungsmglichkeiten hinsichtlich der Erfllung der
Entwurfsanforderungen. Bei der Betrachtung entsprechender
Entwurfszustnde sollten die wesentlichen Ein- und Auswirkungen
sowie die massgebenden Gefhrdungen und Mglichkeiten zu ihrer
Beherrschung erfasst werden. Bemessungszustnde umfassen
physikalische Gegebenheiten und Bedingungen innerhalb eines
bestimmten Zeitraumes, fr welchen nachgewiesen wird, dass
massgebende Grenzzustnde nicht berschritten werden. Grenzzustnde
und Nachweise betreffen einerseits die Tragfhigkeit, d.h. die
Mglichkeit eines Versagens eines Tragwerks oder einzelner seiner
Bauteile oder Verbindungen, und andererseits die
Gebrauchstauglichkeit, d.h. die Funktionstchtigkeit eines Bauwerks,
den Benutzerkomfort und das Aussehen. Mit der Berechnung werden
anhand eines Tragwerksmodells Auswirkungen als Folge bestimmter
Einwirkungen ermittelt. Einwirkungen knnen aufgebrachte Krfte,
aufgezwungene
2
Einfhrung
U m w e lt B a u w e r k /T r a g w e r k N u tz u n g s a n fo
rd e ru n g e n P r o je k tie r u n g E n tw u r f E n tw u rfs a
n fo rd e ru n g e n E n tw u rfs z u s t n d e B a u k o n z e p
t
B e r e c h n u n g E in w irk u n g e n
T ra g w e rk s m o d e ll G e o m e tris c h e G r s s e n B e
re c h n u n g s m o d e llL a s te n S p a n n u n g e n R a n d k
r fte
A u s w irk u n g e n
R a n d v e rs c h ie b u n g e n V e rs c h ie b u n g e n V e
rz e rru n g e n
B a u s to ff- u n d B a u g ru n d e ig e n s c h a fte n
B e m e ssu n g
B e m e s s u n g s z u s t n d e G re n z z u s t n d e d e r G
e b ra u c h s ta u g lic h k e it N a c h w e is d e r G e b ra u
c h s ta u g lic h k e it
G re n z z u s t n d e d e r T ra g f h ig k e it N a c h w e is
d e r T ra g f h ig k e it
A u s f h r u n g
N u tz u n g
E r h a ltu n g
Bild 1.1 Zusammenhang wichtiger Begriffe des konstruktiven
Ingenieurbaus.
3
Tragverhalten
oder behinderte Verformungen sowie Umwelteinflsse sein. Das
Tragwerksmodell verbindet Einwirkungen, geometrische Grssen und
Baustoff- und Baugrundeigenschaften. Es ergibt sich aus der
Abgrenzung und Idealisierung des Tragwerks. Die Verknpfung der
physikalischen Grssen, namentlich Kraft- und Verformungsgrssen,
geschieht in einem Berechnungsmodell ber entsprechende Beziehungen;
insbesondere sind dies (1.) Gleichgewichtsbedingungen und statische
Randbedingungen, welche Spannungen mit Lasten und Randkrften in
Beziehung bringen, (2.) kinematische Relationen und
Randbedingungen, welche Verschiebungen mit Verzerrungen und
Randverschiebungen verknpfen, sowie (3.) Stoffgesetze, welche den
Zusammenhang von Spannungen und Verzerrungen konstituieren. Bei der
Modellbildung versucht man, die jeweilige Problemstellung in
mglichst einfache, aber aussagekrftige Aufgaben der Baustatik
berzufhren. Das Bestreben geht dahin, die hauptschlichen Aspekte
des Tragverhaltens zu erfassen. Je nach den bei der Abgrenzung und
Idealisierung des Tragwerks eingefhrten oder gelsten Bindungen
ergeben sich unterschiedliche Modellvorstellungen. Weitere
Unterschiede knnen sich aus den angenommenen Stoffgesetzen und aus
der Art der Behandlung von sekundren Effekten ergeben. Im Rahmen
der Projektierung von Tragwerken stehen die Anwendung der
Elastizittstheorie und der Plastizittstheorie im Vordergrund. Die
Plastizittstheorie gestattet die Beurteilung der Tragfhigkeit
mittels einfacher und leistungsfhiger Verfahren, die dem Denken und
den Bedrfnissen der Bauingenieure nahe liegen. Der wesentliche
Unterschied zwischen elastischen und plastischen Berechnungen liegt
darin, dass bei Bercksichtigung des plastischen Fliessens ausser
dem fr eine bestimmte Problemstellung jeweils einzigen, elastisch
vertrglichen Spannungszustand im allgemeinen unendlich viele
weitere Spannungszustnde mglich sind, die sich aus der elastischen
Lsung durch berlagerung von Eigenspannungszustnden ergeben. Diese
Feststellung erlaubt einerseits, dass man sich vor allem beim
Entwurf von den zu engen Fesseln der elastischen Vertrglichkeit
lsen und in grosser Freiheit unterschiedliche Gleichgewichtszustnde
untersuchen kann. Andererseits liegt in der mangelnden
Eindeutigkeit plastischer Berechnungen neben den durch ihre
Nichtlinearitt verursachten Schwierigkeiten ein Hauptgrund fr ihre
weltweit bis heute nur zgerliche Akzeptanz. 1.2.2 Tragverhalten von
Stahlbeton Die Linie 1 in Bild 1.2 (a) illustriert das aus vielen
Versuchen bekannte, typische Tragverhalten von Tragwerken oder
Bauteilen aus Stahlbeton. Das ausgeprgt nicht lineare Verhalten
wird hauptschlich durch das Reissen des Betons und das Fliessen der
Bewehrung verursacht. blicherweise kann das Tragverhalten durch
ungerissen elastische (Linie 2), gerissen elastische (Linie 3) und
Traglastberechnungen (Linie 4) gut approximiert werden. Die Linie 5
in Bild 1.2 (b) zeigt den Einfluss einer Vorspannung der Bewehrung
bei im Vergleich zur Linie 1 festgehaltenem Tragwiderstand; die
Risslast wird erhht, und dadurch wird das Verhalten im
Gebrauchszustand verbessert. Die Linien 6 und 7 veranschaulichen
den Einfluss hherer bzw. niedrigerer Bewehrungsgehalte auf das
Verformungsvermgen. Schliesslich illustriert die Linie 8 das
entfestigende Verhalten, das resultiert, wenn die Bewehrung nicht
imstande ist, die beim Reissen des Betons freigesetzten Zugkrfte zu
bernehmen, wenn also die sogenannte Mindestbewehrung nicht
vorhanden ist. 1.2.3 Stoffgesetze Um bliche, fr die Beschreibung
des mechanischen Verhaltens von Baustoffen allgemein verwendete
Stoffgesetze einzufhren, ist es zweckmssig, vom einachsigen
Spannungszustand aus-
4
Einfhrung
(a)
Last 2 3 4 1
(b)
Last 6
5
1 7 8
Verformung
Verformung
Bild 1.2 Typische Last-Verformungs-Diagramme: (a) Versuch und
Berechnungen; (b) Einfluss der Bewehrung auf das Tragverhalten.
zugehen, z.B. von der Beschreibung des in Zugversuchen
beobachteten Verhaltens. Bild 1.3 zeigt typische, durch
Zusammenfassung und Idealisierung solcher Beobachtungen gewonnene
Spannungs-Dehnungs-Diagramme. Die mit Bild 1.3 (a) charakterisierte
elastische Verformung ist durch eine eineindeutige Beziehung
zwischen Spannungen und Dehnungen gekennzeichnet. Nach der
Entlastung verbleiben keine Dehnungen, und es treten somit keine
Energieverluste auf. Die in Bild 1.3 (b) dargestellte
Spannungs-Dehnungs-Beziehung ist nicht umkehrbar. Nach einer
Entlastung aus A bzw. B verbleiben die mit den Abszissen der Punkte
D bzw. C bestimmten bleibenden oder plastischen Dehnungen. Im
Gegensatz zur elastischen Verformung wird bei der Entlastung nur
ein Teil der fr den Verformungsprozess eingesetzten Energie
zurckgewonnen. Der Rest wird dissipiert, in Wrme bergefhrt.
Beispielsweise entsprechen die Flcheninhalte der Bereiche OAD bzw.
OABC in Bild 1.3 (b) den spezifischen (auf die Volumeneinheit
bezogenen) Dissipationsarbeiten bei den durch die Umhllenden dieser
Bereiche beschriebenen Belastungs- und Entlastungsprozessen. Bild
1.3 (c) charakterisiert ein linear elastisch-linear verfestigend
plastisches Verhalten. Das linear elastische Verhalten entlang OA
wird durch den Elastizittsmodul E beschrieben. Nach berschreiben
der initialen Fliessgrenze fy beginnt die mit dem
Verfestigungsmodul E h be-
(a)
(b)
B A
(c)
F B fy O D E A E 1 C I G H J 1 Eh
O
D
C
Bild 1.3 Spannungs-Dehnungs-Diagramme: (a) Elastische
Verformung; (b) plastische Verformung; (c) linear elastisch-linear
verfestigend plastischesVerhalten.
5
Traglastverfahren
schriebene, lineare Verfestigung. Nach einer rein elastischen
Entlastung BC parallel zu OA verbleibt die durch die Abszisse von
Punkt C gegebene plastische Dehnung. Bei Umkehr des
Belastungssinnes in C beginnt in D die Verfestigung auf Druck.
Dabei wird die Gerade DE als parallel zu AB angenommen. Aus Bild
1.3 (c) ergeben sich zwei wichtige Vereinfachungen. Verschwindet
die Verfestigung, E h = 0 , so spricht man von einem ideal
plastischen Verhalten. Vernachlssigt man elastische Verformungen, E
, so vollzieht man den bergang zu einem starr-plastischen
Verhalten. Die Gltigkeit des Diagramms in Bild 1.3 (c) ist auf den
Bereich links von der Parallelen zu OA durch den Punkt I zu
beschrnken. Wre dies nicht der Fall, msste beispielsweise bei der
Entlastung aus F entlang GI ein plastisches Rckwrtsfliessen
auftreten. Die dem Inhalt des Dreiecks GHI entsprechende, bei der
Belastung OABF dissipierte Energie msste in mechanische Energie
zurckverwandelt werden, was aus thermodynamischen Grnden nicht
mglich ist. Bild 1.3 veranschaulicht typische, im Rahmen der
Kontinuumsmechanik verwendete Stoffgesetze. Die Anwendung der
Kontinuumsmechanik entspricht einer rein phnomenologischen
Betrachtungsweise. Insbesondere wird nicht untersucht, worauf die
plastischen Verformungen zurckzufhren sind. Beim Reissen des Betons
wird die von der Kontinuumsmechanik vorausgesetzte stoffliche
Integritt verletzt. Fr eine angemessene Beschreibung entsprechender
Zusammenhnge sind kontinuumsmechanische deshalb mit
bruchmechanischen berlegungen zu ergnzen. Grundlagen dazu sind in
Kapitel 5 zusammengestellt.
1.3 Traglastverfahren1.3.1 Statische und kinematische Methode
Die in Kapitel 2 dargestellten Traglastverfahren umfassen zwei
Methoden, die die Einschrankung der Traglasten von Systemen aus
starr-ideal plastischem Material erlauben. Die statische Methode,
mit der im ganzen System aufnehmbare Gleichgewichtszustnde
untersucht werden, liefert untere Grenzwerte der Traglast.
Umgekehrt liefert die kinematische Methode, bei der das Prinzip der
virtuellen Arbeiten auf mgliche Bruchmechanismen angewendet wird,
obere Grenzwerte der Traglast. Bei der praktischen Anwendung der
statischen Methode ist es oft zweckmssig, von dem Spannungszustand
auszugehen, der sich unter der Annahme eines linear elastischen
Verhaltens des betrachteten Systems einstellt. Weitere mgliche
Gleichgewichtszustnde knnen durch berlagerung von
Eigenspannungszustnden gewonnen werden. Da fr Nachweise der
Gebrauchstauglichkeit meist ohnehin elastische Berechnungen
durchgefhrt werden, ist ein solches Vorgehen besonders naheliegend.
