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Wolfgang Maaser Lehrbuch Ethik Grundlagen, Problemfelder und Perspektiven 2. Auflage Studienmodule Soziale Arbeit
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Wolfgang Maaser Lehrbuch Ethik - download.e-bookshelf.de · Der Autor WolfgangMaaser, Dr.theol. habil., Jg. 1955,ist Professor für Ethik im Fachbereich Soziale Arbeit an der Evangelischen

Aug 29, 2019

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Wolfgang Maaser

Lehrbuch EthikGrundlagen, Problemfelderund Perspektiven

2. Auflage

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Wolfgang MaaserLehrbuch Ethik

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Studienmodule Soziale Arbeit

Herausgegeben vonHeinz-Jürgen Dahme | Ria Puhl | Regina Rätz |Wolfgang Schröer | Titus Simon | Mechthild Wolff

Die Reihe „Studienmodule Soziale Arbeit“ präsentiert Grund-lagentexte und bietet eine Einführung in basale Themen derSozialen Arbeit. Sie orientiert sich sowohl konzeptionell alsauch in Inhalt und Aufbau der Einzelbände hochschulüber-greifend an den jeweiligen Studienmodulen.

Jeder Band bereitet den Stoff eines Semesters in Lehr- undLerneinheiten auf, ergänzt durch Übungsfragen, Vorschlägefür das Selbststudium und weiterführende Literaturhinweise.

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Wolfgang Maaser

Lehrbuch EthikGrundlagen, Problemfelder und Perspektiven

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Der Autor

Wolfgang Maaser, Dr. theol. habil., Jg. 1955, ist Professor für Ethik im FachbereichSoziale Arbeit an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-LippeBochum.Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Sozialethik.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 20102. Auflage 2015

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzesist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das giltinsbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungenund die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2010 Juventa Verlag Weinheim und München© 2015 Beltz Juventa · Weinheim und Baselwww.beltz.de · www.juventa.deSatz: text plus form, Dresden

ISBN 978-3-7799-4165-1

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Inhalt

Zur Einführung 9

Kapitel 1Ethisches Orientierungswissen 111.1 Der Begriff der Ethik und der Umgang

mit philosophischen Traditionen 121.2 Die Bedeutung des Orientierungswissens

für die Soziale Arbeit 161.3 Begründen – problematisieren – lernen – orientieren 181.4 Das Verhältnis von Theorie und Praxis 20

Kapitel 2Menschenrechte – Grundlagen 252.1 Menschenrechte – Konkretisierungen des Schutzes

der menschlichen Würde 262.2 Definitionen 282.2.1 Relativismus der Menschenrechte? 302.3 Menschenrechte, Grundrechte und Bürgerrechte 312.4 Das Verhältnis von Rechten und Pflichten 332.5 Historische Dimensionen des Würdebegriffs:

der vorneuzeitliche Würdebegriff 342.5.1 Würde und Lebensqualität 362.6 Freiheit, Gleichheit und Teilhabe 37

Kapitel 3Menschenrechte – Vertiefung 443.1 Historische Entwicklungslinien 443.2 Exkurs: Grundrechte zwischen Gewährleistung

und Beschränkung 473.3 Soziale Arbeit zwischen Menschenrechten

und sozialstaatlicher Aufgabe 513.3.1 Akteur, Beobachter, kritischer Berichterstatter –

Soziale Arbeit als menschenrechtsbezogene Profession 53

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Kapitel 4Gerechtigkeit, Recht und Gesetz – Grundlagen 564.1 Definitionen 574.2 Maßgebliche Unterscheidungen 584.3 Die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls 614.4 Verteilung und Befähigung 644.5 Gleichheit oder Gerechtigkeit? 66

Kapitel 5Gerechtigkeit, Recht und Gesetz – Vertiefung 715.1 Das liberal-ökonomische Menschenbild 715.1.1 Homo oeconomicus und unternehmerisches Selbst 715.1.2 Gegenseitigkeit und Vertrag 745.2 Capability-Approach und Soziale Arbeit 765.3 Recht und Moralität 77

Kapitel 6Macht und Herrschaft 806.1 Definitionen 816.2 Systematische Dimensionen des Machtbegriffs 836.2.1 Einschränkung der Macht durch moralische Kompetenz 846.2.2 Einschränkung der Macht durch das Gesetz 856.2.3 Herrschaft und Anerkennung 876.2.4 Machtverzicht und Machtkonzentration

aus Selbstinteresse 896.2.5 Einschränkung der Macht durch unveräußerliche

Rechte 93

Kapitel 7Der Auftrag der Sozialen Arbeit –vom doppelten Mandat zum Tripelmandat 967.1 Normative Rekonstruktion des Tripelmandats 997.2 Professionswissen und Deuten 1037.3 Umgang mit Fremdheit und Grenzen des Verstehens 1067.4 Anerkennen und Wertschätzen 107

