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Stochastische Texte und Genpoesie Betrachtungen literarischer Experimente bei Bense und Bök Hausarbeit Vorgelegt am 14.08.2011 Ausarbeitung: Tabea Cornel Immatrikulations-Nummer: 334652 Studiengang: Geschichte und Kultur der Wissenschaft und Technik (M. A.) Modul MA-GKWT 4: Literatur und Wissen/Wissenschaft Technische Universität Berlin Fakultät I Institut für Philosophie, Literatur-,Wissenschafts- und Technikgeschichte Sommersemester 2011 VL: Die veränderte Welt Leitung: Prof. Dr. Hans-Christian von Herrmann
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Stochastische Texte und Genpoesie...Tabea Cornel, Sommersemester 2011 Stochastische Texte und Genpoesie 3 II Einleitung „Albeit for distinct reasons, contemporary art partakes of

Jun 29, 2020

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Stochastische Texte und Genpoesie Betrachtungen literarischer Experimente bei Bense und Bök

Hausarbeit

Vorgelegt am 14.08.2011

Ausarbeitung: Tabea Cornel

Immatrikulations-Nummer: 334652

Studiengang: Geschichte und Kultur der Wissenschaft und Technik (M. A.)

Modul MA-GKWT 4: Literatur und Wissen/Wissenschaft

Technische Universität Berlin

Fakultät I

Institut für Philosophie, Literatur-,Wissenschafts- und Technikgeschichte

Sommersemester 2011

VL: Die veränderte Welt

Leitung: Prof. Dr. Hans-Christian von Herrmann

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Tabea Cornel, Sommersemester 2011

Stochastische Texte und Genpoesie

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I Inhalt

I Inhalt ............................................................................................................................................... 2

II Einleitung ....................................................................................................................................... 3

III Stochastische Texte ........................................................................................................................ 4

III.1 Informationsästhetik ........................................................................................................... 4

III.2 Computergenerierung ........................................................................................................ 6

III.3 Teleologie ............................................................................................................................. 9

IV Genpoesie ..................................................................................................................................... 10

IV.1 Gen-Ästhetik ...................................................................................................................... 10

IV.2 Generierung ........................................................................................................................ 12

IV.2.1 „It’s a Small World After All‚ ......................................................................................... 12

IV.2.2 „Genesis‚ ............................................................................................................................ 14

IV.2.3 „Xenotext Experiment‚ .................................................................................................... 15

IV.3 Teleologie ........................................................................................................................... 17

V Literarische Experimente ............................................................................................................ 18

VI Schlussbetrachtung ..................................................................................................................... 21

VI Literatur ........................................................................................................................................ 24

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II Einleitung

„Albeit for distinct reasons, contemporary art partakes of some of the ‘fine arts,’ such as

biology, computer science, digital networking, and robotics. On the one hand, art is free

to explore the creative potential of these tools and fields of knowledge unconstrained by

their own self-imposed limits. On the other, art can offer a critical and philosophical per-

spective that is beyond their stated goals.‚1

Diese Aussage des Multimediakünstlers Eduardo Kac liefert eine Beschreibung der Be-

schaffenheit und Möglichkeiten zeitgenössischer Kunst: Sie darf Wissenschaften und neue

Technologien für ihre Zwecke nutzen, diese transzendieren, neue Perspektiven auf sie

und in ihnen liefern sowie als Kritikerin der Forschung und ihren Errungenschaften auf-

treten. In diesem Sinne sollen in der vorliegenden Arbeit zwei aus einer Vielzahl an text-

basierten Kunstprojekten betrachtet werden, welche versuchen, das kreative Potential der

ihre Zeit prägenden Wissenschaften und Technologien2 zu explorieren:

Das Hörspiel „Der Monolog der Terry Jo‚3 von Max Bense und Ludwig Harig enthält

von einem Computer erzeugte Texte, bei deren Generierung Zufallsvariablen in den Pro-

grammablauf einbezogen wurden. Diese Sequenzen stellen die Äußerungen eines Mäd-

chens dar, das als Überlebende eines Schiffsunglücks fortwährend sprechend geborgen

und von der Polizei vernommen wird. Das Werk wurde am 11.09.1968 als Sendung von

Radio Bremen und dem Saarländischen Rundfunk ausgestrahlt.4

Die Idee des „Xenotext Experiment[s]‚5 des kanadischen Poeten Christian Bök6 wur-

de 2008 unter Rückgriff auf diverse bereits veröffentlichte Projekte der Einschreibung von

Information in das Genom von Bakterien formuliert. Hier soll ein Gedicht in Form eines

synthetischen Gens in die DNA eines Mikroorganismus integriert und eine Genexpressi-

on vollzogen werden, deren Protein selbst ein codiertes Gedicht enthält.