Man wird sich dabei auch bewusst, wo und in welchem Mass man mit
Schnittgrssenumlagerungen rechnet. Bei der Anwendung der
kinematischen Methode sollten die betrachteten Bruchmechanismen zur
sukzessiven Verbesserung (Verkleinerung) der oberen Grenzwerte der
Traglast derart verndert werden, dass die usseren Krfte im
Verhltnis zur Dissipationsarbeit mehr Arbeit leisten.
6
Einfhrung
1.3.2 Anwendung auf Stahlbeton Allgemeines Mit einer meist
verhltnismssig fein verteilten Bewehrung des Betons mit Stahlstben,
welche mit diesem im Verbund stehen, wird im Stahlbetonbau ein
gnstiges Zusammenwirken zweier Baustoffe angestrebt, die sich
einzeln recht unterschiedlich verhalten. Da Beton schon unter
geringen Zugbeanspruchungen reisst, wird versucht, durch eine
geschickte Bemessung die Ausbildung von Tragsystemen zu ermglichen,
in denen der Beton im wesentlichen nur Druck- und die Bewehrung
vorwiegend Zugkrfte zu bernehmen hat. Die Erfahrung zeigt, dass vor
dem Bruch eine solche Krfteumlagerung tatschlich eintritt, wenn
gewisse Regeln beachtet werden, die hauptschlich die Verteilung und
die Verankerung der Bewehrung betreffen. Diese Feststellung trifft
vor allem auf relativ schwach bewehrte oder, wie man sagt,
unterbewehrte Bauteile zu. Ihr Tragwiderstand wird weitgehend durch
das Fliessen der Bewehrung bestimmt. Bis in die siebziger Jahre
blieb die Anwendung von Traglastverfahren vorwiegend auf solche
Flle beschrnkt. In den siebziger und achtziger Jahren wurden jedoch
die Anwendungsgrenzen der Traglastverfahren stark ausgedehnt, so
dass 1989, wie eingangs in Kapitel 1.1.1 vermerkt, der Nachweis der
Tragfhigkeit von Betonbauten nach der Norm SIA 162 [96] generell
auf diese Basis gestellt werden konnte. Scheiben Zur Beschreibung
der Tragwirkung von Eisenbetonbalken kam schon vor hundert Jahren
die Vorstellung von Fachwerkmodellen auf. Mit der Begrndung der
beiden Grenzwertstze der Plastizittstheorie nach dem Zweiten
Weltkrieg und deren systematischen Anwendung auf Stahlbeton
erhielten solche Vorstellungen in den sechziger und siebziger
Jahren eine einheitliche theoretische Grundlage. Fachwerkmodelle
wurden als spezielle, besonders anpassungsfhige Mittel bei der
Anwendung der statischen Methode auf Stahlbeton erkannt. Ferner
setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Verfeinerung von
Fachwerkmodellen, in der Regel in der Form von diskontinuierlichen
Spannungsfeldern, fr die Entwicklung und Anwendung von
Fachwerkmodellen selbst usserst fruchtbar ist. Beispielhaft zeigen
die Bilder 1.4 (a) und (b) ein Fachwerkmodell und ein diesem
zugeordnetes, diskontinuierliches Spannungsfeld fr einen am unteren
Rand lngs- und ber seine Hhe vertikal bgelbewehrten Trger mit
Rechteckquerschnitt. Gemss Bild 1.4 (b) wird die Auflagerreaktion
ber den zweiachsig gedrckten Knotenbereich ABC und das einachsig
beanspruchte, fcherfrmige Druckspannungsfeld ACKL zum oberen
Trgerrand geleitet. Die Vertikalkomponenten der geneigten
Betondruckkrfte werden dort von den Bgelkrften bernommen, wh-
(a)
C L
(b)L I K J G A B D C H
C L
E
F
Bild 1.4 Anwendung der statischen Methode auf Scheiben: (a)
Fachwerkmodell; (b) diskontinuierliches Spannungsfeld.
7
Traglastverfahren
rend die Horizontalkomponenten zum Aufbau der Druckkraft in der
Biegedruckzone LKJI beitragen. Analoge Betrachtungen fhren zu den
Fchern DEJK und EFGJ sowie zum Knotenbereich GHIJ und zeigen
insbesondere, wie sich die Zugkraft in der Lngsbewehrung entlang
der Strecke DEF verndert. Parallel zur Verfeinerung der statischen
Betrachtungen wurde auch die Anwendung der kinematischen Methode
auf Stahlbetonscheiben vorangetrieben. Bild 1.5 (a) illustriert das
typische Versagen eines unterbewehrten, durch Biegung und Querkraft
beanspruchten Trgers; theoretisch ffnet sich in einem solchen Fall
ein scharnierartiger, sogenannter Kollapsriss, der von fliessenden
Lngs- und Bgelbewehrungsstben gekreuzt wird. Bei ausreichend
krftiger Lngsbewehrung wird diese nicht mehr ins Fliessen kommen,
und es kann sich ein Stegdruckbruch gemss Bild 1.5 (b) einstellen;
das Versagen wird dabei durch Fliessen der Bgel und Stauchen des
Stegbetons in einem parallelogrammfrmigen Bereich charakterisiert.
Ein hnliches Versagen entlang einer diskreten Gleitlinie ist
beispielsweise bei einer Konsole gemss Bild 1.5 (c) mglich.
Allgemein knnen sich fr Flle reiner Strebenwirkung, wie in Bild 1.5
(d) gezeigt, hyperbolische Gleitlinien ergeben. Mehr zu diesem
Thema ist Kapitel 3 zu entnehmen.
(a)
(c) (d)
(b)
Bild 1.5 Anwendung der kinematischen Methode auf Scheiben: (a)
Biegeschubbruch; (b) Stegdruckbruch; (c) Versagen einer Konsole;
(d) hyperbolische Gleitlinie entsprechend einer reinen
Strebenwirkung.
Platten Auch fr Stahlbetonplatten gab es Vorlufer der Anwendung
von Traglastverfahren. Allerdings wurde das grundlegende Problem
der Bemessung von Plattenelementen mit von der Hauptrichtung der
Momente abweichenden Bewehrungsrichtungen erst in den sechziger
Jahren auf der Grundlage plastizittstheoretischer berlegungen
befriedigend gelst. Die schon frher bliche Verwendung von nach der
Theorie dnner elastischer Platten ermittelten Momenten entsprach
deshalb bis zu diesem Zeitpunkt zwar im Grundsatz, aber noch nicht
in den Einzelheiten, einem Vorgehen nach der statischen Methode.
Explizit auf der Grundlage des unteren Grenzwertsatzes wurde dann
die mit Bild 1.6 (a) illustrierte Streifenmethode eingefhrt. Das
Beispiel behandelt eine entlang CDE eingespannte und entlang EFABC
einfach gelagerte Platte. Die vorausgesetzte Lastabtragung in den
verstrkten Bereichen DIJK und DLGH sowie in den gewhnlichen
Plattenbereichen AIDH, BCKJ und
8
Einfhrung
EFGL ist mit Pfeilen angedeutet; die Gleichgewichtsbedingungen
knnen dadurch ohne Inanspruchnahme von Drillmomenten bezglich der
zu den Plattenrndern parallelen, orthogonalen Bewehrungsrichtungen
erfllt werden. Die mit Bild 1.6 (b) illustrierte
Fliessgelenklinienmethode geht namentlich auf Entwicklungen vor und
whrend des Zweiten Weltkrieges zurck. hnlich wie die
Fachwerkmodelle erhielt diese Methode mit der Begrndung der
Grenzwertstze eine saubere theoretische Grundlage. Im Beispiel von
Bild 1.6 (b) verrichten die plastischen Momente an den Rotationen
entlang der Fliessgelenklinien AH, HI, IB, IC, HG, GF und GE
(berall positive Momente und Rotationen) sowie CD, DE und DH
(negative Momente und Rotationen) eine bestimmte
Dissipationsarbeit; nach dem Prinzip der virtuellen Arbeiten ist
diese wegen der vorausgesetzten Starrheit der sechs durch die
Auflager- und Fliessgelenklinien begrenzten Plattenteile gleich der
Arbeit der auf die Platte aufgebrachten usseren Krfte am
betrachteten Bruchmechanismus. Mehr zu diesem Thema ist Kapitel 4
zu entnehmen.
(a)
A
H
G
F
(b)
A
F
H
G
I J
D K
L
E
D
E
I
B
C
B
C
Bild 1.6 Traglastverfahren fr Platten: (a) Streifenmethode; (b)
Fliessgelenklinienmethode.
1.3.3 Anwendungen im Grundbau Schon seit der zweiten Hlfte des
18. Jahrhunderts wurden fr grundbauliche Problemstellungen Methoden
entwickelt und verwendet, deren vollstndige theoretische Begrndung
erst mit der Formulierung der Grenzwertstze der Plastizittstheorie
ermglicht wurde. Meist handelt es sich dabei um Anwendungen der
kinematischen Methode und entsprechende Nherungsverfahren. Bild 1.7
vermittelt diesbezglich einen berblick. Bild 1.7 (a) zeigt die nach
Coulomb benannte Fliessbedingung in der Spannungsebene. Bild 1.7
(b) gibt Grssenordnungen von Kohsion c und Winkel der inneren
Reibung fr Boden, Fels, Beton und Stahl an. Es wird ersichtlich,
dass die (allenfalls durch Beschrnkung der Zugfestigkeit
modifizierte) Coulombsche Bedingung eine einheitliche Behandlung
vielfltiger Materialien gestattet. Die Bilder 1.7 (c) und (d)
veranschaulichen die mit Problemen des aktiven und passiven
Erddrucks verbundenen Gleitliniennetze und Bruchmechanismen. Die
Gleitlinien schneiden sich unter Winkeln von 2 und erfahren beim
Bruch keine Lngennderung. Entlang einer beim
9
Traglastverfahren
(a)
(+) c
(b)1 GPa Stahl
1 MPa
Fels
Beton
Boden 1 kPa 0 15 30 45
(c)
(d)
(e)
-- + -- 4 2 -- -- 4 2
h
(f)
(g)( + 2)c
=0
Bild 1.7 Anwendung der Traglastverfahren auf Probleme des
Grundbaus: (a) Fliessbedingung von Coulomb; (b) Grssenordnungen von
Kohsion c und innerem Reibungswinkel ; (c) aktiver Erddruck; (d)
passiver Erddruck; (e) freie Standhhe einer vertikalen Bschung; (f)
Bschungsbruch; (g) Tragfhigkeit von Streifenfundamenten.
Bruch als kinematische Diskontinuittslinie massgebenden
Gleitlinie ergibt sich eine unter dem Winkel zur Gleitlinie
geneigte Relativverschiebung der durch die Gleitlinie getrennten
Krper und damit fr > 0 eine Dilatation. Bei entsprechenden
homogenen Verformungszustnden werden die von den Gleitlinien
gebildeten stumpfen (spitzen) Winkel verkleinert (vergrssert), was
fr > 0 ebenfalls eine Dilatation verursacht. Anwendung eines
Bruchmechanismus analog Bild 1.7 (c) auf das in Bild 1.7 (e)
dargestellte Problem der freien Standhhe einer vertikalen Bschung
liefert den oberen Grenzwert h = 4c cos [ ( 1 sin ) ] , wobei das
als konstant vorausgesetzte spezifische Gewicht des Bodens
bezeichnet. Potentielle Bschungsbrche erfordern im allgemeinen
gemss Bild 1.7 (f) die Untersuchung von Mechanismen mit Gleitlinien
in der Form logarithmischer Spiralen; zur Vereinfachung und wegen
der Inhomogenitt des Baugrundes werden allerdings meist
entsprechende Nherungsverfahren angewendet.
10
Einfhrung
Schliesslich illustriert Bild 1.7 (g) das Problem der
Tragfhigkeit von Streifenfundamenten auf einem rein kohsiven
Halbraum ( = 0 ) . Mit dem im Bild angegebenen Bruchmechanismus und
ergnzenden statischen Betrachtungen lsst sich zeigen, dass die
Traglast ( + 2 ) c betrgt. Wie Bild 1.7 vor Augen fhrt, werden im
Grundbau im Gegensatz zum Stahlbetonbau meist die kinematische
Methode der Plastizittstheorie oder entsprechende Nherungsverfahren
angewendet. Mit der zunehmenden Komplexitt des Bauens im bereits
berbauten Gebiet werden jedoch statische Verfahren immer wichtiger.