Kapitel 8Institution und Individuum 1128.1 Definitionen 1138.2 Angewiesensein und Weltoffenheit des Menschen 1168.3 Die Dynamik der Institutionen 1188.4 Freiheit und Zukunftsfähigkeit 119

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8.5 Exkurs: Vertrauen in Institutionen? 1218.5.1 Konsequenzen für die Soziale Arbeit:

Hilfe als Normalisierung? 127

Kapitel 9Verantwortung – Grundlagen 1299.1 Definitionen 1319.2 Das Verantwortungssubjekt 1339.3 Der Verantwortungsbereich 1349.4 Die Verantwortungsinstanz 1359.5 Kooperative Verantwortung 139

Kapitel 10Verantwortung – Vertiefung 14210.1 Verantwortungswissen – Verantwortungsfähigkeit –

Verantwortungsrisiko 14210.2 Verantwortung in sozialen Rollen 14310.3 Politische und prospektive Mitverantwortung 14510.4 Verantwortlichkeit in sozialen Berufen 146

Kapitel 11Vom Sozialstaat zum Gewährleistungsstaat 14911.1 Hilfeerwartungen 14911.2 Definitionen 15111.3 Die Transformation des Wohlfahrtstaates 15311.4 Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip 15411.5 Tausch- und verteilungsgerechte Dimensionen 15611.6 Wohlfahrtspluralismus – neue Verantwortungsteilung –

aktivierender Sozialstaat 158

Kapitel 12Wohlfahrtsverbände zwischen normativemSelbstverständnis und operativen Zwängen –Grundlagen 16112.1 Wohlfahrtsverbände im Umbruch 16112.2 Exkurs: Kritik an den Wohlfahrtsverbänden –

Reichweite und Grenzen 16512.3 Die Funktionen der Wohlfahrtsverbände

für die soziale Gerechtigkeit 16912.4 Werte zwischen Funktionalisierung und Orientierung 17212.5 Kirchliche Wohlfahrtsverbände 174

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Kapitel 13Konfessionelle Wohlfahrtsverbändeund Organisationsentwicklung – Vertiefung 17713.1 Ethische Herausforderungen in der

Organisationsentwicklung 17713.2 Zwischen Sozialanwaltschaft und sozialer Dienstleistung 18013.3 Das Verhältnis von Ehrenamt und Profession 182

Literatur 185

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Zur Einführung

Das vorliegende Buch stellt zentrale ethische Leitbegriffe für die Soziale Ar-beit in den Mittelpunkt, die in den einschlägigen curricularen Rahmenricht-linien der Profession eine zentrale Bedeutung besitzen. Aus den reichhaltigenTraditionen und Theorieansätzen der Ethik kommen für professionsrele-vant erachtete Inhalte zur Sprache. Die Themenauswahl ist der Orientie-rungsfunktion für die Sozialarbeitsprofession geschuldet. Unter den Bedin-gungen eines lehrbuchmäßig einzugrenzenden Stoffgebiets ist hier keineVollständigkeit gegeben.

Das Buch gehört weder zu den fachphilosophischen Literaturgattungennoch zu den oberstufenorientierten Lehrbüchern für Schulen. Es bietet einefachlich verantwortbare und elementarisierte Darstellung, die in wichtigesystematische Problemgefüge eines Leitbegriffs einführt und ihn auf norma-tive Dimensionen Sozialer Arbeit bezieht. Hierdurch befördert es die Fä-higkeit, sozialarbeiterisches Wirken ethisch zu bewerten, unterschiedlicheHandlungsstrategien und Methoden intersubjektiv zu diskutieren sowieihre Rahmenbedingungen normativ zu analysieren.

SozialarbeiterInnen sollen keine ethischen FachwissenschaftlerInnenwerden. Ein klar kommunizierbares, legitimierbares und artikulierbaresnormatives Selbstverständnis bleibt dennoch für ein selbstreflexives Profes-sionsverständnis unverzichtbar. Der Bezug auf Menschenrechte besitzthierbei eine zentrale Bedeutung. Das Menschenrechtsethos stellt einen vor-läufigen, wenn auch interpretationsbedürftigen Konsens dar, auf den sichviele Menschen in Bewertungsvorgängen beziehen. Die von diesem diffusenEinverständnis bestimmte Moral bedarf im Kontext der Sozialen Arbeit vorallem der Erklärung und der Artikulation, weniger einer umfassendenLetztbegründung. Daher werden die klassischen Begründungstypologienunterschiedlicher Ethikansätze zurückgestellt; die ins Literaturverzeichnisaufgenommenen klassischen Einführungen in die Ethik helfen hier weiter.Ihr Studium wird ausdrücklich empfohlen.