Die genannten Projekte sollen mit den ihnen zugrundeliegenden Theorien von Litera-

tur herangezogen und im Hinblick auf Formen der Textgenerierung, auf ästhetische und

wissenschaftliche Relevanz verglichen werden. Auch die Absicht der Künstler sowie ihre

Beiträge zu wissenschaftlicher Reflexion sollen diskutiert werden. Ob diese philosophi-

sche Perspektive – wie Kac es formuliert – lediglich eine Möglichkeit oder aber eine Auf-

1 KAC 2005, S. 233–234. 2 Vgl. KAC 2005, S. 192–193, sowie BÜSCHER et al. 2004. 3 Vgl. BENSE; HARIG 1969. 4 Vgl. FRANZ et al. 2007, S. 37–38. 5 Vgl. BÖK 2008. 6 Bök spricht sich wie das englische book und ist das Pseudonym des als Christian Book geborenen Künstlers,

der seinen amtlichen Namen aufgrund der Assoziation mit der Bibel nicht gerne verwendet; vgl. VOYCE 2007.

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gabe von Kunst ist, wird nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein. Stattdessen soll

vor dem Hintergrund der technologischen Möglichkeiten und wissenschaftlichen Infra-

struktur der jeweiligen Zeit erörtert werden, inwiefern literarisches Experimentieren und

naturwissenschaftliches7 Schaffen miteinander in Wechselwirkung stehen.

III Stochastische Texte

III.1 Informationsästhetik

Zur Analyse des Hörspiels „Der Monolog der Terry Jo‚ von Harig und Bense ist die The-

orie der Informationsästhetik des Letzteren unumgänglich. Bense erweitert hierin den Be-

griff eines Textes zu einer diskreten Anordnung von materialen Sprachelementen8, die

durch eine von Interpretation, Wirkung oder die Absicht ihrer Erzeugung abstrahierende

Theorie als reale Objekte beschrieben werden sollen9. Bense richtet seinen Blick auf quan-

titative Verteilungen sprachlicher Zeichen anstatt auf grammatische Zusammenhänge

und semantische Funktionen von Wörtern. Diese werden als Außenwelt im Sinne einer

den Zeichen nicht inhärenten Zuschreibung bezeichnet, jene als Eigenwelt, als die hapti-

sche, formale oder statistische Realität von Zeichen, die an der (An-)Ordnung, Komplexi-

tät und Häufigkeit des Vorkommens der sprachlichen Elemente festgemacht wird.10 Auf

diese Weise versucht Bense, „eine objektive und materiale Ästhetik‚ zu formulieren, „die

nicht mit spekulativen, sondern mit rationalen Mitteln arbeitet‚11, d. h. Ästhetik soll als

Wissenschaft zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften konzipiert werden, welche

mit deren Methodik kompatibel ist12 und sich durch ihre empirische Überprüfbarkeit klar

von jeder Form der Metaphysik abgrenzt13. Innerhalb einer solchen Theorie soll folglich

keine Aussage über empfindsame Eigenschaften von Kunst oder Eindrücke auf Rezipie-

rende getroffen werden, sondern sie soll mathematisch exakt, objektzentriert und objek-

7 Im Folgenden werden aus Gründen der Einfachheit Disziplinen der MINT (Mathematik, Informatik, Natur-

wissenschaft, Technik) und Lebenswissenschaften unter dem Begriff Naturwissenschaft zusammengefasst. 8 Vgl. BENSE 1998a, S. 358–362; 414. 9 Vgl. BENSE 1998a, S. 257–259. 10 Vgl. BENSE 1998a, S. 343; 352-356; 377–378. 11 BENSE 1998a, S. 258. 12 Vgl. BENSE 1998a, S. 341–343. 13 Vgl. BENSE 1998a, S. 257–258; 339.

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tiv, insbesondere also von der Begrifflichkeit des Schönen losgelöst, sein14 und damit nicht

nur künstlerisches Schaffen, sondern auch fundierte Kunst-Kritik ermöglichen15, welche

einen ästhetischen Prozess erst zum Abschluss bringen könne16.

Ein weiterer für Benses abstrakte Ästhetik wichtiger Begriff ist der des Prozesses. Er

unterscheidet bei einem solchen diverse Determinierungsgrade, wobei er die Vorherseh-

barkeit aller sprachlichen Generierungsprozesse zwischen denen der Makrophysik (in

ihrer Ausprägung in hohem Grade determiniert) und der ästhetischen Prozesse (nicht

oder schwach determiniert) verortet. Je weniger ein Prozess determiniert ist, umso größer

ist nach Bense der Bedarf an seiner Realisierung, um ihn intelligibel zu machen.17

Den Begriff der Information definiert Bense als eine „mehr oder weniger unvorherseh-

bare(r) Neuigkeit eines Ereignisses oder einer Folge von Ereignissen‚18. In diesem Ver-

ständnis ist der Informationsgehalt eines Zeichenvorkommens umso größer, je unwahr-

scheinlicher sein Auftreten in dieser Kombination ist – gemessen an den Möglichkeiten,

die durch das zur Verfügung stehende sprachliche Repertoire begrenzt werden. Da der

Informationsgehalt mit dem Absinken der Determination eines Prozesses ansteigt, schlägt

Bense für die geringfügig determinierten19 ästhetischen Zustände20 die Bezeichnung „ästheti-

sche informationen *sic!+‚ vor21. Ästhetik in Konzeption von Bense besteht damit in der

Schöpfung von Innovation und der Realisierung von Unwahrscheinlichem.