Das die statische Methode charakterisierende Verfolgen des
Kraftflusses, also das Erfassen des Krftespiels im Kleinen, tritt
mehr und mehr neben die mit der kinematischen Methode mgliche
Untersuchung des Gleichgewichts im Grossen. Die Notwendigkeit einer
vertieften Betrachtung lokaler Kraftgrssen ergibt sich namentlich
aus der zunehmenden Anwendung von Bewehrungen, Verankerungen und
Injektionen aller Art. hnlich wie im Stahlbetonbau entstehen
dadurch eigentliche Verbundkonstruktionen, und die Baugrundund
Baustoffeigenschaften werden gezielt ausgenutzt. Die Anwendung der
Plastizittstheorie auf Stahlbeton profitierte sehr von
entsprechenden frheren Entwicklungen im Grundbau. Vielleicht ergibt
sich nun die Gelegenheit, dass einige Entwicklungen des Betonbaus
ebenso fruchtbringend auf den Grundbau bertragen werden knnen.
1.4 Abschtzung von Verformungen1.4.1 Allgemeines Fr Nachweise
der Gebrauchstauglichkeit und fr die Ermittlung der
Anwendungsgrenzen von Traglastverfahren sind Verformungen von
Bedeutung. In der Praxis geht es meist darum, bestimmte
Verformungsgrssen einigermassen zutreffend abzuschtzen. Eine
umfassende Verformungsberechnung ist weder notwendig, noch knnten
von ihr wegen des stets vorhandenen, praktisch aber hchstens
annhernd erfassbaren Einflusses von Eigenspannungen genaue
Ergebnisse erwartet werden. Zudem sollte man sich in erster Linie
auf die Abschtzung von integralen Verformungsgrssen, wie z.B.
Mittendurchbiegungen von Trgern oder Platten konzentrieren. Lokale
Verformungsgrssen, z.B. Rissbreiten, unterliegen naturgemss
erheblichen Streuungen und sind rechnerisch nicht einfach zu
erfassen. Um sie auf unbedenkliche Werte zu beschrnken, ist ausser
der Begrenzung der integralen Verformungsgrssen fr eine gute
Verteilung der lokalen Verformungen zu sorgen. Dies kann mit einer
geeigneten konstruktiven Durchbildung erreicht werden, insbesondere
mit einer guten Bewehrungsverteilung und durch Vermeiden abrupter
Geometrienderungen. Zur Abschtzung von Verformungen ist es
zweckmssig, die unter der Annahme eines linear elastischen
Verhaltens im ungerissenen und gerissenen Zustand resultierenden
Steifigkeiten zu ermitteln und die entsprechenden Geraden wie in
Bild 1.2 (a) in einem Last-Verformungs-Diagramm einzutragen (Linien
2 und 3). Zusammen mit dem Ergebnis einer Traglastberechnung (Linie
4) sowie den rechnerischen Werten fr Risslast und Fliessbeginn
erfasst man damit die Grssenordnung der Verformungen und verfgt ber
ein Gerippe fr alle weiterfhrenden berlegungen. 1.4.2 Elementare
Modelle Die bei der Anwendung der statischen Methode bliche
Aufspaltung von Trgern in Zuggurte, Stegscheiben und Druckgurte
(Bild 1.8) ist auch fr die Abschtzung von Verformungen geeig-
11
Abschtzung von Verformungen
Druckgurt
Stegscheibe M V Zuggurt N
Bild 1.8 Aufspaltung eines Trgers in Zuggurt, Stegscheibe und
Druckgurt.
net. Auf der Grundlage von Kapitel 5 werden entsprechende
Modelle in Kapitel 6 bis 8 diskutiert. Das Zuggurtmodell (Kapitel
6) geht von der Betrachtung des Verbundes zwischen Beton und
Bewehrung aus. Es gestattet die Abschtzung von Rissabstnden und
Rissbreiten, und es erlaubt die Ermittlung der Mitwirkung des
Betons zwischen den Rissen auf Zug. Darber hinaus ermglicht es die
Beurteilung des Einflusses der Verfestigungseigenschaften des
Bewehrungsstahls auf die plastischen Verformungen. Das Gerissene
Scheibenmodell (Kapitel 7) bertrgt die Grundideen des
Zuggurtmodells auf ebene Spannungszustnde. Die Verbindung zu
entsprechenden Traglastverfahren (Kapitel 3) wird gewahrt, weil die
Gleichgewichtsbedingungen fr die Spannungen an den Rissen
aufgestellt werden und nicht fr mittlere Spannungen zwischen den
Rissen. Das Druckgurtmodell (Kapitel 8) bercksichtigt einerseits
die Festigkeits- und Duktilittssteigerung durch eine
Umschnrungsbewehrung. Andererseits bercksichtigt es die
bruchmechanisch begrndete Entfestigung des gedrckten Betons und die
damit einhergehende Verformungslokalisierung. Ebenfalls betrachtet
werden die Beitrge der Betonberdeckung und der Lngsbewehrung. 1.4.3
Plastische Verformungen Ein ausreichendes plastisches
Verformungsvermgen eines Tragwerks und all seiner Bauteile und
Verbindungen ist nicht nur zur Ermglichung von (bewusst oder
stillschweigend ausgenutzten) Schnittgrssenumlagerungen notwendig.
Wesentlich ist in diesem Zusammenhang (neben der Sicherstellung der
Ankndigung eines mglichen Versagens) vor allem auch die
Gewhrleistung einer angemessenen Robustheit, d.h. der Fhigkeit
eines Tragwerks, seiner Bauteile und Verbindungen, Schden oder ein
Versagen auf Ausmasse zu begrenzen, die in einem vertretbaren
Verhltnis zur Ursache stehen. Wie in Kapitel 9 ausgefhrt wird, sind
sowohl der plastische Verformungsbedarf als auch das plastische
Verformungsvermgen im allgemeinen systemabhngig und im einzelnen
durch viele Faktoren beeinflusst. Qualitativ lassen sich die
wichtigsten Zusammenhnge etwa gemss Bild 1.9 darstellen. Die
ausgezogenen (gestrichelten) Linien entsprechen
Verformungsbeschrnkungen des Druckgurtes (Zuggurtes). Hohe
Bewehrungsgehalte, geringe Duktilitt der Bewehrung und mangelhafte
konstruktive Durchbildung wirken sich negativ auf die erreichbaren
plasti-
12
Einfhrung
Bewehrungsgehalt
Konstruktive Durchbildung
Duktilitt Plastische Verformung
Bild 1.9 Einfluss des Bewehrungsgehalts, der Duktilitt der
Bewehrung und der konstruktiven Durchbildung auf die plastische
Verformung.
schen Verformungen aus. Umgekehrt kann die Verwendung
ausreichend duktiler Bewehrungssthle vorausgesetzt das plastische
Verformungsvermgen mit einer geeigneten konstruktiven Durchbildung
wesentlich verbessert werden. Duktilittsanforderungen an die
Bewehrungssthle werden in Kapitel 10 im Zusammenhang mit Fragen der
Mindestbewehrung errtert. Bei den konstruktiven Massnahmen stehen
die Optimierung der Querschnittsgeometrie, die Umschnrung von
Druckzonen sowie die korrekte Abstufung und Verankerung und eine
ausgewogene Verteilung der Bewehrung im Vordergrund.
13
2
TraglastverfahrenPeter Marti
2.1 Elastisch-plastische SystemeZur Einfhrung der
Traglastverfahren ist es zweckmssig, von der Betrachtung
elastisch-plastischer Systeme auszugehen. 2.1.1
Elastisch-plastisches Fachwerk Linear elastisch-ideal plastisches
Verhalten Das in Bild 2.1 (a) dargestellte, einfach statisch
unbestimmte Fachwerk besteht aus drei prismatischen Stben, die alle
die Querschnittsflche A aufweisen. Das Stabmaterial verhlt sich
unter einachsiger Beanspruchung gemss dem
Spannungs-Dehnungs-Diagramm von Bild 2.1 (b), wobei E den
Elastizittsmodul und I \ die Fliessgrenze bezeichnet. Die Dehnungen
setzen sich im allgemeinen aus einem elastischen und einem
plastischen Anteil zusammen, d.h.
= H + SDer elastische Anteil
(2.1)
H = -(
( I\ )
(2.2)
bildet sich bei einer Entlastung zurck, whrend der plastische
Anteil S verbleibt. Fr = I \ knnen sich plastische
Dehnungsinkremente ergeben, deren Vorzeichen, sofern sie nicht
ver-
(a)A
l B 1 D F (w) 2
l C 3 l
(c)-----
) )X
1 J 2 1 O 1 2 G I H F 1 A
K
B
C
(b)
fy E 1
D 2 2 2 1 E 2 2 2 2
Z-----
Z\
fy
Bild 2.1 Elastisch-plastisches Fachwerk: (a) System und
Belastung; (b) Spannungs-Dehnungs-Diagramm; (c)
Last-Verschiebungs-Diagramm.
15
Elastisch-plastische Systeme
schwinden, mit jenen der zugehrigen Spannungen bereinstimmen,
also 0 fr = I \ und 0 fr = I \ ; der hochgestellte Punkt in
bedeutet nicht Ableitung nach der physikalischen Zeit, sondern nach
einem rein skalaren Parameter, und der Index p kann entfallen, da
sich nur auf plastische Dehnungsinkremente bezieht. Insgesamt
spricht man wegen der Linearitt der Beziehung (2.2) und der
Konstanz der Fliessgrenze von einem linear elastisch-ideal
plastischen Verhalten, vgl. Bild 1.3 (c).Monotone Laststeigerung Im
folgenden wird das Tragverhalten des Systems unter einer monoton
zunehmenden, vertikalen Einzelkraft ) mit Betrag F untersucht, die
am Fachwerkknoten D angreift. Die zugehrige vertikale Verschiebung
wird mit Z bezeichnet. Im initialen Zustand, also fr ) = 0 , sei
das System spannungsfrei, und allfllige Instabilitten gedrckter
Stbe sollen ausgeschlossen werden. Zunchst verhlt sich das System
rein elastisch. Gleichgewicht des Knotens D verlangt 11 + 13 = 0
,
12 + ( 11 + 13 ) 2 ) = 0
(2.3)
und Vertrglichkeit der Verschiebung w mit den Stabverlngerungen
erfordert
12 O 2 11 O Z = ------- = ---------$( $(Mithin folgen die
Stabkrfte
(2.4)
12 ) 1 1 = 1 3 = ----- = --------------2 2+ 2
(2.5)
Die elastische Phase gilt bis zum Fliessbeginn von Stab 2, d.h.
1 2 = $I \ . Einsetzen in (2.5) und (2.4) bringt die Last ) \ und
die Verschiebung Z \ bei Fliessbeginn:
) \ = $I \ ( 1 + 2 2 )
,
Z \ = OI \ (
(2.6)
Fr ) ) \ bleibt 1 2 = $I \ = konstant. Das System ist statisch
bestimmt geworden. Die Stabkrfte 1 1 und 1 3 ergeben sich aus
(2.3),
) $I \ 1 1 = 1 3 = ---------------2und w folgt aus der weiterhin
gltigen zweiten Gleichung (2.4), d.h.
(2.7)
( ) $I \ )O 2 Z = -----------------------------$(
(2.8)
Die damit beschriebene elastisch-plastische Phase (oder Phase
des beschrnkten Fliessens) gilt bis zum Fliessbeginn der Stbe 1 und
3, d.h. 1 1 = 1 3 = $I \ . Fr diesen Zustand erhlt man aus (2.7)
und (2.8) die sogenannte Traglast ) X und die zugehrige
Verschiebung Z X :
) X = $I \ ( 1 + 2 )
,
Z X = 2 OI \ (
(2.9)
Mit dem Erreichen der Traglast wird das System zu einem
Mechanismus. Wegen der mglichen plastischen Dehnungsinkremente kann
sich der Knoten D innerhalb des durch die Verlngerungen der Stbe 1
und 3 gebildeten, rechtwinkligen Bereichs unter der konstant
bleibenden Last ) X nach unten verschieben. Die damit
charakterisierte plastische Phase wird auch Phase des unbeschrnkten
Fliessens genannt. Im Last-Verschiebungs-Diagramm von Bild 2.1 (c)
liefern die bisherigen berlegungen den Streckenzug OABC.