Die normativen Prinzipien, mit deren Hilfe die Soziale Arbeit ihre Zielebegründet und ihre Fachlichkeit orientiert, besitzen allgemeinen Charakter.Eine besondere Ethik der Sozialen Arbeit kann es daher nicht geben. SozialeArbeit verfügt weder über ein ethisches Sonderwissen noch über ein ethi-sches Definitionsmonopol. Infolgedessen muss sie sich die allgemein üb-lichen Kategorien der Ethik selbstständig aneignen, auf die Vielfalt ihrer

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Handlungsfelder beziehen und sie dann kontextuell auslegen. Dies ge-schieht im Regelfall in einer Berufsethik. Da sozialarbeiterische Handlungs-felder jedoch einer permanenten Veränderungsdynamik unterliegen, kannes wohl keine letztgültig umrissene und abschließende Berufsethik geben.Stets neu auftretende berufsethische Fragen und Herausforderungen ver-anlassen immer wieder eigenständige ethische Reflexion. Die BerufsethikSozialer Arbeit ist demzufolge eher das Projekt eines fortwährenden Ver-ständigungsprozesses, der ethische Prinzipien in unterschiedlichen Hand-lungsfeldern zur Orientierung nutzt, zu begründeten kontextuellen Rah-menregelungen kommt und diese in aller Vorläufigkeit in einer Berufsethikfesthält. Das vorliegende Buch möchte daher ein Orientierungswissen bie-ten, das zu einer reflexiven Selbstständigkeit befähigt und für ein prozedu-rales Verständnis einer sich stets weiterentwickelnden Berufsethik notwen-dig ist.

Das Studienmodul ist ein Fachbuch und bedarf eines gründlichen Stu-diums. Es gliedert sich in 13 Lerneinheiten. Die einzelnen Themen verwei-sen häufig auf inhaltliche Anschlussstellen in anderen Kapiteln. Daher ist esprinzipiell möglich, bei einem ausgewählten Grundbegriff zu beginnen, umsich von da aus durch weitere Kapitel durchzuarbeiten. Im Regelfall emp-fiehlt sich eine chronologische Lektüre. Das Kapitel 1.1 ist für beide Arbeits-weisen unverzichtbar. Die Kapitel 1.2 bis 1.4, die die produktive Irritations-funktion der Ethik für die Wahrnehmung von Praxisprozessen reflektieren,lassen sich besser verstehen, wenn man bereits einige Leitbegriffe und ihreBedeutung für die Soziale Arbeit erarbeitet hat.

Mein Dank gilt vor allem zwei Personen, die wesentlichen Anteil an derGestaltung und Endredaktion des Buches hatten. Regina Stephan, MA, ver-danke ich zahlreiche detaillierte Hinweise und wichtige Diskussionen. Invielen Stunden verbesserte sie das Skript durch ihre konstruktive Kritik undentwickelte die für das Verständnis hilfreichen Schemata des Buches. Auchan der Verbesserung der zweiten Auflage hat sie wesentlichen Anteil. Dr.Reinhild Stephan-Maaser übernahm – wie so oft – dankenswerterweise dieumfangreichen Korrekturarbeiten und gab zahlreiche sprachliche Hinweise.

Bochum, im Januar 2010Wolfgang Maaser

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Kapitel 1Ethisches Orientierungswissen

Ethik für Soziale Arbeit zielt auf die kritische Durchdringung der ver-breiteten Moralvorstellungen. Sie beinhaltet demzufolge die selbstkritischeBearbeitung moralischer Hintergrundsüberzeugungen der Sozialarbeits-profession.Als kritische Reflexionsleistung löst sie durch produktive Irritationen zumeinen Problematisierungen und Begründungsbedarfe aus, zum anderenstiftet sie gerade hierdurch Orientierung. Sie unterstützt damit die Selbst-reflexivität der Profession, die ein artikulierbares, kommunizierbares undbegründbares normatives Selbstverständnis erfordert, und fördert über-dies den selbstständigen, stetigen Lernprozess eines Berufes, der sichstets neu auf die sozialen Herausforderungen einer dynamischen Gesell-schaft einstellen muss.

Für Menschen in sozialen Berufen spielen moralische Überzeugungen inihrem Professionsverständnis oft eine erhebliche Rolle. Dies tritt besondersdeutlich heraus, wenn sie über ihre Berufswahl und beruflichen Motivatio-nen Auskunft geben. Dabei verweisen ihre moralischen Einstellungen überdas enge Feld beruflicher Verantwortung in den Bereich ihrer grundsätzli-chen Lebensorientierung. Die eigene moralische, ggf. religiöse Sozialisation,aber auch die im Zuge des Erwachsenwerdens und Erwachsenseins ange-eigneten Wirklichkeitssichten, Menschenbilder und Lebensvorstellungenbegleiten das Berufsleben und geben der professionellen Praxis eine spezifi-sche Perspektive. Sowohl die Wahrnehmung von Handlungs(un)möglich-keiten im beruflichen Praxisfeld, der Umgang mit den Klienten als auch dieinstitutionellen Formen sozialer Hilfe werden beträchtlich davon beein-flusst. Auch der Sinn Sozialer Arbeit und die berufliche Identität sind imKern davon betroffen. Ungeklärte moralische Motivationen bringen des öf-teren zu hoch gesteckte moralische Ziele mit sich und münden dann durchambivalente, teilweise frustrierende Berufserfahrungen auf lange Sicht inzynische Grundhaltungen.