14 Vgl. BENSE 1998a, S. 258. 15 „Nur eine solche rational-empirische, objektiv-materiale Ästhetikkonzeption kann das allgemeine spekula-

tive Kunstgeschwätz der Kritik beseitigen und den pädagogischen Irrationalismus unserer Akademien zum

Verschwinden bringen‚ (BENSE 1998a, S. 258). 16 Vgl. BENSE 1998c, S. 248–249. 17 Vgl. BENSE 1998b, S. 423–424; hier S. 424. Insbesondere ist ein gänzlich indeterminierter Prozess laut Bense

ungeordnet und nicht erkennbar; vgl. BENSE 1998a, S. 286–288. 18 BENSE 1998a, S. 379. 19 V. a. in der künstlerischen Verwendung von Sprache sinke durch die im Vergleich zur Alltagssprache hohe

Wahlmöglichkeit an Zeichenkombinationen die Wahrscheinlichkeit der Verwendung spezifischer Sprachele-

mente, beispielsweise durch Bildung von Neologismen oder von alltagssprachlich gesehen sinnfreien Zei-

chenkombinationen; vgl. BENSE 1998a, S. 378–381. 20 Der ästhetische Zustand eines ästhetischen Objekts oder einer Gruppe hiervon (Dinge, Ereignisse) wird von

Bense als wahrnehmbare relative und objektive Realität definiert, die von den semantischen und physischen

Eigenschaften der betrachteten Objekte unterscheidbar ist, weder subjektive Interpretation ist noch eine Rele-

vanz für den Begriff des Schönen liefert oder als allgemeingültige Festsetzung erfolgen kann. Dieser Zustand

wird von der materialen Realität der Objekte (die aber auch gedanklich sein können, nicht materiell sein müs-

sen), der ästhetischen Trägerin, klar abgegrenzt. Eine abstrakte Ästhetik enthält in diesem Sinne eine materiale

Ästhetik, geht in dieser aber nicht auf. Den Pool zur Verfügung stehender Tragender ästhetischer Zustände,

die miteinander kombiniert und verändert werden können, bezeichnet Bense als ästhetisches Repertoire. Von

diesem ist abhängig, welche ästhetischen Zustände realisiert werden können – in Form einer spezifischen

Verteilung über dem Repertoire, dem die Tragenden entnommen wurden; vgl. BENSE 1998b, S. 421–423. 21 Vgl. BENSE 1998b, S. 423–424; hier S. 424.

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III.2 Computergenerierung

Die Informationsästhetik von Bense drückt ästhetische Zustände als ästhetische Informa-

tion in Form von Zahlen aus, wobei der Schwerpunkt auf die physische Erscheinung von

Zeichen gelegt wird.22 Aus der Idee, mathematische und strukturelle Verfahren nicht nur

zur Analyse von Texten zu benutzen, sondern auch zu deren Generierung, wurde die

„künstliche(n) Poesie‚ geboren, die Bense auch als „synthetische oder sogar als technologi-

sche Poesie‚ bezeichnet.23 Die Synthese solcher Texte erfolgt unter Zuhilfenahme von Ma-

schinen, deren Aufgabe entweder darin besteht, eingegebene Daten mithilfe eines von

Menschen geschriebenen Programmes zu verarbeiten (Computer) oder sie in materialen

Text umzusetzen (z. B. Fernschreiber). Obgleich sich dieser Ablauf als zuhöchst von

menschlicher Konstruktion und Implementierung abhängig erweist, wird der Kontingenz

innerhalb des Computerprozesses explizit ein Platz eingeräumt. Diese Konzipierung von

Sprache als stochastischer Prozess bietet die Möglichkeit, neu entwickelte Technologien

zwischen eine künstlerische Idee und deren literarische Realisation zu schalten. Bei com-

putergenerierten Texten tritt ein probabilistisches Ereignis an die Stelle des kreativen Ein-

falls24, nicht schreibende Menschen, sondern von ihnen verwendete Maschinen treffen

Entscheidungen über die „ästhetische Realität‚25:

„Das Programm des synthetischen Textes sieht deshalb gerade zum Zwecke der Erzeu-

gung ästhetischer Wortfolgen ein ... Unterprogramm vor, das die Auswahl der die Sem-

antik bestimmenden Substantive, Verben usw. mit Hilfe eines ... arithmetischen Zufalls-

generators, der Zufallszahlen liefert ..., durch die dann weiterhin die Wörter der Wahl se-

lektiert werden. Diese wortbestimmenden Zufallszahlen sorgen dafür, daß in einer Satz-

struktur nicht nur konventionelle, sondern auch unkonventionelle, unwahrscheinliche