16
Traglastverfahren
Allgemeine Belastungsprozesse Bei einer vollstndigen Entlastung
aus dem plastischen Zustand, z.B. aus Punkt C in Bild 2.1 (c),
verhlt sich das System rein elastisch, und man erreicht den Punkt
D, wobei der Entlastungspfad CD zum initialen Belastungspfad OA
parallel ist. Superposition der fr den Punkt C auftretenden
Stabkrfte 1 1 = 1 2 = 1 3 = $I \ mit den aus (2.3) und (2.4) fr die
Entlastung ) = ) X resultierenden Stabkrften liefert die
verbleibenden (oder residualen) Stabkrfte
1 1 = 1 3 = $I \ ( 1 2 2 )
,
1 2 = $I \ ( 2 1 )
(2.10)
Das System ist fr ) = 0 also nicht mehr spannungsfrei, sondern
einem sogenannten Eigenspannungszustand unterworfen. Wrde die
Belastung vom Punkt D in Bild 2.1 (c) ausgehend im Gegensinne
fortgesetzt, so wrde beim Punkt E der Stab 2 die Fliessgrenze auf
Druck erreichen. Anschliessend knnte die Belastung weiter
fortgesetzt werden, bis beim Punkt F auch die Stbe 1 und 3 auf
Druck fliessen wrden. Der zu AB parallele elastisch-plastische
Belastungspfad EF wrde fr ) = )X in den plastischen Belastungspfad
FHI bergehen. Eine vollstndige Entlastung aus diesem plastischen
Zustand wrde schliesslich zu einem Eigenspannungszustand fhren, der
jenem von (2.10) gerade entgegengesetzt ist, d.h. die Schrgstbe 1
und 3 erhielten Druckkrfte $I \ ( 1 2 2 ) , die von der Zugkraft $I
\ ( 2 1 ) im Vertikalstab 2 gerade kompensiert wrden. Fortsetzung
der Belastung ergbe erneutes Fliessen von Stab 2 auf Zug bei Punkt
J in Bild 2.1 (c), und entlang dem zu AB parallelen
elastisch-plastischen Belastungspfad JK knnte schliesslich erneut
die Traglast ) X entsprechend der plastischen Phase KBC erreicht
werden. Bild 2.2 fasst die Abhngigkeit der Stabkrfte von der
Belastung zusammen. Die Strecken OA und OB entsprechen dem
elastischen Belastungspfad OA in Bild 2.1 (c). Dem
elastisch-plastischen Belastungspfad AB jenes Bildes entsprechen
die Strecken AC und BC in Bild 2.2, und der Punkt C in Bild 2.2
entspricht der plastischen Phase (K)BC von Bild 2.1 (c). Der
Entlastung CD in Bild 2.1 (c) entsprechen die Strecken CD und CE in
Bild 2.2, und die Stecken DFH und EGH in Bild 2.2 entsprechen dem
Belastungspfad DEF in Bild 2.1 (c). Vollstndige Entlastung aus
Punkt H in Bild 2.2 fhrt zu dem durch die Punkte I und J
charakterisierten Eigenspannungszustand. Dieser ist dem durch die
Punkte D und E charakterisierten Eigenspannungszustand, der bei
vollstndiger Entlastung aus C erreicht wird, gerade
entgegengesetzt.
----1 2 -----2 L D 1 F M H N J O G
) )XB
C A K E I 1
1-------
$I \
2 -----2 1
N1, N3 N2
Bild 2.2 Stabkrfte in Funktion der Belastung.
17
Elastisch-plastische Systeme
Eigenspannungszustnde Wie man sieht, knnen anhand von Bild 2.1
(c) und Bild 2.2 beliebige Belastungsprozesse diskutiert werden.
Eigenspannungszustnde wirken sich offensichtlich auf das
Last-VerschiebungsDiagramm aus, haben aber keinen Einfluss auf die
Traglast. Eigenspannungszustnde knnen verschiedene Ursachen haben,
z.B. Zwngungen infolge Temperatur, Schwinden oder Kriechen,
Passfehler bei der Montage oder differentielle
Auflagerverschiebungen. Je nachdem ergibt sich eine erwnschte oder
unerwnschte, d.h. fr das Tragverhalten gnstige oder ungnstige
Vorspannung. Beispielsweise ergbe sich bei Vorliegen eines den
Punkten D und E in Bild 2.2 entsprechenden Eigenspannungszustandes
bei monotoner Laststeigerung ein rein elastisches Verhalten bis zum
Erreichen von ) X , d.h. es ergbe sich keine elastisch-plastische
Phase. Im vorliegenden Fall gilt fr die Eigenspannungen
allgemein
11 = 13 = ;0 2
,
12 = ; 0
(2.11)
wobei ; 0 die fr ) = 0 im Stab 2 wirkende Normalkraft
bezeichnet. Man beachte, dass z.B. infolge von Passfehlern im
Gegensatz zum bisher diskutierten Belastungsprozess durchaus Werte
von ; 0 erreicht werden knnten, die Punkten ausserhalb des Bereichs
DI in Bild 2.2 entsprchen. Allerdings gilt die Begrenzung ; 0 $I \
. Superposition von Last- und Eigenspannungszustnden Anhand von
Bild 2.2 erkennt man, dass die Stabkrfte allgemein aus Last- und
Eigenspannungsanteilen zusammengesetzt sind:
1 L = 1 LH + 1 LU $I \ 1 L $I \
( L = 1, 2, 3 ) ( L = 1, 2, 3 )
(2.12) (2.13)
wobei sich die Summanden 1 LH und 1 LU aus (2.5) bzw. (2.11)
ergeben. Die Fliessbedingungen beschrnken die Lage der Bildpunkte
in der in Bild 2.3 dargestellten Ebene der Parameter F und ; 0 auf
streifenfrmige Bereiche, deren Durchschnitt ein konvexes
Fliesspolygon bildet. Punkte auf den Seiten AB und CD entsprechen 1
1 = 1 3 = $I \ bzw. $I \ , und solche auf den Seiten AD und BC
entsprechen 1 2 = $I \ bzw. $I \ . Die Grsse der Stabkrfte kann
somit fr jeden) )X
----N1, N3 A 1
N2
2 E -----2 L K J B 1 2 F 1 G 2 -----2 1 I 1 21
O
D
1 2 H C
; $I \0 -------
Bild 2.3 Fliesspolygon in der Ebene der Last- und
Eigenspannungsparameter F und ; 0 .
18
Traglastverfahren
Bildpunkt anhand des in Bild 2.3 eingetragenen, schiefwinkligen
Koordinatensystems herausgelesen werden. Der Belastungspfad OAB von
Bild 2.1 (c) entspricht dem Pfad OEA in Bild 2.3, und die
Fortsetzung CDEF in Bild 2.1 (c) entspricht dem Pfad AFGHC in Bild
2.3. Die Wiederbelastung IJK in Bild 2.1 (c) entspricht der Strecke
CIJEA in Bild 2.3. Wie man sieht, hngen die Stabkrfte (d.h. der
Spannungszustand des Systems) ausser fr die Punkte A und C in Bild
2.3, fr welche die Traglasten erreicht werden, im allgemeinen von
der ganzen Belastungsgeschichte ab. Fr eine bestimmte
Belastungsintensitt sind im allgemeinen unendlich viele
Spannungszustnde mglich, die sich lediglich durch
Eigenspannungsanteile unterscheiden; solche Spannungszustnde
entsprechen Punkten auf sogenannten Gleichgewichtsgeraden, z.B. der
zur ; 0 -Achse parallelen Strecke LKJ in Bild 2.3. Die Betrachtung
von zur F-Achse parallelen Strecken in Bild 2.3 gestattet ebenfalls
eine interessante Feststellung. Betrachtet man gegebene Grenzwerte
der Belastung, so erkennt man, ob die dazwischen liegenden Zustnde
rein elastisch, nach einer anfnglichen Plastifizierung elastisch
oder nur unter wiederholter Plastifizierung realisiert werden
knnen. Beispielsweise ergibt sich fr die den Punkten A und G
entsprechenden Lastgrenzwerte nach einer anfnglichen
Plastifizierung (entsprechend der Strecke EA) ein rein elastisches
Verhalten. Dagegen wrde sich fr eine zwischen den durch die Punkte
A und H charakterisierten Grenzwerten oszillierende Belastung eine
alternierende Plastifizierung (entsprechend den Strecken EA und GH)
ergeben, was nach einer Anzahl Zyklen zur Erschpfung des
plastischen Verformungsvermgens und damit zum Bruch fhren msste.
Dagegen knnte man fr die den Punkten A und G entsprechenden
Lastgrenzwerte erwarten, dass sich das System nach der anfnglichen
Plastifizierung rein elastisch verhalten wrde, sich also, wie man
sagt, der gegebenen Belastung angepasst htte. Bild 2.3 erlaubt noch
eine weitere interessante geometrische Deutung. Berechnet man die
fiktive elastische Formnderungsarbeit U, so erhlt man mit (2.12),
(2.5) und (2.11)2 ;0 O ( 1 + 2 ) 1L O L ) O 8 = ---------- =
---------------------------- + ---------------------------2 ($ 2 ($
( 2 + 2 )($ L=1 3 2 2
(2.14)
wenn man beachtet, dass der Eigenspannungszustand 1 LU an den
Verschiebungen des Lastspannungszustandes 1 LH keine Arbeit
leistet, 1 LH und 1 LU also zueinander orthogonal sind. Wrde das
Fliesspolygon von Bild 2.3 gemss (2.14) in beiden Achsenrichtungen
mit geeigneten Faktoren gestreckt, so entsprche das Quadrat des
Abstandes eines beliebigen Bildpunktes vom Ursprung gerade der
Formnderungsarbeit U. Allgemeine Aussagen Anhand von Bild 2.3 und
der geometrischen Deutung von U lassen sich folgende Stze
formulieren: 1. Bei einer monotonen Laststeigerung tritt beim
initial eigenspannungsfreien System der Spannungszustand ein,
welcher U minimiert, ohne dass die Fliessgrenze irgendwo
berschritten wird. 2. Bei einer infinitesimalen Belastungsnderung
dF tritt allgemein jene nderung des Spannungszustandes ein, welche
dU minimiert, ohne dass die Fliessgrenze irgendwo berschritten
wird. Ferner gelten offenbar folgende Stze: 3. Die Tragfhigkeit ist
nicht erschpft, wenn sich ein Gleichgewichtszustand angeben lsst,
der nirgends die Fliessgrenze erreicht.