Moralische Hintergrundsüberzeugungen treten im Regelfall wenig inErscheinung. Sie gelten vorwiegend als private Wertentscheidungen ausdem eher persönlichen, geradezu intimen Bereich. In milieuspezifischenGruppen stabilisieren sie das Gefühl von Zugehörigkeit und Selbstvergewis-

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serung. Auch in professionellen Bezügen wird das moralische Alltagsbe-wusstsein selten Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion und Kommuni-kation. Die Verständigung beschränkt sich allenfalls auf das Äußern per-sönlich motivierter Standpunkte und moralischer Intuitionen. Nur seltengelingt ein offener, konstruktiver Dialog, der unterschiedliche Auffassungengemeinsam prüft und kritisch bearbeitet. Denn diese gelingende Kommu-nikation erfordert die Bereitschaft und Fähigkeit aller Teilnehmer, ihre per-sönlichen, subjektiven Einschätzungen im Lichte intersubjektiver, d.h. be-gründungsfähiger und gerechtfertigter Kriterien zu durchdringen. EthikSozialer Arbeit bietet hier Hilfe durch begriffliche Klärung an. Erst wennMenschen ihre moralischen Auffassungen von anderen in Frage stellen las-sen und mit ihnen gemeinsam nach allgemein begründbaren Kriterien ur-teilen lernen, entsteht ein ethischer Diskurs. Wer in diesen Prozess eintritt,geht ein gewisses Risiko ein. Denn er erkennt an, dass seine gewohnheits-mäßige Alltagsmoral bei genauerer Betrachtung gar nicht selbstverständlichist und der Begründung bedarf.

Moralische Überzeugungen sind bei Licht besehen keineswegs selbstver-ständlich. Sie besitzen nicht die Stabilität von Naturgesetzen und erweisensich bei sorgfältiger Durchdringung als mehrdeutig. Ihre Evidenz und Plau-sibilität unterliegt einem Wandel. Die vor 40 Jahren quasi unbefragt an-erkannten und von einer Mehrheit akzeptierten Selbstverständlichkeitenerfuhren entscheidende Veränderungen. Wer heute von gesellschaftlicherSolidarität redet, muss bereits eine ganze Palette von Einwänden und Ge-genargumenten einkalkulieren. Denn er steht unter einem größeren Recht-fertigungszwang als damals. Im derzeitigen Klima sozioökonomischer Ver-unsicherung treten die überkommenen Gewissheiten und besonders ihreAnfechtbarkeit zunehmend heraus. Es entsteht ein stärkerer Reflexions-bedarf der moralischen Einstellungen.

1.1 Der Begriff der Ethik und der Umgangmit philosophischen Traditionen

Die kritische Prüfung fragwürdig gewordener, handlungsrelevanter Orien-tierungsperspektiven war seit jeher Ausgangspunkt der Ethik. Für die Erfas-sung der Grundsituation ethischer Reflexion stellen die unterschiedlichenphilosophischen Traditionen noch heute orientierende Grundbegriffe be-reit. Aristoteles (384–322 v.Chr.) hat für den Bereich der eingeübten, meistunreflektierten Gewohnheiten, Traditionen und Konventionen den BegriffEthos – des öfteren auch den ähnlichen Begriff Moral – geprägt. Auch un-reflektierte, moralische Hintergrundsüberzeugungen sind Bestandteil desEthos. Unter Ethik hingegen versteht er eine sich kritisch und konstruktiv

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auf das Ethos beziehende Reflexionsleistung. Sie entwickelt intersubjektiveKriterien der Beurteilung, mit deren Hilfe Gewohnheiten überprüft, verän-dert oder mit guten Gründen beibehalten werden sollten.

Das aristotelische Ethikverständnis nimmt die Spannung zwischen demtraditionellen Ethos und seiner kritischen Bearbeitung zum Ausgangspunkt.Dies setzt bereits gewisse Zweifel an den Überlieferungen und traditionellenEinstellungen voraus. Andernfalls würden Menschen sich hierzu gar nichtin Distanz setzen. Ethisches Denken beinhaltet daher immer auch eine Sen-sibilität für die Uneindeutigkeiten der Weltauslegung und die rationalnachvollziehbare Thematisierung dieser Unschärfen. Ein gewisser staunen-der Zweifel und eine Skepsis gegenüber den vorfindlichen, als ewig erschei-nenden Ordnungsmustern menschlichen Lebens begleitet die Ethik vonAnfang an.