Redeweisen auftreten, die poetische Verteilungen mindestens simulieren. Demnach

könnte in Bezug auf diese Art von technischer Texterzeugung auch von simulierter Poe-

sie gesprochen werden, genauer von stochastischen Texten mit simulierter Poesie.‚26

Diese abstrakten Automaten sind damit Träger von Funktionssystemen, welche anhand

einer spezifischen Eingabe nach einem bestimmten Verfahren eine Ausgabe produzie-

ren.27 Entscheidend für die ästhetische Qualität des Textes ist der Prozess seiner Entste-

22 Vgl. BENSE 1998a, S. 257–259. 23 BENSE 1998a, S. 384. 24 Vgl. BENSE 1998a, S. 328. 25 Vgl. BENSE 1998a, S. 378–381; hier S. 379. 26 BENSE 1998a, S. 385. 27 LUTZ 2004, S. 165–168, liefert eine Beschreibung der Generierung stochastischer Texte im Rechenzentrum der

T. H. Stuttgart (1959). Er beschreibt darin die Gewinnung von Zufallszahlen als ein Rechen- und Auswahlver-

fahren, das auf Grundlage einer eingegebenen Zahl neue generiert. Diese sind Pseudo-Zufallszahlen, d. h. ihre

Verteilung erscheint trotz ihrer Gewinnung mithilfe eines arithmetischen Vorgangs rein zufällig. Prüfmecha-

nismus ist eine Gleichverteilung auf einem genügend großen Bereich der ausgegebenen Folge von Zahlen.

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hung, die Schöpfung einer neuen Ordnung aus einer ungeordneten Gleichverteilung,28

nicht das literarische Endergebnis in Form einer creatio ex nihilo.29 Laut Bense gibt es

zwei Möglichkeiten der Wirkung solcher Texte: Die einen lassen die ihnen zugrunde lie-

gende Struktur nicht erkennen, sind Annäherungen der natürlichen Sprache, die anderen

haben ihre Aussage in der Offensichtlichkeit ihrer numerischen Konstruktion.30 Letzteres

ist bei den monologischen Sequenzen von Terry Jo im betrachteten Hörspiel der Fall. Un-

ter Zuhilfenahme der Theorie stochastischer Ketten des Mathematikers Andrej A. Mar-

kov31 implementieren Bense und Harig in ihrem Hörspiel32 computergenerierte Zei-

chensequenzen mit fortschreitender Näherung an die deutsche Sprache.33 Die stochasti-

schen Texte geben die Aussage eines Mädchens wieder, das nach dem Untergang eines

Schiffes bewusstlos von einem Floß im Meer gerettet wird, aber unaufhörlich in zunächst

unverständlichen Lauten, dann aber in immer verständlicher werdenden Worten spricht.

Diese Passagen werden von einer synthetischen Stimme34 gesprochen und wechseln sich

mit Auszügen in verständlicher Sprache aus polizeilichen Vernehmungen ab.

Die Handlung des Hörspiels, welche auf einer Artikelserie zu einem nächtlichen Vor-

fall im November 1961 an der Küste Floridas basiert35, klärt sich langsam aber nicht end-

gültig auf: In einer neunstufigen Annäherung synthetischer Texte an die natürliche Spra-

che gibt die gerettete Terry Jo immer deutlichere Hinweise auf ein Verbrechen durch den

28 Vgl. BENSE 2004c, S. 110. 29 „Wenn dabei von Realisation gesprochen wird, so bedeutet das nicht mehr wie im klassischen Begriff der

Schöpfung eine Schöpfung aus dem Nichts, sondern eine Schöpfung aus einem Repertoire. Die Anwendung

der Automatentheorie auf Texte gewährt demnach weniger Einblick in den Bau der Texte selbst, ... sie be-

trachtet vielmehr die Texte vom Standpunkt ihres Entstehungsprozesses, also ihre Realisation. Abstrakt ge-

sprochen, handelt es sich ... um die Darstellung der Umsetzung eines sprachlichen Materials, eines Vokabu-

lars, in Texte. Spezielles Thema ist die Umsetzung, nicht ihr Resultat‚ (BENSE 1998a, S. 381). 30 Vgl. BENSE 2004c, S. 109. 31 Markov schuf eine Theorie stochastischer Prozesse, bei denen die Probabilität eines Ereignisses in einer

Folge nur von direkt vor ihm eingetretenen Ereignissen abhängt (vgl. v. HILGERS; VELMINSKI 2007, S. 31). Im

Jahre 1913 brachte er diese Theorie in Form einer Berechnung natürlicher Sprache zur Anwendung (vgl. MAR-

KOV 2007): Er untersuchte die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Vokalen in den ersten 20000 Buchstaben

von Aleksandr Puškins Roman „Evgenij Onegin‚. V. HILGERS 2007, S. 9, schreibt, Markovs Theorie habe „weit

reichende kulturtechnische Folgen gehabt. Sie betreffen die Entwicklung der Informationstheorie ebenso wie

die Genanalysen und Suchmaschinen unserer Tage‚. Insbesondere scheint Markov erstmals Sprache auf ihre