19
Elastisch-plastische Systeme
4. Gegebene Grenzwerte der Belastung liegen innerhalb des
Anpassungsvermgens eines Systems, wenn ein Eigenspannungszustand
angegeben werden kann, derart, dass die Spannungen, welche durch
Superposition der den Grenzbelastungen entsprechenden elastischen
Spannungen mit diesen Eigenspannungen entstehen, nirgends die
Fliessgrenze berschreiten. Die Stze 1 und 2 entsprechen einer
Verallgemeinerung des Prinzips vom Minimum der Formnderungsarbeit
fr elastisch-plastische Systeme. Satz 3 entspricht dem in Kapitel
2.3.2 fr starr-ideal plastische Systeme formulierten unteren oder
statischen Grenzwertsatz, und Satz 4 wird als Einspielsatz
bezeichnet. Die anhand des betrachteten, einfach statisch
unbestimmten Systems gemachten Feststellungen lassen sich ohne
grundstzliche Schwierigkeiten auf mehrfach statisch unbestimmte
Systeme, mehrparametrige Belastungen und allgemeine
Belastungs-Zwngungs-Zyklen bertragen. 2.1.2 Elastisch-plastische
Balken Momenten-Krmmungs-Diagramm fr Rechteckquerschnitt Ein Balken
mit Rechteckquerschnitt sei gemss Bild 2.4 (a) durch ein
Biegemoment M um die yAchse beansprucht. Alle Fasern des Balkens
sollen dem in Bild 2.1 (b) dargestellten SpannungsDehnungs-Diagramm
gengen. Nach der Annahme von Jakob Bernoulli ber die Balkenbiegung
bleiben zur Stabachse x senkrechte Querschnitte whrend der
Verformung eben und senkrecht zur verformten Stabachse. Fr die
Dehnungen [ der einzelnen Balkenfasern gilt somit
[ = P + \ ] ] \und die Spannungsresultierenden
(2.15)
1 =
$
[ G$
,
0 \ = [ ] G$$
,
0 ] = [ \ G$$
(2.16)
knnen bei bekannten [ - [ -Beziehungen durch Integration ber die
Querschnittsflche A einfach gewonnen werden. Die Ermittlung der zu
bestimmten Spannungsresultierenden oder verallgemeinerten
Spannungen (Normalkraft N sowie Biegemomente 0 \ und 0 ] ) gehrigen
verallgemeinerten Verformungen (Achsendehnung P sowie Krmmungen \
und ] ) erfordert umgekehrt im allgemeinen ein iteratives
Vorgehen.(a)b x M y z h ++
(b)
(c)
(d)+
(e)Mu My
M B A C
c c
+ rc re
y D E
O y G Mu
F
fy
Bild 2.4 Balkenbiegung: (a) Querschnitt; (b) elastische
Spannungsverteilung; (c) elastischplastische Spannungsverteilung;
(d) Eigenspannungszustand; (e) Momenten-Krmmungs-Diagramm.
20
Traglastverfahren
Im vorliegenden Fall verschwinden wegen 1 = 0 ] = 0 und der
vorausgesetzten Symmetrie und Homogenitt des Querschnitts die
verallgemeinerten Verformungen P und ] . Die Indizes x (in [ und [
) und y (in \ und 0 \ ) knnen unterdrckt werden, und man erhlt aus
(2.2), (2.15) und (2.16) fr einen initial spannungsfreien,
elastischen Querschnitt die Beziehung
0 = (,3
(2.17)
mit , = EK 12 . Der in Bild 2.4 (b) dargestellten, elastischen
Spannungsverteilung entspricht die Beziehung
0 = ---- ] ,
(2.18)
Die Spannungen in den Randfasern ] = K 2 erreichen die
Fliessgrenzen I \ unter dem Moment
0 \ = :I \mit : = EK 6 .2
(2.19)
Mit dem in Bild 2.4 (c) eingetragenen Abstand c gilt in der
anschliessenden elastisch-plastischen Phase F = I \ ( , und fr das
zugehrige Biegemoment erhlt man
3 \ 0 = 0 \ -- -------- 2 2 2wobei \ = 2 I \ ( (K ) . Fr
erreicht man das sogenannte plastische Moment
2
(2.20)
0 X = =I \2
(2.21)
mit = = EK 4 . Das Verhltnis = : = 1.5 der plastischen und
elastischen Widerstandsmomente Z und W wird Formfaktor genannt, da
es nur von der Querschnittsgeometrie abhngt. Bei einer vollstndigen
Entlastung aus dem mit Bild 2.4 (c) charakterisierten
elastisch-plastischen Zustand verbleibt der in Bild 2.4 (d)
dargestellte Eigenspannungszustand mit
1 2 F 2 UH = I \ -- ------- 2 K2
,
3 3F 4F UF = I \ 1 ----- + ------- 3 K K
(2.22)
Im Momenten-Krmmungs-Diagramm von Bild 2.4 (e) bezeichnen OA und
ABC die elastische und die elastisch-plastische Phase. Wird der
Querschnitt nach der Entlastung von B nach F im Gegensinn belastet,
beginnen die Randfasern bei dem durch den Punkt G charakterisierten
Zustand zu fliessen. Das zugehrige Moment 0 * ist gleich 0 % 2 0 \
, wobei 0 % fr das durch (2.20) gegebene Moment vor der Entlastung
steht. Wie man sieht, ist 0 * 0 \ , d.h. im Vergleich zum initial
spannungsfreien Querschnitt mit 0 ' = 0 \ setzt das Fliessen im
allgemeinen unter einer geringeren Beanspruchung ein. Dieser nach
Bauschinger benannte Effekt ist mit einem Steifigkeitsverlust
verbunden, der sich bei Problemen 2. Ordnung negativ auswirken
kann. Wird die Belastung im Gegensinn vom Punkt G in Bild 2.4 (e)
ausgehend fortgesetzt, so ergibt sich der Belastungspfad GE, der
zum initialen elastisch-plastischen Pfad ABC nicht affin ist. Die
hier fr einen homogenen Rechteckquerschnitt unter einachsiger
Biegung hergeleiteten Beziehungen lassen sich mit Hilfe von (2.15)
und (2.16) ohne grundstzliche Schwierigkeiten auf beliebige
Querschnitte, Spannungs-Dehnungs-Diagramme und allgemeine
Beanspruchungen bertragen.
21
Elastisch-plastische Systeme
Einfacher Balken Der in Bild 2.5 (a) dargestellte, durch eine
mittig angreifende und monoton gesteigerte Einzellast F belastete
einfache Balken mit Rechteckquerschnitt sei initial spannungsfrei
und genge in jedem Querschnitt dem mit Bild 2.4 (e) beschriebenen
Momenten-Krmmungs-Diagramm. Die Bilder 2.5 (b) und (c) illustrieren
den Verlauf der Momente und Krmmungen in der elastischen Phase,
beim Fliessbeginn und in der elastisch-plastischen Phase. Bild 2.5
(d) fasst das Tragverhalten zusammen. Die elastische Phase OA wird
vom Fliessbeginn (Punkt A) mit 40\ ) \ = --------O 3 )\ ) X =
-------2 ,
\ O Z \ = --------1220 Z \ Z X = -----------9
2
(2.23)
abgeschlossen. Der Punkt B mit , (2.24)
charakterisiert das Erreichen der Traglast. Im Vergleich zu Bild
2.4 (e), gemss dem die Krmmungen fr das Erreichen von 0 X unendlich
gross werden mssen, ist es bemerkenswert, dass die Traglast ) X bei
einem endlichen Wert Z X der Mittendurchbiegung erreicht wird. Aus
dem statisch bestimmten Verlauf der Biegemomente M kann mit Hilfe
von Bild 2.4 (e) in jedem Querschnitt auf die zugehrigen Krmmungen
geschlossen werden, und der Durchbiegungsverlauf ergibt sich durch
zweifache Integration der negativen Krmmungen. In der
elastisch-plastischen Phase gilt = \ [ D fr 0 [ D und = \ ( 3 2 [ D
) fr D [ O 2 . Da die Durchbiegung fr [ = 0 verschwinden und die
Biegelinie bei [ = O 2 horizontal sein muss, und da ferner sowohl
die Durchbiegungsfunktion als auch deren Ableitung bei [ = D stetig
sein mssen, findet man fr die Mittendurchbiegung12
Z \ )\ 2) 1 2 ) Z = ----------- 5 3 + ----- 3 ------ 2 ) \ )\
)
2
(2.25)
(a)y
a x l/2
F
(d)) )Xl/2 1 D E A B C
w
(b)
z
M
2 -3
(c)
My
O
1
20 ----9
Z Z\
y
Bild 2.5 Einfacher Balken mit Rechteckquerschnitt unter mittig
angreifender Einzellast: (a) Bezeichnungen; (b) Biegemomente; (c)
Krmmungen; (d) Last-Mittendurchbiegungs-Diagramm.
22
Traglastverfahren
Fr ) = ) X kann sich an der Stelle [ = O 2 ein Knick der
Biegelinie einstellen. Nur in diesem einen Querschnitt, dem
sogenannten plastischen Gelenk, werden die Krmmungen theoretisch
unendlich gross. Die sogenannte plastische Reserve ) X ) \ des
vorliegenden statisch bestimmten Systems ist gleich dem Formfaktor
= : = 1.5 . Fr statisch unbestimmte Systeme gilt im allgemeinen )X
) \ > = : . Fr n-fach statisch unbestimmte Systeme wird die
Traglast sptestens dann erreicht, wenn sich Q + 1 plastische
Gelenke gebildet haben. Meistens werden Teilmechanismen mit weniger
als Q + 1 plastischen Gelenken massgebend. Wrde das
Momenten-Krmmungs-Diagramm von Bild 2.4 (e) unter Vernachlssigung
der elastisch-plastischen Phase durch ein bilineares, d.h. linear
elastisch-ideal plastisches Diagramm approximiert, so ergbe sich in
Bild 2.5 (d) die Linie OADBC. Wrde auch noch die elastische Phase
unterdrckt, so ergbe sich das starr-ideal plastische Verhalten
OEDBC. Wie man sieht, ist die Traglast ) X des ideal plastischen
Systems von den elastischen Verformungen unabhngig, d.h. man kann
sich auf die Betrachtung vereinfachter
Momenten-Krmmungs-Beziehungen beschrnken, wenn nur Traglasten und
zugehrige Bruchmechanismen von Interesse sind. Die Lnge des
plastifizierten Bereiches [z.B. O 2 D in Bild 2.5 (a)] hngt im
allgemeinen nicht nur vom Belastungsniveau ab. Fr grosse
Formfaktoren = : und bei zustzlicher Einwirkung von Normalkrften
wird sie grsser, whrend eine Verfestigung einen gegenlufigen
Einfluss hat. Beidseitig eingespannter Balken unter gleichmssig
verteilter Belastung Der in Bild 2.6 (a) dargestellte Balken
entspricht bis auf die Belastung und Lagerung jenem von Bild 2.5
(a). Die Bilder 2.6 (b) und (c) illustrieren den Momenten- und
Krmmungsverlauf beim Fliessbeginn und in der elastisch-plastischen
Phase, und Bild 2.6 (d) fasst die Ergebnisse einer vereinfachten
Betrachtung des Tragverhaltens zusammen. Der Fliessbeginn wird
durch das Erreichen der Fliessspannungen an den Querschnittsrndern
bei den Einspannstellen charakterisiert: 12 0 \ T \ = -----------2
O ,
\ O Z \ = --------32
2
(2.26)
Die Berechnungen fr die elastisch-plastische Phase werden
dadurch erschwert, dass sich einzelne Querschnitte nahe den
Einspannstellen unter zunehmender Belastung elastisch entlasten.
Wie beim Beispiel von Bild 2.5 wird aber die Traglast
T X = 2 T\
(2.27)
bei einer endlichen Mittendurchbiegung erreicht. Die plastische
Reserve T X T \ = 2 ist in diesem statisch unbestimmten Fall grsser
als der Formfaktor = : = 1.5 . Wird statt mit Bild 2.4 (e) mit
einem vereinfachten bilinearen Momenten-Krmmungs-Diagramm
gerechnet, so erhlt man in Bild 2.6 (d) die Linie OABC. Plastische
Gelenke bei den Ein2 spannstellen treten bei Punkt A in Bild 2.6
(d) unter einer Belastung von 12 0 X O und bei einer 2
Mittendurchbiegung von 3 \ O 64 auf. Fr zustzliche Belastungen bis
zum Erreichen der Traglast verhlt sich der Trger zwischen den
plastischen Gelenken wie ein einfacher Balken, d.h. die Steifigkeit
nimmt im Vergleich zum beidseitig eingespannten Balken um einen
Faktor 5 2 ab. Die Traglast TX von 16 0 X O wird in Bild 2.6 (d)
beim Punkt B erreicht, wenn auch der Querschnitt in der Mitte der
Spannweite l zu einem plastischen Gelenk wird. Die zugehrige
Rotation der plastischen Gelenke bei der Einspannstelle lsst sich
z.B. durch Anwendung der Ar-
23
Fliessbedingungen
(a)y z x l/2
q
(d)T TXw l/2 My 1 3/4 A B C
(b)
M (c) y
O
3/2
4
Z Z\
Bild 2.6 Beidseitig eingespannter Balken unter gleichmssig
verteilter Belastung: (a) Bezeichnungen; (b) Biegemomente; (c)
Krmmungen; (d) Belastungs-Mittendurchbiegungs-Diagramm.
beitsgleichung zu \ O 4 bestimmen, und fr die entsprechende
Mittendurchbiegung findet man Z = 4 Z\ . Die vereinfachende Annahme
eines bilinearen Momenten-Krmmungs-Diagrammes mit plastischen
Gelenken in den hchstbeanspruchten Querschnitten ergibt eine
praktisch vernnftige Nherung. Wegen der stets vorhandenen,
praktisch aber nicht erfassbaren (initialen) Eigenspannungszustnde
ist eine exakte Verformungsberechnung ohnehin illusorisch. Zudem
weisen die in der Praxis meist verwendeten, profilierten
Querschnitte wesentlich kleinere Formfaktoren auf, als der hier
betrachtete Rechteckquerschnitt. Das plastische Moment liegt also
nher beim Moment bei Fliessbeginn, und dadurch ist die Annahme
eines linear elastisch-ideal plastischen
Momenten-Krmmungs-Diagramms besser gerechtfertigt.