Abb. 1: Ethos und Ethik

Der westliche Kulturkreis verfügt heute über eine über zweitausend Jahrealte ethische Reflexionstradition, so dass sich diese außerordentliche Vielfaltschwerlich auf einen Nenner bringen lässt. Jeder dieser ethischen Proble-matisierungszugänge versucht auf seine Weise die Uneindeutigkeit in denHandlungsorientierungen der eigenen Zeit reflektierend zu durchdringenund stabile Handlungsperspektiven zu entwickeln. Da der Mensch der Mo-derne nicht mehr in einem starren Ordnungs- und Sinngefüge wie in einemantiken Stadtstaat oder in einer von kirchlichen Strukturen weithin domi-nierten Gesellschaft lebt, bedarf es eines Bewusstseins der Distanz zu diesenvergangenen Gesellschaften und damals geltenden Traditionen. Die morali-

Ethos/Moral– moralische Sichtweisen

und Einstellungen– meist unreflektiert– eingeübte Praktiken

Ethik– kritische Reflexion des Ethos– Prüfung von Traditionen

und Gewohnheiten– Entwicklung von

Beurteilungskriterien

Legitimation, Modifikationoder Delegitimation

Irritation, Zweifel, Skepsis,Staunen, Krise

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schen Einstellungen heute stehen eher den durch die wirtschaftlichen undsozialen Herausforderungen der Industrialisierung entstandenen Ethikdis-kursen Englands im neunzehnten Jahrhunderts nahe. Auch der von Imma-nuel Kant (1724–1804) Ende des achtzehnten Jahrhunderts entwickelte Ge-danke einer universalen Würde der menschlichen Person ist uns vertraut.Dennoch gehören sowohl das preußische, damals international geprägteKönigsberg Kants als auch die frühindustrialisierte englische Gesellschaftder Vergangenheit an. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen und individuel-len Lagen mit ihren wesentlich vielfältigeren und disparateren Strukturenbringen andere Probleme mit sich. Im dritten Jahrtausend besteht die Not-wendigkeit, ethisch verantwortbare Handlungsperspektiven unter den Be-dingungen einer säkularisierten, durch den Pluralismus geprägten Gesell-schaft zu entwickeln. Da der Wahrheitsanspruch der christlichen Religiondurch die Säkularisierung seine konkurrenzlose Stellung verloren hat, müs-sen auch theologische Ethiken methodisch ihre Positionen argumentativund kommunikativ artikulieren (Frey 1990).

Obwohl sich ethische Traditionen nicht einfach zeitenthoben wiederho-len lassen, bleibt die Auseinandersetzung mit diesen und anderen Traditio-nen unerlässlich. Denn deren Argumentationsmuster strömten in bruch-stückhafter, teilweise in einer bis zur Unkenntlichkeit verformten Weise indie vielfältigen, gegenwärtigen Formen moralischer Selbstverständigungein. Daher muss eine Beschäftigung mit den Argumentationsweisen undInhalten der bereits in sich inhomogenen Traditionen auf die heutige Situa-tion Rücksicht nehmen und eine Auswahl treffen. Diese Selektion lässt sichselbst als ein philosophisch-kreativer Akt verstehen: „Der gleiche Gedankewächst mitunter in einem anderen völlig anders als in seinem Urheber; un-fruchtbar in seinem natürlichen Boden wird er über die Maßen fruchtbar,wenn man ihn verpflanzt.“ (Pascal 1963, 100) So ist es durchaus philo-sophisch, Reflexionstraditionen konstruktiv und selektiv zur je eigenenKlärung der Gegenwart und ihrer Herausforderungen heranzuziehen. Phi-losophen nutzten philosophische Traditionselemente, verformten und ak-tualisierten die eigene Überlieferung zur Orientierung in ihren Lebens-umständen. Die Philosophiegeschichte und die fachphilosophischen Detail-untersuchungen dokumentieren einen Prozess kreativer Variationen.

Die Entwicklung ethischen Orientierungswissens für die Soziale Arbeitgeht demgegenüber anders vor. Sie muss die durch Profession und ihreHandlungsfelder vorgegebenen ethischen Grundprobleme identifizierenund sie mit Hilfe eines ausgewählten philosophischen Orientierungswissensdurchdringen. Dies hat Vor- und Nachteile: (a) Einerseits bleiben profes-sionell Helfende in fachphilosophischer Hinsicht immer Anfänger. Sie ver-fügen über den vorteilhaften Ideen- und Erfahrungsreichtum des über sichselbst nachdenkenden moralischen Alltagsbewusstseins. Im positiven Sinne