Physis reduziert und damit zur berechenbaren Größe gemacht zu haben (vgl. USPENSKIJ 2007, S. 93–94). 32 Die literarische Grundlage hierzu wurde von Bense bereits 1963 unter dem Titel „Vielleicht zunächst wirk-

lich nur. Monolog der Terry Jo im Mercey Hospital‚ verfasst (vgl. BENSE 1998d). Harig ergänzte den Monolog

durch die Stimmen der zum Mordfall vernommenen Personen; vgl. FRANZ et al. 2007, S. 37–38. 33 Der Kommunikationstheoretiker Claude E. Shannon benutzte ein auf Markovs Theorie basierendes Verfah-

ren erstmals, um Zeichenketten auch zu herzustellen, nicht nur, um sie zu untersuchen. Durch Einbeziehung

der mathematischen Methode in seine Informationstheorie brachte er die Markov-Ketten zur erfolgreichen

praktischen Anwendung und ließ ihre Theorie valide scheinen; vgl. v. HILGERS 2007, S. 18–19. 34 Ein sog. Vocoder übernimmt die sprachliche Realisierung; vgl. FRANZ et al. 2007, S. 37–38. 35 Vgl. BENSE; HARIG 1969, S. 58.

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Kapitän, auf dessen Schiff das Mädchen mit seiner Familie einen gemeinsamen Urlaub

verbracht hatte. Demnach ermordete jener die Familie des Mädchens sowie seine eigene

Ehefrau und brachte das Schiff anschließend zum Sinken. Die Näherung an eine Aufklä-

rung des Falls wird durch Steigerung der Ordnungen in den Markov-Prozessen zur Ge-

nerierung der Aussage des Mädchens erreicht.36 Bei vollkommenem Verzicht auf die Im-

plementierung grammatischer Strukturen wird natürliche Sprache stufenweise angenä-

hert37 und schließlich durch die Stimme eines Mädchens ersetzt. Dies bildet den Prozess

der Bewusstseinserlangung der Terry Jo nach, im Gegensatz zur maschinell erzeugten

und synthetisch produzierten Sprache der zuvor erfolgten Annäherungen.38

Bedeutung kommt hier im Prozess der Sprachentstehung, der Zeichengruppierung

zustande, sie existiert nicht unabhängig davon und kann nicht antizipiert werden. Die

ästhetische Information ist an das Auftreten und die Materialität von Zeichen gebunden,

nicht an deren Funktion im Sinne eines Verweises auf ein Signifikat. Auch die Umsetzung

als Radio-Hörspiel verdeutlicht die plötzliche Materialisierung von Information, die

buchstäblich in Wellen wie Informationsfragmente aus dem Meer in die Ohren Hörender

gelangt.39 Umso erstaunlicher ist es, dass das Hörspiel laut Bense „die eindeutige Darstel-

lung eines Falls‚ liefert40, also eine vorbestimmte Aussage treffen soll, obgleich eine solche

zumindest dem Prinzip stochastischer Texte widerspricht.

36 Die Annäherung nullter Ordnung enthält Gruppen von Buchstaben, die voneinander unabhängig in einem

gleichverteilten Zufallsverfahren in einem Computerprogramm hergestellt wurden. In der Näherung erster

Ordnung treten die Zeichen auch voneinander unabhängig auf, aber jeder einzelne Buchstabe mit einer spezi-

fischen Wahrscheinlichkeit, die der Häufigkeit seines Vorkommens in der deutschen Sprache entspricht (dazu

musste Bense offensichtlich auf bereits vorhandene Literatur zurückgreifen und unterwirft sich trotz aller

Innovativität einer durch althergebrachte ästhetische Vorstellungen hervorgerufenen Determination). Dieses

Prinzip wird für die folgenden Näherungen beibehalten und auf die Häufigkeit von Digrammen, Trigrammen

usw. im Deutschen ausgeweitet, bis die Folge der computergenerierten Texte bei einer Näherung, die etwa

einem Markov-Prozess sechster oder siebter Ordnung entspricht, endet. 37In den ersten vier Näherungen sind die Zeichengruppen durch Gedankenstriche voneinander getrennt, in

der fünften Näherung findet sich ein solcher nur zwischen der ersten und zweiten Zeichengruppe. Bereits in

der vierten Näherung finden sich korrekte deutsche Wörter, die Groß- und Kleinschreibung vernachlässigt.