Verformungsnachweise zur Ergnzung von Traglastberechnungen werden
deshalb in der Regel auf vereinfachte Momenten-Krmmungs-Beziehungen
und die Betrachtung von in einzelnen Querschnitten konzentrierten
plastischen Gelenken abgesttzt, vgl. Kapitel 9.
2.2 Fliessbedingungen2.2.1 Rechteckiger Stahlbetonquerschnitt
unter Biegung und Normalkraft Fliessbedingungen fr Betonstahl und
Beton unter einachsiger Beanspruchung Bild 2.7 (a) zeigt eine
starr-ideal plastische Idealisierung des Verhaltens von Betonstahl
unter einachsiger Beanspruchung. Das Diagramm entsteht aus Bild 2.1
(b) durch Vernachlssigung der elastischen Dehnungsanteile, d.h. ( V
. Nach einer Belastung OAB erfolgt die Entlastung BC parallel zur
initialen Belastung OA, also ohne Vernderung von V . Bei einer
Belastung im Gegensinn ergibt sich Fliessen beim Punkt E, und nach
einer zweiten plastischen Phase EFG kann z.B. eine Wiederbelastung
entlang GHJ und eine dritte plastische Phase JABD anschliessen.
Bild 2.7 (b) fasst das durch Bild 2.7 (a) beschriebene Verhalten in
der Form einer Fliessbedin gung zusammen. Fr V < I \ treten
keine Vernderungen von V auf, d.h. V = 0 . Fr V = I \ sind
plastische Dehnungsinkremente V mglich, deren Vorzeichen mit jenem
der zu-
24
Traglastverfahren
(a)J fy
sA Es H O fy C B D
(b)
ses
fy
s
O
fy
I
G
F
E
Bild 2.7 Betonstahl unter einachsiger Beanspruchung: (a)
Starr-ideal plastisches Verhalten; (b) Fliessbedingung.
gehrigen Spannung bereinstimmt. Zustnde mit V > I \ sind
unmglich. Die beiden Fliessgrenzen in Bild 2.7 (b) werden analog zu
den anschliessend zu diskutierenden allgemeinen Fliessfiguren durch
Schraffuren an den Stellen I \ auf der V -Achse angedeu tet, und
die plastischen Dehnungsinkremente V werden auf dasselbe
Koordinatensystem bezogen wie die Spannungen V . Wie man sieht,
entsprechen die mglichen plastischen Dehnungsin kremente Vektoren e
V , die senkrecht auf den Fliessgrenzen stehen und mit Bezug auf
den zwischen den Fliessgrenzen liegenden aplastischen Bereich nach
aussen zeigen. Bild 2.8 (a) zeigt eine zu Bild 2.7 (a) teilweise
analoge Darstellung fr Beton mit einer endlichen Druckfestigkeit I
F und einer als verschwindend klein angenommenen Zugfestigkeit.
Belastungszyklen auf Druck (z.B. entsprechend dem Pfad OABC)
entsprechen dem Verhalten des Betonstahls gemss Bild 2.7 (a). Beim
Verhalten auf Zug ist dagegen ein markanter Unterschied
festzustellen. Nach einer Belastung entsprechend der Strecke OE
muss sich der damit verbundene Riss zunchst wieder schliessen, d.h.
der Bildpunkt in Bild 2.8 (a) nimmt den Weg EO zurck zum Ursprung,
bis das System wieder Druck aufnehmen kann. Ein starr-ideal
plastisches Verhalten wrde dagegen verlangen, dass vom Punkt E an
der Zugfliessgrenze ausgehend die Druckfliessgrenze I F ohne
Vernderung von F erreicht wrde. Dieses Abweichen von einem ideal
plastischen Verhalten auf der Zugseite und nicht, wie oft
angenommen wird, jenes auf der Druckseite bildet grundstzlich eine
der Hauptschwierigkeiten bei der Anwendung der Plastizittstheorie
auf Stahlbeton, vgl. die Bemerkungen zu Kontinuums- und
Bruchmechanik am Schluss von Kapitel 1.2.3. Vielfach wirkt sich
diese Schwierigkeit jedoch nicht aus, und die zu Bild 2.7 (b)
analoge Idealisierung in Bild 2.8 (b) ist zulssig.
(a)
c
(b)
c
ec
C D
O E Ec fc
c
O fc
B
A
Bild 2.8 Beton unter einachsiger Beanspruchung: (a) Starr-ideal
plastisches Verhalten; (b) Fliessbedingung.
25
Fliessbedingungen
Symmetrisch bewehrter Querschnitt ohne Betonberdeckung Der in
Bild 2.9 (a) dargestellte, symmetrisch bewehrte Rechteckquerschnitt
besteht aus Beton (Querschnittsflche $ F = EK ) und Betonstahl
(Querschnittsflche $ V = $ F ), deren Verhalten durch die
Fliessbedingungen der Bilder 2.8 und 2.7 beschrieben werden soll.
Bild 2.9 (b) zeigt die entsprechenden Dehnungsinkremente (2.28) = P
+ ] mit den verallgemeinerten Verformungsinkrementen P und , vgl.
(2.15).
(a)b As x N z As h
(b)
(c)
(d)
M Yc = 0 Yc < 0 bhfc /2 N bh2fc /8 bh2fc /8
M
y
m
K + -----1-2 EI F
fc
m bhfc
(e)M
(f) m D
M C Y asz f yz n z vorliegt; die zugehrige Bruchart mit Fliessen
der z-Bewehrung und gleichzeitigem Betondruckbruch wird als
Stegdruckbruchversagen bezeichnet, und der Schubwiderstand des
Scheibenelements lsst sich mit dem in Bild 3.3 (h) dargestellten
Viertelkreisbogen angeben. 3.3.2 Allgemeine Bewehrungsnetze Im
folgenden werden Flle mit Bewehrungen, welche von der den
bisherigen Ausfhrungen zugrundeliegenden, in x- und z-Richtung
eingelegten Orthogonalbewehrung abweichen, und die ihnen
entsprechenden Fliessfiguren analog Bild 3.3 (b) kurz erlutert.
Allgemein erhlt man die Fliessfigur eines beliebigen
Bewehrungsnetzes als Linearkombination der Fliessfiguren der
einzelnen Bewehrungslagen. Der Spannungszustand in einem aus
mehreren, im allgemeinen in den nicht orthogonalen Richtungen ni
eingelegten Bewehrungslagen bestehenden Bewehrungsnetz lsst sich
mit n xs = n zs = n xzs =
nis cosi
2
i(3.26)
nis sini i
2
i
nis sin i cos i
auf das x-z-Koordinatensystem transformieren, wobei i den Winkel
der ni -Richtung zur x-Achse bezeichnet. Mit der fr den
Bewehrungsstahl angenommenen Fliessbedingung - f y s f y ergibt
sich fr eine aus zwei schiefwinklig angeordneten Bewehrungslagen
bestehende Bewehrung im nxs-nzs -nxzs-Spannungsraum eine ebene,
parallelogrammfrmige, gegenber der nxs -nzs -Ebene geneigte
Fliessfigur der Bewehrung. Fr ein in den Richtungen x und t
eingelegtes Bewehrungsnetz erhlt man die in Bild 3.3 (i)
schematisch dargestellte Fliessfigur. Fr ein aus drei
Bewehrungslagen bestehendes Netz ist die Fliessfigur der Bewehrung
ein Parallelepiped, und fr noch mehr Bewehrungsrichtungen kann die
Fliessfigur wie bereits erwhnt als Linearkombination der
Fliessfiguren der einzelnen Bewehrungslagen konstruiert werden. Die
Fliessfiguren der Stahlbeton-Scheibenelemente ergeben sich wiederum
als Umhllende aller verschobenen Lagen, welche durch Translation
der Fliessfigur des Betons derart, dass ihr Ursprung alle Lagen auf
der Fliessgrenze der Bewehrung einnimmt, erhalten werden. Die
mathematische Formulierung solcher Fliessfiguren gestaltet sich
ungleich komplizierter als die Beziehungen (3.20) und beschrnkt
sich deshalb in der Regel auf die Beschreibung der in der
praktischen Anwendung massgebenden Fliessregimes. 3.3.3
Geschichtliche Hinweise Fliessbedingungen fr
Stahlbeton-Scheibenelemente wurden erstmals von Nielsen [77] fr
isotrope Bewehrung, asx = asz , und Beton mit der Fliessfigur gemss
Bild 3.3 (c) aufgestellt. Mller [73] diskutierte die statischen und
kinematischen Bedingungen fr die verschiedenen Fliessregimes (3.20)
und behandelte Fliessbedingungen fr beliebige Bewehrung.
Fliessbedingungen fr Stahlbeton-Scheibenelemente unter
Voraussetzung komplexerer Fliessbedingungen fr den Beton, welche
dessen Zugfestigkeit oder den festigkeitssteigernden Einfluss einer
zweiachsigen Druckbeanspruchung miteinbeziehen, findet man bei
Mller [73] und Marti [49].
53
Spannungsfelder
3.4 Spannungsfelder3.4.1 Einleitung Geschichtliche Entwicklung
Die Idee, den Kraftfluss in schubbeanspruchten gerissenen
Stahlbetonelementen mit Fachwerkmodellen nachzubilden, geht auf
Hennebique, Ritter und Mrsch zurck. Hennebique verwendete im Rahmen
der Patentierung einer Vertikalbgelbewehrung eine Fachwerkanalogie
zur Berechnung der Bgelkrfte. Ritter diskutierte die
45-Fachwerkanalogie und empfahl die Durchfhrung von Versuchen zur
berprfung der Modellaussagen [87]. Mrsch [72] fand die
Fachwerkwirkung anhand eigener und fremder Versuche besttigt.
Gesttzt auf Beobachtungen des Risseverhaltens der Versuchskrper
errtete er Modellvorstellungen der direkten Absttzung der Lasten
auf die Auflager, der Kombination von Fachwerkwirkung und direkter
Absttzung, der Fcherwirkung in Lasteinleitungsbereichen und der
Vernderlichkeit der Druckstrebenneigung. Er erkannte, dass mit
flacheren Druckstreben Einsparungen in der Bgelbewehrung erreicht
werden knnen, empfahl aber, die praktische Bemessung der Bgel in
Trgerstegen unter Anwendung des konservativen 45-Fachwerkmodells
durchzufhren, weil die Druckstrebenneigung auf rechnerischem Wege
nicht zu ermitteln sei. Drucker stellte als erster Spannungsfelder
als eine Anwendung des statischen Grenzwertsatzes der
Plastizittstheorie vor [19]. Die konsequente Anwendung von
Fachwerkmodellen und diskontinuierlichen Spannungsfeldern auf
Stahlbeton auf der Grundlage der Plastizittstheorie wurde von
Forschergruppen um Nielsen in Kopenhagen und Thrlimann in Zrich
vorangetrieben. Lampert fhrte bei der Berechnung des
Bruchwiderstands von kombiniert beanspruchten Trgern die
Druckstrebenneigung als frei whlbare Variable ein und begrndete
hiermit das Fachwerkmodell mit variabler (optimaler)
Diagonalenneigung [46]. Mller zeigte, dass die statischen Annahmen
des Fachwerkmodells mit optimaler Druckstrebenneigung den
Verhltnissen in Regime 1 der Fliessbedingung fr Scheibenelemente,
siehe Bild 3.3 (d) und (e), sowie den blichen Annahmen der
Balkentheorie entsprechen, und er ergnzte fr ausgewhlte Anwendungen
die statischen Fachwerkmodelle mit kinematisch zulssigen
Verschiebungszustnden zu vollstndigen Lsungen im Sinne der
Plastizittstheorie [73]. Schlaich et al. entwickelten eine
Fachwerkmodell-Methodik zur Bestimmung der Bewehrungskrfte unter
Einbezug elastizittstheoretischer berlegungen, welche allerdings
den Nachweis ausreichender Betonabmessungen nicht einbezieht [92,
93]. Einen umfassenden berblick ber diese Entwicklungen und ihre
Anwendungsmglichkeiten vermitteln die Publikationen [107, 79, 13,
35, 50, 52, 53, 54, 55, 57, 60, 17, 75, 100, 101, 38, 65].