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fehlt ihnen die ‚Betriebsblindheit‘ des fachphilosophischen Reflektierens.Im Idealfall steht die fragende Neugier und ein Staunen darüber im Vorder-grund, dass sich die vertrauten Welten auch einmal anders betrachten las-sen. In dieser, dem Anfang des abendländischen Philosophierens durchausähnlichen Grundsituation ist das Erstaunliche noch nicht vom Ballast viel-fältiger begrifflicher Unterscheidungen und umfangreicher Systementwick-lungen erdrückt. (b) Andererseits bleibt die selektive Rezeption ethischerTraditionen und Grundbegriffe nachteilig. Hier schaffen Gesamtüberblicke(z.B. Anzenbacher 1987, 1992) sowie Handbücher der Sozialen Arbeit (Otto/Thiersch, 2005; Thole, 2005; Lob-Hüdepohl/Lesch, 2007) Abhilfe, wenn diewichtigsten Grundkenntnisse bereits erworben wurden. Im Rahmen derAusbildung sozialer Berufe ist ein gewisser Realismus angebracht: Ein aufdiesen Zusammenhang hin konzipiertes ethisches Wissen kann nur ein aus-gewähltes, elementares Orientierungswissen sein, das exemplarisch zentraleethische Aspekte Sozialer Arbeit analysiert und bearbeitet. Von dieser krea-tiven ‚Notlösung‘ bleibt im Ergebnis keine Fachausbildung verschont. SelbstPhilosophiestudierenden geht es nicht anders. Auch sie müssen sich häufigin Bezug auf antike und mittelalterliche Traditionen mit Elementarisierun-gen behelfen, weil ihnen gründliche Latein- und Griechischkenntnisse feh-len. Hier wie dort bleiben die für die jeweilige Profession zugeschnittenen,paradigmatischen Einblicke unerlässlich. Das vorliegende Lehrbuch gehtdaher von problemorientierten Themenstellungen aus, die für professionellHelfende Bedeutung besitzen. Es will die Selbstklärung der Sozialarbeitspro-fession ethisch vorantreiben und zum Durchdenken der moralischen Per-spektiven Sozialer Arbeit motivieren und befähigen.

Den Menschenrechten, wie sie unter anderem in der Allgemeinen Erklä-rung der Menschenrechte von 1948 festgehalten wurden (→ Kap. 2.6), kom-men heute in Bezug auf die Hintergrundsüberzeugungen eine grundlegendeBedeutung zu. Denn weite Teile des gegenwärtigen Ethos sind ihrer prägen-den Wirkung ausgesetzt. Sie bestimmen das moralische Alltagsbewusstsein,sind teilweise in maßgebende Rechtskorpora eingegangen und stellen heuteeinen interpretationsfähigen sowie interpretationsbedürftigen Konsens dar.Daher kann eine kritische, auf gesellschaftliche Resonanz zielende Einmi-schung nicht auf einen menschenrechtlichen Bezug verzichten. Der Bezugauf das Ethos der Menschenrechte entbindet jedoch nicht von Begrün-dungsfragen; er vermeidet allerdings die Einengung auf Grundsatzfragennormativer Letztbegründungen.

Menschenrechte können als kritische Beurteilungsmaßstäbe sozialerPraxis dienen. Sie haben den Status regulativer Kriterien. Daher können ausihnen keine Handlungskonzepte im Sinne von ‚Tue dies oder das‘ abgeleitetwerden. Ebenso wie sich aus Fußballspielregeln kein konkreter Spielverlaufergibt, lassen sich auch aus Menschenrechten keine definitiven Praxis-

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anweisungen konstruieren. Ähnlich wie das Kriterium der Sensibilität undder gegenseitigen Anerkennung in Interaktionen der Phantasie und Kreati-vität der Beteiligten bedarf, um Konkretisierungen zu finden und zu erfin-den, so bedürfen auch die Menschenrechte der Entwicklung von konkreten,den normativen Ansprüchen genügenden Handlungsmustern. Es ist folg-lich unangemessen, einem regulativen Kriterium vorzuwerfen, dass sich ausihm keine konkrete Praxisanweisung ableiten lässt. Derartige Kriterien be-gleiten vielmehr auf kritisch-konstruktive Weise den praktischen Vollzugund ermöglichen – ähnlich wie ein Kompass – eine bewertende Orientie-rung zwischen Selbstanspruch und Verwirklichung.

Neben dieser zentralen moralischen Bedeutung der Menschenrechte fürneuzeitliche Gesellschaften spricht zudem auch ihre thematische Nähe zubestimmten Problemfeldern Sozialer Arbeit wie dem Umgang mit Macht,dem Schutz des Individuums oder sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit fürihre ausgreifendere Berücksichtigung als ethisches Orientierungswissen.Der enge Zusammenhang von Sozialer Arbeit und Menschenrechten, wie erim Konzept der Menschenrechtsprofession (Staub-Bernasconi 1995) entwi-ckelt wurde, unterstreicht dies.

1.2 Die Bedeutung des Orientierungswissensfür die Soziale Arbeit

Als wissenschaftliche Disziplin der Philosophie führte die Ethik in derNachkriegszeit zunächst ein Schattendasein. Viele vertraten die Auffassung,dass moralische, sich privaten Entscheidungen verdankende Einstellungeneiner allgemeinen Rechtfertigung und letzten Begründung nicht zugängigseien. So dominierte ein eher an den Naturwissenschaften orientiertes Wis-senschafts- und Wirklichkeitsverständnis (Szientismus). Sein Ideal von ma-thematischer Exaktheit und Orientierung an der Empirie drängte eine wis-senschaftliche Verständigung über menschliche Handlungshorizonte eheran den Rand.