Insgesamt sind dies neun von 19 Wörtern, also fast 50 % der für diese Näherung generierten Buchstabenfol-

gen. In der sechsten Näherung finden sich bereits ausschließlich korrekte deutsche Wörter. Die verständlichen

Buchstabenfolgen weisen Passungen zur Familien- und Urlaubssituation sowie zur Tageszeit des Unfalls auf;

vgl. BENSE; HARIG 1969, S. 59–62. Das Auftauchen von Begriffen, die auch im späteren Fließtext enthalten sind,

in Passagen der siebten Näherung (z. B. „citroen‚ auf S. 74, „frommage‚ und „fine‚ auf S. 75), weist jedoch

darauf hin, dass nicht alle Zeichenkombinationen computergeneriert sind; vgl. BENSE; HARIG 1969, S. 62–91. 38 Konträr dazu werden die Bezeugungen der Vernommenen immer undurchsichtiger, die Befragten trauen

sich keine klare Beurteilung der Situation zu und ihre Aussagen widersprechen einander; so wird der Kapitän

abwechselnd als Kriegsheld, Ehebrecher, Versicherungsbetrüger und Mörder bezeichnet. Die Vernehmungs-

fragmente enden mit dem Bericht über den Suizid des Kapitäns; vgl. BENSE; HARIG 1969, S. 59–91. 39 Vgl. FRANZ et al. 2007, S. 38–41. 40 BENSE; HARIG 1969, S. 58.

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III.3 Teleologie

Die Basis von Kommunikation liegt nach Benses Ansicht im „reflektierenden Urteilsver-

mögen‚. Daher soll die Sprache „in den Dienst der Urteilskraft‚ gestellt werden, um eine

bewusste Handlungsfähigkeit der Menschen zu erreichen. Hierzu müsse aber eine Aus-

wahl aus Möglichkeiten erfolgen, die zumindest diskutierbar sein sollen:41

„Man muß eine Sprache zur Verfügung halten, in der man Ja oder Nein sagen kann, in

der der Mensch als entschiedenes Wesen, nicht nur als wollendes und imitatives Wesen

erscheint. (...). Ich finde nun, daß heute der eigentliche kommunikative Zug der literari-

schen Arbeit darin besteht, mögliche Fälle von Welt, von Vorgängen, von Charakter, von

Wirklichkeit, von Vitalität, von Emotionalität zur Verfügung zu halten, um den wesentli-

chen Sinn der menschlichen Intelligenz, urteilen zu können, wachzuhalten und zu entwi-

ckeln. Urteilen setzt Diskutierbarkeit der Fälle voraus. Aber die Fälle können nur sprach-

lich gegeben werden und Urteilen ist selbst eine sprachliche Aktion. Entschiedenheit ist

entweder Ja oder Nein.‚42

Als zentrale Kompetenz des Bewusstseins sieht Bense dessen Entscheidungsfähigkeit an,

die als binäre Aktion geschildert wird. Damit sie wirken könne, benötige das Bewusstsein

ein Repertoire, das zumindest sprachlich erkennbar sein müsse; je größer, umso freier die

Wahl. Insofern wird die Sprache ein möglichkeitsgenerierendes und urteilsermöglichen-

des Werkzeug des Bewusstseins – im vorliegenden Hörspiel simuliert durch eine unbe-

wusste Maschine, der durch menschliches Bewusstsein Wahlmöglichkeiten und Entschei-

dungsalgorithmen eingegeben werden, welche in binär codierten Prozessen zu innovati-

ven sprachlichen Erzeugnissen, d. h. zu ästhetischer Information, verarbeitet werden. Im

Sinne seiner Forderung nach Kenntnis zur Verfügung stehender Möglichkeiten installiert

Bense einen Zufallsmechanismus, der zwar an einem vom Menschen eingeräumten Platz

zutage tritt, jedoch einmal gestartet in seinem Fortgang nicht determiniert ist43.

Bense baut so auf dem Fundament seiner Informationsästhetik eine Brücke zwischen

verschiedenen kulturellen Errungenschaften des Europas der 1950er und 1960er Jahre:

Ästhetik soll in computergenerierter Schöpfung von Sprache entstehen, deren Bildung

durch verschieden wahrscheinliche Kombinationen aus einem vorgegebenen Pool an

Fragmenten erfolgt. Sprache erhält in diesem Konzept eine neue Materialität, ihre Seman-

tik wird zweitrangig. Poesie findet sich bei Bense im nicht-determinierten und dennoch in

seinen Freiheitsgraden beschränkten Zusammentreffen von Wörtern.

41 BENSE 1969, S. 95. 42 BENSE 1998a, S. 404. 43 Streng determiniert bleibt aber, wo Kontingenz auftreten darf – so berichtet Elisabeth Walther, ehemalige

Assistentin Benses, von zufälligen Fehlern im Plot stochastischer Texte, die behoben wurden; vgl. WALTHER et

al. 2004, S. 140. Besonders interessant ist diese Begebenheit vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die er-

laubte Kontingenz der Programme nur auf Pseudo-Zufallszahlen basiert, der eliminierte Zufall aber echt war.