Allgemeine Bemerkungen Fachwerkmodelle sind Stabmodelle, in denen
die Tragwirkung des Betons und der Bewehrung auf in Druck-
beziehungsweise Zugstben konzentriert wirkende Einzelkrfte
reduziert wird. Streben-Stab-Modelle oder einfach Streben-Modelle
(strut and tie models) gehen aus Fachwerkmodellen direkt hervor,
indem die Fachwerk-Druckstbe und -Knoten in Elemente mit endlichen
Abmessungen umgewandelt werden und zu einachsig beanspruchten
Druckstreben beziehungsweise allseitig gedrckten Knotenbereiche
werden. Mit Hilfe von Spannungsfeldern kann sowohl die
mehrdimensionale Tragwirkung des Betons als auch die Wirkung der
verteilten Bewehrungslagen beliebig genau modelliert werden. Die fr
praktische Anwendungen geeigneten ebenen diskontinuierlichen
Spannungsfelder setzen sich aus einzelnen Grundelementen zusammen
(deshalb diskontinuierlich), die ihrerseits von einer Schar von
ein- oder zweiachsig beanspruchten Hauptspannungstrajektorien
gebildet werden (im Falle von Knotenbereichen mit zweiachsig
54
Bruchwiderstand von Scheiben
gleichfrmigem Druckspannungszustand degeneriert die
Trajektorienschar). Diese Trajektorien knnen zueinander parallel
verlaufen (Druck- und Zugbnder beziehungsweise -streben) oder aber
divergierend sein (Fcher und Bogen); letztere werden in der Regel
nur fr die Beschreibung der Tragwirkung des Betons eingesetzt.
Streben-Stab-Modelle knnen eigentlich als Zwitter zwischen
diskontinuierlichen Spannungsfeldern und Fachwerkmodellen
bezeichnet werden, sind den Fachwerkmodellen jedoch sicher nher
verwandt. Mit Hilfe dieser Modelle lsst sich fr beliebige
Tragwerks- und Belastungsgeometrien ein statisch zulssiger
Gleichgewichtszustand fr das betrachtete System entwerfen und auf
diese Weise eine (unter den beliebig vielen mglichen) denkbare Art
des Kraftflusses im Tragwerk visualisieren. Auf der Grundlage eines
statisch zulssigen Spannungsfeldes knnen Lage, erforderlicher
Gehalt, Abstufung und Verankerungslngen der Bewehrung ermittelt,
die Betonabmessungen kontrolliert und erforderliche
Auflagerdimensionen bestimmt werden. Damit wird sichergestellt,
dass die Fliessbedingungen nirgends verletzt werden, und folglich
liegt die dem betrachteten Gleichgewichtszustand zugrundeliegende
Belastung nicht hher als die Traglast des Systems (statischer
Grenzwertsatz der Plastizittstheorie). Das Arbeiten mit
Spannungsfeldern ermglicht also zum einen eine sichere Bemessung
und zum anderen eine saubere konstruktive Durchbildung smtlicher
Details. Bei der Anwendung von Spannungsfeldern in der praktischen
Bemessung ist es im Hinblick auf Gebrauchstauglichkeit und
Verformungsvermgen des Tragwerks empfehlenswert, die Bereiche, in
denen aus statischer Sicht keine Stahleinlagen erforderlich sind,
im allgemeinen mit einer ausreichenden, fein verteilten
Mindestbewehrung zu versehen. Aus Tragfhigkeitsgrnden wichtig ist,
dass die zur berprfung der Betonabmessungen verwendete, sogenannte
effektive Betondruckfestigkeit fc in vernnftigem Masse konservativ
angesetzt wird, damit vorzeitige sprde Betondruckversagen vermieden
werden knnen. Fachwerkmodelle und Spannungsfelder sind nicht als
Modelle aufzufassen, die eine mglichst wirklichkeitsgetreue
Beschreibung des Tragverhaltens eines Bauteils erlauben. Vielmehr
sind sie (auf einer zum Teil sehr starken Abstraktion basierende)
einfache und klare Werkzeuge in der Hand des praktisch ttigen
Ingenieurs, die es ihm ermglichen, den Fluss der inneren Krfte auf
plausible Art zu erfassen und darauf basierend die wesentlichen
Abmessungen und konstruktiven Details festzulegen. Die Entwicklung
eines fr eine konkrete Problemstellung im Hinblick auf Bemessung
und konstruktive Durchbildung zufriedenstellenden Spannungsfelds
erfordert in vielen Fllen ein iteratives Vorgehen. Man entwirft ein
erstes Modell mit ungefhren Krften, welches anschliessend
modifiziert oder dann sukzessive beliebig verbessert und verfeinert
werden kann. Meist gengt es, einige wichtige Details zu prfen;
vollstndig ausgearbeitete Spannungsfelder einschliesslich der
Konstruktion smtlicher Knotenbereiche werden nur selten bentigt. In
jedem Fall hilfreich und Fehlern vorbeugend ist hingegen die
Verwendung masstblicher Zeichnungen der entworfenen
Spannungsfelder. Vorgehen bei der Entwicklung von Spannungsfeldern
Ausgangspunkt fr das Arbeiten mit Spannungsfeldern ist die
Aufteilung des im allgemeinen dreidimensionalen Tragwerks (zum
Beispiel profilierte Trger, Plattenbalken, Kastentrger) in einzelne
Scheiben. Rumliche Spannungsfelder werden meist nur in der Boden-
und Felsmechanik oder bei der Behandlung von Spezialproblemen, wie
zum Beispiel Betongelenken oder Spanngliedverankerungen, verwendet.
Fr jedes Tragwerkselement lsst sich nun ein Schnittkrperdiagramm
mit den im Gleichgewicht stehenden Last- und Auflagerkrftegruppen
zeichen. Bei statischer berbestimmtheit ist die Grsse der
berzhligen Auflagerkrfte frei whlbar; diese knnen zum Beispiel in
Anlehnung an eine Lsung gemss elastischer Balken- oder
Scheibentheorie festgelegt werden.
55
Spannungsfelder
Fr den in der praktischen Anwendung hufig auftretenden Fall,
dass das untersuchte Element schlank ist und eine konstante Hhe
aufweist, ist die Annahme parallel verlaufender Druckund Zuggurte
(und damit eines konstanten, konservativ angenommenen Hebelarms der
Gurtkrfte) mit dazwischenliegender Stegscheibe konstanter Hhe
zweckmssig. In Schnitten mit verschwindender Querkraft ergibt sich
im Spannungsfeld ein Wechsel des Schubflusses hin zu den Auflagern.
Im Rahmen der Beschreibung des Spannungszustandes in der
Stegscheibe wird die Tragwirkung des Betons durch Zusammensetzung
der Grundelemente paralleles Druckband, Fcher, Bogen und
Knotenbereich erfasst, whrend der verteilten Bgelbewehrung
parallele Zugbnder entsprechen. Knotenbereiche ergeben sich an
Stellen, wo konzentrierte Krfte eingeleitet oder umgelenkt werden.
Meist ist es sinnvoll, in diesen Bereichen Fcher vorzusehen, um zu
einem mglichst ausgeglichenen Spannungszustand zu gelangen und
damit der zweidimensionalen Tragwirkung der Stegscheibe Rechnung zu
tragen. Allgemein kann das Spannungsfeld einer Stegscheibe als
Abfolge von Fchern konstruiert werden. In der praktischen Anwendung
ist es aber zweckmssig und bersichtlicher, in Bereichen, wo keine
konzentrierten Krfte anfallen, parallele Druckbnder mit
gleichbleibendem, frei whlbarem Neigungswinkel vorzusehen, was
einer Aufteilung der Stegscheibe in gleich lange Abschnitte
entspricht. Nachdem das Spannungsfeld fr das untersuchte
Tragwerkselement entwickelt ist, knnen die Gurt- und Auflagerkrfte
auf die angrenzenden Tragwerkselemente (zum Beispiel Gurtplatten
oder Kasten- beziehungsweise Faltwerkscheiben) bertragen und der
Kraftfluss in diesen weiter verfolgt werden. 3.4.2 Grundelemente
Spannungsdiskontinuittslinien Fr die praktische Anwendung geeignete
ebene Spannungsfelder weisen in der Regel Unstetigkeiten oder
sogenannte Spannungsdiskontinuittslinien auf und werden daher als
diskontinuierliche Spannungsfelder bezeichnet. Damit der untere
Grenzwertsatz der Plastizittstheorie Gltigkeit hat, mssen an den
Spannungsdiskontinuittslinien die Gleichgewichtsbedingungen erfllt
sein. Dies bedeutet, dass an einer Spannungsdiskontinuittslinie nur
Normalspannungen t parallel zur Diskontinuittslinie einen Sprung
aufweisen drfen, t t+ , siehe Bild 3.4, whrend sowohl die
Normalspannungen n senkrecht zur Diskontinuittslinie als auch die
Schub + + spannungen nt (= tn ) kontinuierlich verlaufen mssen, das
heisst n = n , nt = nt .lin ts uit ie
Spannungszustand
t nt nSpannungszustand +
sk Di
on
tin
+ n
t+
+ nt
t n
Bild 3.4 Diskontinuittslinie.
56
Bruchwiderstand von Scheiben
Strebe und Knoten Bild 3.5 zeigt eine Hlfte einer symmetrischen
Scheibe mit Rechteck-Querschnitt b w h , die eine Einzellast Q
trgt. Die Last wird ber die Betondruckstrebe ACDF direkt zum
Auflager bertragen, wo sie im Gleichgewicht mit der Auflagerkraft
und der im horizontalen Zugstab wirkenden Kraft F t steht. Die
Einleitung und Umlenkung der Last und der Auflagerkraft erfordert
Knotenbereiche ABC und DEF. Die erforderlichen Abmessungen der
Lasteinleitungs-, Auflager- und Verankerungsplatten und somit jene
der Knotenbereiche ergeben sich mit der Bedingung, dass an ihren
Rndern die Betondruckfestigkeit - f c ausgentzt ist. Folglich
herrscht in den Knotenbereichen ein zweiachsiger, gleichfrmiger
Druckspannungszustand c1 = c 3 = - fc . Die Druckstrebe besteht aus
parallel gerichteten, einachsig mit c 3 = - f c beanspruchten
Spannungstrajektorien (Fachwerkstbe mit verschwindender Abmessung).