Die soziopolitisch bedeutsamen sechziger Jahre veränderten hier dieBlickrichtung des Philosophierens; die Bedeutung ethischer Reflexion tratwieder stärker in den Vordergrund (Riedel 1972/1974). Die Fach-Philoso-phie reagierte damit sowohl auf den durch die gesellschaftlichen Konflikteund Spannungen entstandenen Verständigungsbedarf als auch auf die Plu-ralisierung. Je stärker sich im Zuge dessen auch die moralischen Vorstel-lungen pluralisierten, desto spannungsreicher trafen und treffen sie in denöffentlichen, alle Menschen angehenden Belangen aufeinander. Bis heuteentspringt die Suche nach einer gemeinsamen Handlungsperspektive auch

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der Einsicht, dass die Stabilität eines Gesellschaftssystems immer eines mi-nimalen Konsenses bedarf.

Die aus der anhaltenden Pluralisierung geborene Vielfalt unterschied-licher Lebensauffassungen und der so entstehende Verständigungsbedarfgreifen auch in das berufliche Selbstverständnis von Helfenden ein. Deshalbempfiehlt sich eine zweifache Blickrichtung: (a) Soziale Arbeit muss einer-seits ihre Ziele im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen, auf Integration zie-lenden Rahmenvorstellung vor der gesellschaftlichen Öffentlichkeit begrün-den und rechtfertigen. Denn die Akzeptanz Sozialer Arbeit und ihrer Zieleist keineswegs selbstverständlich und moralisch evident. (b) Gleichzeitigmuss der moralische Pluralismus in den Perspektiven professionell Helfen-der kritisch durchdrungen und konsensorientiert bearbeitet werden. Dennder diesbezügliche – jedem Praktiker bekannte – berufsinterne Verständi-gungsbedarf besitzt für das Gelingen kooperativer Arbeitszusammenhängeerhebliche Bedeutung. Divergierende moralische Vorstellungen und ihrezugrunde liegenden Menschenbilder führen in praktischen Situationen zuganz unterschiedlichen pädagogisch-methodischen Konsequenzen und da-mit im Team häufig zu Konflikten.

Dass es zu einer Institutionalisierung des Faches ‚Ethik‘ in den Studien-gängen Sozialer Arbeit kam, ist nicht zuletzt diesem vielfachen Kommuni-kations- und Konsensbedarf geschuldet. Da das Verständnis dieses Fachesnoch stark vom traditionellen Bildungsbegriff bestimmt ist, der auch auf dieselbstbestimmte Persönlichkeit und ihre moralische Lebensführung abzielt,erscheint traditionelles ethisches Denken hier gelegentlich als praxisfernund berufsfremd. Unter dem Stichwort ‚Schlüsselqualifikationen‘ gewinnthingegen ein transformiertes Bildungsideal wieder berufliche Bedeutung.Allgemeine Kompetenzen der reflexiven Selbstklärung, des selbstständigen,nachhaltigen und wissenschaftsbasierten Lernens und Analysierens gewin-nen angesichts anhaltender Veränderungen des Berufsfeldes zunehmend anBedeutung. Bloßes Anwendungswissen erweist sich in der Sozialen Arbeitin wenigen Jahren als überholt. Auch demzufolge schwindet der scharfeKontrast zwischen selbstzwecklicher, persönlichkeitsorientierter Bildungauf der einen und nutzenorientierter Ausbildung auf der anderen Seite.

Abb. 2: Die Funktion ethischen Orientierungswissens

Intra-professionellerPluralität

Pluralismus in derGesellschaftführt zu

Ethisches Orien-tierungswissenhilft finden

IntraprofessionellerMinimalkonsens über–Zielperspektive–Handlungspraktiken–Methoden–Einstellungen–Haltungen

verlangtnach

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Vor diesem Hintergrund gilt es eine Professionalität zu gewinnen, die sichim Laufe des Berufslebens sowohl fachlich als auch ethisch immer wiederneu und selbstständig justiert und positioniert. Die Erwartung eines unmit-telbaren Praxisnutzens erweist sich demgegenüber als kurzsichtig. Da dieethischen Traditionen aufgrund ihres regulativen Charakters kein unmit-telbar verwertbares Handlungswissen stiften, ist die Enttäuschung gelegent-lich groß. Im Ergebnis vermag ethische Reflexionsleistung vermutlich keineder an sie herangetragenen divergierenden, spannungsreichen Erwartungenund Einschätzungen völlig zu befriedigen: Einmal gilt sie als politisch-agita-torisch nützlich, ein andermal als überflüssiges moralisches Gerede; hier er-scheint sie wichtig für die Legitimation der Gesellschaft, dort als hilfloseProtestkommunikation. Zudem engen die Erwartungen von Sozialunter-nehmen sie häufig auf eine wertbegründende und persönlichkeitsmotivie-rende Funktion ein. Eine kritisch auf das Ethos bezogene Ethik erfüllt dieseBedürfnisse nur bedingt.