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Bense diagnostiziert „Verdichtung‚ als zentrales Merkmal der Gesellschaft seiner Zeit

und benennt „Nachrichtenwesen und Verkehr, also Informationstechniken und Kommu-

nikationsformen‚ als grundlegende Bestandteile dieses Phänomens.44 Die genannten Fak-

toren sind seiner Meinung nach sprachliche45, weshalb er gleichermaßen große Bedürfnis-

se nach und Nutzen in einer Bearbeitung sprachlicher Systeme mit naturwissenschaftli-

chen Methoden sieht. Dennoch behält Bense eine Trennung der Domänen bei und will die

klassische Literatur durch seine Form der Genese von Kunst nicht ersetzen: „Es wird nicht

behauptet, daß es sich hier um Poesie, um natürliche, menschliche Poesie im bisherigen

Sinne handle.‚46 Vielmehr will Bense die Kunst durch die Integration neuer Möglichkeiten

modernisieren und reaktionsfähig auf gegenwärtige wissenschaftliche Entwicklungen

machen. Es soll eine Theorie entwickelt werden, die auf sämtliche natürliche und kultu-

relle Objekte angewendet werden kann, die ästhetische Zustände tragen können. Damit

verknüpft er Kunst, Natur, Technik und Wissenschaft und schafft eine Möglichkeit, so-

wohl die Phänomene an den Schnittstellen der genannten Bereiche in Form moderner

Verfahren, Geräte und Wissenssysteme zu analysieren als auch den künstl(er)i(s)chen

Grund der Wissenschaften offenzulegen. Keine wissenschaftliche Theorie, keine philoso-

phische Ästhetik, keine biologische oder technologische Betrachtung allein kann diesen

Phänomenen gerecht werden.47 Wissenschaft und Kunst sind laut Bense gemeinsam an

dem Versuch beteiligt, sich die Welt bewusst zu machen, sie festzuhalten und abzubilden:

„Die Identifizierung der Welt als gegebene erfolgt unter dem kausalen Schema; die Identi-

fizierung der Welt als gemachte unter dem kreativen Schema.‚48

IV Genpoesie

IV.1 Gen-Ästhetik

Der Xenotext von Bök ist eine literarische Übung, die das ästhetische Potenzial der Genetik

mit modernen Methoden untersuchen und erfahrbar machen soll. Es soll eine lebendige,

44 BENSE 1998a, S. 340. 45 „Man kann geradezu von einer Versprachlichung der modernen Welt sprechen, die insbesondere auch die

Themenkreise der heutigen Wissenschaft ergriffen hat‚ (BENSE 1969, S. 93). 46 BENSE 1998a, S. 387. 47 Vgl. BENSE 1998b, S. 443, sowie v. HERRMANN 2004, S. 156. 48 BENSE 1998a, S. 285; vgl. auch BENSE 1998a, S. 403–404, sowie BENSE 1949, S. 56.

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Stochastische Texte und Genpoesie

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in einen Organismus integrierte Form des Gedichts sein49, das einer Beschäftigung mit

praktischen Möglichkeiten der Biochemie und -technologie dienen soll.50 Bök selbst be-

zeichnet sein Vorhaben als „unorthodox‚51, sieht es aber als probates Mittel an, um die

Grenzen der Poesie über die Barrieren der in Büchern niedergeschriebenen Sprache aus-

zudehnen. Um das zu erreichen, soll durch den Xenotext die Sprache der Genetik mit den

poetischen Vektoren ihres eigenen Diskurses infiziert werden – mit anderen Worten: Die

Sprache der Genetik wird zur Grundlage ihrer eigenen Poesie, ihr Ausdruck, ihr Wesen

wird für eine Intrusion in sich selbst und eine Expression aus sich heraus verwendet. Poe-

sie kann sich nach Bök auf diesem Wege der Technologie der Jahrtausendwende anpassen

und Debatten über die Zukunft von Wissenschaft und Poesie anstoßen.52

Bök möchte mithilfe des Xenotexts bisher völlig unabhängig voneinander existierende

Forschungsrichtungen verknüpfen: Das ästhetische Potenzial literarischer Genetik soll

untersucht und simultan eine Möglichkeit geschaffen werden, die Methoden zur biolo-

gisch-genetischen Einschreibung von Daten zu verbessern, welche dann in der Krypto-

graphie, Epidemiologie und in der Landwirtschaft genutzt werden könnten.53 Doch nicht

nur diese Dimension, sondern auch die schiere Macht über das Leben und seine Prozesse

veranlasst den Poeten zu seinen Unternehmungen:

„< the genome can now become a vector for modes of artistic innovation and cultural

expression. In the future, genetics might lend a possible, literary dimension to biology,

granting every geneticist the power to become a poet in the medium of life. In this spirit,

the Xenotext Experiment is a literary exercise that explores the aesthetic potential of ge-

netics in the modern milieu, doing so in order to make literal the renowned aphorism

that ‘the word is now a virus’.‚54

Über eine Integration der Poesie in den Lauf des Lebens sowie eine Teilhabe der poetisch

Tätigen am Prozess der Schöpfung neuen Seins hinausgehend beschäftigt sich Bök zudem

mit dem Obskuren des Genoms. So bezeichnet er dieses zunächst als Flaschenpost, welche

auch über die Dauer menschlicher Existenz hinaus eine Botschaft der irdischen Zivilisati-

on übermitteln könne,55 und möchte weiterhin eine in den Bausteinen des Lebens verbor-

gene Schönheit entdecken, die seiner Meinung nach lesbar wird, sobald man sich auf die