Das gewhlte, direkte Absttzung genannte Gleichgewichtsmodell
verlangt keinerlei vertikale Zugelemente. Dafr muss die im
horizontalen Zugstab in Scheibenmitte auftretende Bewehrungskraft F
t hinter dem Auflager verankert werden. In den Bereichen CGD und
AFH ist der Beton spannungsfrei. Mit den Gleichgewichtsbedingungen
F c = b w c f c = A s f sy = F t , findet man h c = -- 2 h2 Q a
---- ----------- , 4 bw fc fc A s = b w c ----fsy (3.28) Q a = bw c
fc ( h c ) (3.27)
Unter Verwendung des mechanischen Bewehrungsgehalts, = ( fsy fc
) , mit = A s ( bw d ) = = geometrischer Bewehrungsgehalt, und der
Beziehung c = d erhlt man aus der ersten Gleichung (3.28) bw fc h 2
( 1 2 ) Q = ----------------- ---------------------------a ( 1 +
2)2 bw fc h 2 Q = ----------------4a
23 23
(3.29) (3.30)
Es existieren kinematisch zulssige, mit dem in Bild 3.5
dargestellten Gleichgewichtsmodell vertrgliche Bruchmechanismen,
siehe Kapitel 3.5, und daher ist mit den Beziehungen (3.29) undaH
F
QE D
Fc
c h - 2c d h
Q b = ---------bw fc A s fsy c = d , = -------------bw d fc Fc =
Ft = d bw fcbw
A G
Ft
c
B
Qb
C
a+b
Bild 3.5 Scheibe ohne Vertikalbewehrung unter Einzellast:
direkte Absttzung ber Strebenwirkung.
57
Spannungsfelder
(3.30) die Traglast des Systems gegeben. Man beachte, dass Q u
fr = 2 3 maximal wird und durch Vergrsserung von nicht erhht werden
kann. In Bild 3.5 sind auch die Wirkungslinien der
Spannungsresultierenden der in der Druckstrebe und an den Rndern
der Knotenbereiche auftretenden, verteilten Spannungen
eingezeichnet, welche das dem Streben-Stab-Modell entsprechende
Fachwerkmodell bilden. Man beachte, dass der im Fachwerkmodell
maximal mgliche, whlbare Hebelarm, h c , beziehungsweise die
maximal mgliche statische Hhe d im Spannungsfeld nur unter
Bercksichtigung der erforderlichen (Beton-)Abmessungen der
Knotenbereiche gefunden wird. Das Streben-Stab-Modell in Bild 3.5
stellt eine starke Idealisierung des wirklichen Tragverhaltens dar.
In den Betonelementen treten ausschliesslich Hauptdruckspannungen
auf, und der Zugstab wirkt wie eine Bewehrung ohne Verbund. In
Wirklichkeit treten im Beton auch Zugspannungen und allgemein ebene
Spannungszustnde auf. Zwischen der Bewehrung und dem sie umgebenden
Beton werden Verbundkrfte aktiviert, was zu sukzessiver Rissbildung
und infolgedessen zur Ausbildung neuer statischer Systeme fhrt. Mit
dem Nahen des Bruchzustandes kann der Verbund allerdings weitgehend
zerstrt sein und die Strebenwirkung vorherrschen. In der
praktischen Anwendung werden meist Druckstreben mit ber der Breite
der Strebe konstant verteilten Druckspannungen verwendet. Fr
Bauteile, welche durch relativ grosse Druckkrfte beansprucht sind
(zum Beispiel Druckzonen stark bewehrter Biegetrger oder Sttzen)
und in denen entsprechend breite Druckstreben anzuordnen sind, kann
die Wahl ungleichmssiger Verteilungen der Druckspannungen ber die
Strebenbreite vorteilhaft sein [75]. Fcher und Bogen Bild 3.6
illustriert den bergang von einfachen (die Tragwirkung des Betons
darstellenden) Streben-Modellen zu Spannungsfeldern mit nicht
paralleler Trajektorienschar und dementsprechend entlang der
Trajektorien variablen (Druck-) Spannungen. Die betrachtete Scheibe
weist nur eine Lngsbewehrung auf. Aus Gleichgewichtsgrnden mssen
die Lasten weiterhin direkt zum Auflager bertragen werden, und die
im horizontalen Zugstab in Scheibenmitte auftretende
Bewehrungskraft F t muss hinter dem Auflager verankert werden
werden. Der in Bild 3.5 gezeigte Grundfall der direkten Absttzung
kann bei Betrachtung zweier Einzellasten auf das
Streben-Stab-Modell in Bild 3.6 (a) oder auch auf dasjenige in Bild
3.6 (c) weiterentwickelt werden. Durch gedankliches Hinzufgen
(unendlich vieler) weiterer Einzellasten gelangt man schliesslich
zu den in Bild 3.6 (b) und (d) dargestellten, der Abtragung einer
verteilten Belastung q dienenden Fcher beziehungsweise Bogen. Ob
sich in einem gegeben Fall Fcher- oder Bogenwirkung einstellt, hngt
unter anderem von der Schlankheit der Scheibe, dem Bewehrungsgehalt
und der Belastungsgeschichte ab. Man beachte, dass in allen vier
Modellen in Bild 3.6 die Abmessungen der Lager- und
Verankerungsplatten sowie die Geometrie der Druckstreben und des
Fchers beziehungsweise des Bogens derart gewhlt sind, dass in den
Knotenbereichen ABC ein zweiachsig gleichfrmiger
Druckspannungszustand c1 = c 3 = - fc herrscht und dementsprechend
die Punkte A bis E in den vier Modellen bereinstimmen. In den
Bildern 3.6 (a) und (c) sind auch die Wirkungslinien der
Spannungsresultierenden der in der Druckstrebe und an den Rndern
der Knotenbereiche auftretenden, verteilten Spannungen
eingezeichnet, welche das dem Streben-Modell entsprechende
Fachwerkmodell bilden. Nebenbei erkennt man in Bild 3.6 (c), dass
Fachwerkknoten im allgemeinen nicht im Knotenbereich des
entsprechenden (Streben-)Spannungsfelds zu liegen kommen.
58
Bruchwiderstand von Scheiben
(a)a/4 a/2 a/4
(b)a
qa / 2
qa / 2E D
q Fc dh - 2 dF E D
Fcd h
A
A
FtB
dB
qa
C
qa
C
G
Ftbw
qa / (bw fc)
qa / (bw fc)
(c)a/4 a/2 a/4
(d)a
qa / 2
qa / 2E D
q Fc dh - 2 dF E D
Fcd h
A
A
FtB
dB
qa
C
qa
C
G
Ftbw
qa / (bw fc)
qa / (bw fc)
Bild 3.6 bergang von Strebenwirkung zu diskontinuierlichen
Spannungsfeldern Scheibe mit verteilter Belastung ohne
Vertikalbewehrung: (a) und (b) Fcherwirkung; (c) und (d)
Bogenwirkung.
In den Bildern 3.6 (a) und (c) werden die (der verteilten
Belastung q statisch quivalenten) zwei Einzellasten q a 2 ber
fcher- beziehungsweise bogenfrmig angeordnete Druckstreben mit c 3
= - f c zum Auflager bertragen, wo sie mit der Auflagerkraft und
der im horizontalen Zugstab wirkenden Kraft F t im Gleichgewicht
gehalten werden. Der bergang vom StrebenModell in Bild 3.6 (a) zu
dem in Bild 3.6 (b) dargestellten Fcher erfolgt, indem die Scheibe
in differentielle Elemente der Lnge dx unterteilt und eine Schar
unendlich dnner Streben betrachtet wird, welche Lasten q dx
abtragen und deren Enden durch den Knotenbereich ABC und die
Druckzone DEF begrenzt werden. Durch Formulieren der
Gleichgewichtsbedingungen an einer Einzelstrebe in allgemeiner Lage
erhlt man zwei Differentialgleichungen fr die Funktionen der Linien
AC und DF, welche sich als quadratische Parabeln herausstellen. Die
Druckspannungen im Fcher nehmen entlang der geraden Trajektorien in
Richtung des Knotenbereichs hyperbolisch zu, und zwar auf den
entlang des Knotenrandes AC vorausgesetzten Wert c 3 = - f c . Die
Hauptdruckspannungen in der Druckzone DEF betragen c1 = - q b w und
c 3 = - f c . Mit einem analogen Vorgehen gelangt man vom
Streben-Modell in Bild 3.6 (c) zu dem in Bild 3.6 (d) gezeigten
diskontinuierlichen Spannungsfeld und erhlt die den Bogen bildenden
Randtrajektorien AE und CD als quadratische Parabeln. Die
Hauptdruckspannungen im Bogen betragen 0 c1 - q b w und c 3 = - fc
, wobei c1 entlang der geraden, senkrecht zur Parabel
59
Spannungsfelder
CD verlaufenden Trajektorien hyberbolisch von der Bogenober- zur
-unterseite abnimmt. Der Bereich AEF ist einachsig mit c 3 = - q b
w gedrckt. In allen vier in Bild 3.6 dargestellten Modellen ergibt
sich fr eine gegebene Bruchlast q der erforderliche mechanische
Bewehrungsgehalt durch Lsen der Beziehung a2 q q (1 2)
---------------------------- = -------- ----------- 1 ----------- 2
2 b f b w f c (1 + 2) 2h w c Umgekehrt gilt bei gegebenem
Bewehrungsgehalt bw fc 8 h2 (1 2 ) q = ----------- 1 1 --------
---------------------------- 2 a2 ( 1 + 2 )2 bw fc q = ----------2
fr 2 3 (3.32) fr 2 3 (3.31)
2 h2 1 1 -------- a2
Es existieren kinematisch zulssige, mit den in den Bildern 3.6
(b) und (d) dargestellten Gleichgewichtsmodellen vertrgliche
Bruchmechanismen (Biegemechanismen mit Rotationszentrum in D und
einem oder mehreren sogenannten Kollapsrissen im Bereich CDG) und
daher ist mit den Beziehungen (3.32) die Traglast q u des Systems
gegeben. Lastaufhngung Mit Bild 3.7 wird das Prinzip der
Lastaufhngung eingefhrt. Anstatt die Lasten ausschliesslich ber
Druckelemente direkt auf das Auflager zu bertragen, wie dies in den
Bildern 3.5 und 3.6 der Fall ist, kann durch Anordnung einer
Vertikalbewehrung eine Aufhngung der anfallenden Querkraft erwirkt
werden. Dadurch kann einerseits die im horizontalen Zugstab
wirkende Bewehrungskraft F t abgestuft sprunghaft gemss den
Streben-Modellen in den Bildern 3.7 (a) und (c), siehe Bild 3.7
(e), oder kontinuierlich gemss den Spannungsfeldern in den Bildern
3.7 (a) und (c), siehe Bild 3.7 (f) und ihre Verankerung am
Auflager erleichtert werden, andererseits ergeben sich gnstigere,
das heisst steilere Neigungen der Druckspannungstrajektorien. In
Analogie zu Bild 3.6 werden sowohl reine Fcherwirkung als auch eine
kombinierte Bogen- und Fcherwirkung betrachtet. Die in den Bildern
3.7 (b) und (d) dargestellten Spannungsfelder lassen sich durch
gedankliche Abstraktion aus den in den Bildern 3.7 (a) und (c)
gezeigten Streben-Modellen auf hnliche Weise wie weiter oben fr
Bild 3.6 beschrieben ableiten. Die Lasteinleitungs- und
Auflagerplatten in den in Bild 3.7 gezeigten Modellen haben alle
gleiche Abmessungen b = Q ( bw fc ) ; folglich gilt fr alle vier
Gleichgewichtszustnde der gleiche untere Grenzwert der Traglast. Im
Spannungsfeld in Bild 3.7 (b) fliesst die gesamte Last Q zunchst
ber den Fcher DGIJ zum horizontalen Zugstab hinunter, wird von dort
mittels des parallelen vertikalen Zugbandes FHIJ an der
Scheibenoberkante FH aufgehngt, sttzt sich ber die Druckzone GFH
auf den Fcherrand GH und fliesst von dort ber den Fcher ACGH zum
Auflager. Im Spannungsfeld in Bild 3.7 (d) hingegen fliesst nur ein
Teil der Last Q ber den Fcher DGIJ zum Zugstab und wird mit dem
vertikalen parallelen Zugband FHIJ an der Bogenoberkante FH
aufgehngt; der restliche Anteil der Last Q sttzt sich ber den Bogen
GFHK und die Strebe ACKH direkt auf das Auflager ab.
Dementsprechend erfordert die kombinierte Bogen- und Fcherwirkung
gemss Bild 3.7 (d) weniger vertikale Bewehrung als die in Bild 3.7
(b) gezeigte reine Fcherwirkung, dafr s