1.3 Begründen – problematisieren – lernen – orientieren

Ethische Reflexion erweist ihre Bedeutung für ein Professionsverständnis,wenn man ihre vier zentralen Funktionen in den Blick nimmt: die Begrün-dungs-, die Problematisierungs-, die Orientierungs- und die Lernfunktion.Sie sind Dimensionen ein und desselben Vorgangs, überschneiden sichhäufig und verweisen aufeinander: Indem ich das eine tue, z.B. begründeund problematisiere, entsteht gleichzeitig das andere: das Orientieren unddas Lernen.

Die Erwartung, dass ethisches Wissen bereits eingeübte moralischeSichtweisen argumentativ stabilisieren soll, ist eine verbreitete Erwartung inder Ausbildung. Denn die moralischen Motivationen der Berufsanfänger,die auch ihre Berufswahl beeinflussten, wollen sich artikulieren. Sie sucheneine sichere Basis und erwarten von der Ethik eine stützende Funktion fürdie eigene moralische Selbstvergewisserung. Dieser menschlich nachvoll-ziehbare Wunsch birgt jedoch bereits Ambivalenzen in sich. Ethik hingegensucht zunächst den Kontrast und die Kritik zu den gewohnheitsmäßigenMoralauffassungen. Dieser Vorgang beinhaltet die untrennbare Verwick-lung von Begründung und Problematisierung. Denn nach Begründung fragtnur jemand, dem irgendetwas problematisch erscheint und dessen Erfah-rung damit fragwürdig wird. Vielleicht bemerkt er gleichzeitig, dass andereMenschen die Dinge anders sehen als er selbst. Ebenso wie es aus therapeu-tischer Sicht nicht ratsam ist, auftretende Probleme und Unsicherheitenbeiseite zu schieben, zu ignorieren oder zu verdrängen, darf auch Ethik

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nicht die moralische Selbstvergewisserung durch eng geführte Begründungstützen.

Wer ernsthaft in einen Begründungsprozess eintritt, muss sowohl die ei-genen als auch die von ihm unterschiedenen Perspektiven einer ethischenAnalyse unterziehen. Im Bezug auf sich selbst stimuliert dies eine Ausein-andersetzung mit den eigenen Erwartungshaltungen sowie die Entdeckungvielseitiger Mehrdeutigkeiten. Ethische Reflexionen führen hier oftmals zueigentümlichen Verfremdungen und Irritationen. Im ersten Schritt morali-scher Artikulation werden vielfältige Grundwerte wie z.B. Freiheit, Gerech-tigkeit usw. thematisiert, die für das eigene moralische Selbstverständnis alsbedeutsam erachtet werden. Sobald aber detaillierte Begründungen und be-griffliche Klärungen erforderlich werden, ergibt sich eine überraschende,gelegentlich unangenehme Tatsache: Die betroffenen Personen werden mitder ganzen Vielfalt möglicher Interpretationen und den sich bereits in ihrenpersönlichen Intuitionen verbergenden Uneindeutigkeiten konfrontiert. Inder gleichzeitigen Wahrnehmung andersartiger Auffassungen beginnt be-reits die Auseinandersetzung mit einem unerwarteten Pluralismus. DerWunsch nach moralischer Gemeinschaft und Harmonie erweist sich imLichte der Reflexion als ambivalent und realitätsfern.

Im bewussten Wahrnehmen und Analysieren unterschiedlicher Positio-nen entfaltet das Problematisieren seine Orientierungsfunktion: Durch dieAnalyse und Durchdringung unterschiedlicher Positionen im Prozess derBegründung gewinnt die Orientierung zwischen unterschiedlichen Hand-lungsoptionen Gestalt. In der hierin zum Vorschein kommenden Konflikti-vität widerstreitender Interpretationen steht die Legitimation oder Delegi-timation, die Akzeptanz oder Kritik des Status quo auf dem Spiel. IndemEthik durch Begründen und Problematisieren die widerstreitenden Wirk-lichkeitsdeutungen analysiert und herausarbeitet, führt sie nicht von derRealität weg, sondern in die Mehrdeutigkeit und den Konfliktcharakter derWirklichkeit ein. Damit gewinnt sie eine besondere Orientierungsfunktionim Kontext der modernen, säkularen und pluralistischen Gesellschaft. Blo-ße Aufzählungen und Aneinanderreihungen von Werten wie Freiheit,Gleichheit, Gerechtigkeit, Toleranz usw. täuschen häufig über den konflik-tuösen Pluralismus hinweg.

Gewöhnlich wird aber – genau gegenteilig – gerade die Einführung indie Mehrdeutigkeit der Realität als realitätsfremd empfunden. Da Men-schen ungern ihre eingeübten sozialen, mit ihrer Identität verwobenenWirklichkeitssichten aufgeben, tendieren sie eher zu deren Vergewisserungund Verfestigung; Korrekturen und Bearbeitungen des Gewohnten erfreuensich keiner großen Beliebtheit. Ethische Reflexion arbeitet gegen diesemenschlich verständliche Trägheit an. Sie ist besonders da bedeutsam, wosich moralische Gewissheiten in starren Sichtweisen verfestigen – dort, wo