49 BÖK 2008, S. 229, schreibt: „‘xenotext’ – a beautiful, anomalous poem, whose ‘alien words’ might subsist, like

a harmless parasite, inside the cell of another life-form ... I might compose an example of such ‘living poetry’‚. 50 Vgl. BÖK 2008, S. 229. 51 BÖK 2008, S. 230. 52 Vgl. BÖK 2008, S. 230–231. 53 Vgl. BÖK 2008, S. 230. 54 BÖK 2008, S. 227; die letzten Worte referieren dabei auf William S. Burroughs‘ „The Ticket That Exploded‚. 55 „... such a poem, stored inside the genome of a bacterium, might conceivably outlast terrestrial civilization

itself, persisting like a secret message in a bottle flung at random into a giant ocean‚ (BÖK 2008, S. 231).

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Suche nach ihr begibt56. Eine Sichtbarmachung von ästhetischem Potenzial, das laut Bök

nicht nur dem Leben, sondern auch der Wissenschaft innewohnt, soll innerhalb seines

literarischen Projektes erfolgen und die Macht von Sprache verdeutlichen.57 Diese Kausa-

lität von Sprache für das Erkennen einer verborgenen und auf innovative Weise geschrie-

benen Poesie erinnert an das Anliegen Benses und dessen Informationsästhetik.

IV.2 Generierung

Verweise von Bök auf die Arbeiten von Pak Chung Wong, Kwong-kwok Wong, Harlan

Foote58; Eduardo Kac59 u. a. machen deutlich, dass der Xenotext keine wirklichkeitsferne

Zukunftsvision, sondern eine realisierbare wissenschaftliche Aufgabe ist, die Bök sich

gestellt hat. Durch die Projekte von Wong/Wong/Foote und Kac, die nachfolgend vor ei-

ner Darstellung von Böks Vorhaben dargelegt werden sollen, ist bekannt, dass textuelle

Information in DNA eingeschrieben werden kann, in lebenden Zellen eine immense An-

zahl an Zyklen der Mitose überleben und später wieder entschlüsselt werden kann.

IV.2.1 „It’s a Small World After All“

Im Rahmen des Projekts von Wong/Wong/Foote wurde der Text des Liedes „It's a Small

World After All‚ in das Genom des multiresistenten Bakteriums Deinococcus radio-

durans eingeschrieben. Das Ziel war, einen günstigen und kompakten Datenspeicher her-

zustellen, mithilfe dessen Informationen über kulturelle Errungenschaften dauerhaft er-

halten werden können60. Zur praktischen Realisierung musste zunächst ein Code entwi-

ckelt werden, der es ermöglichte, auf die aus verschiedenen komplementären Basenpaa-

ren zusammengesetzte Doppelhelix der DNA Buchstaben des lateinischen Alphabets zu

schreiben. Ähnlich wie im Binärsystem des Computers wurden Schriftzeichen des Ameri-

can Standard Code for Information Interchange (ASCII) durch Triplets der Basen Adenin

(A), Cytosin (C), Guanin (G) und Thymin (T) codiert, aus denen DNA-Stränge sich zu-

sammensetzen. Je nach Abfolge der einzelnen Basen konnte ein anderes ASCII-Zeichen

56 „I want to convey the beauty of both the poetic text and its biotic form. (...) [B]uried within the building

blocks of life, there really does exist an innate beauty, if not a hidden poetry – a literal message that we might

read, if only we deign to look for it‚ (BÖK 2008, S. 230–231). 57 Vgl. BÖK 2008, S. 231. 58 Vgl. WONG et al. 2003. 59 Vgl. KAC 2005. 60 Dieser Weltuntergangsgedanke ist auch Bök selbst nicht fremd: „I believe that poetry needs itself to address

to the longterm timeline of our aesthetic evolution—to think beyond the formal limits of our extinction in

order to offer the future a cultural heritage more noble than our crimes against the environment‚ (BÖK 2011a).

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auf einem Plasmidring codiert werden, der anschließend in die DNA des Wirts einge-

bracht wurde. So stand z. B. „AAA‚ für die Zahl „0‚, „AGG‚ für den Buchstaben „A‚ und

„GCG‚ wurde als Komma gelesen. Das Genom der verwendeten Bakterien war zuvor

bereits gänzlich sequenziert worden, was Wong/Wong/Foote das Auffinden zur Speiche-

rung geeigneter DNA-Abschnitte erleichterte. Die Sequenzen mussten so ausgewählt

werden, dass sie weder Exons – ergo möglicherweise Grundlage lebenswichtiger Funkti-

onen des Bakteriums – waren noch eine hohe Anfälligkeit für Mutationen im Replikati-

onsprozess aufwiesen. Die Anzahl der möglichen Abschnitte im Bakteriengenom wurde

somit drastisch reduziert. Dennoch war es aufgrund der enormen Länge eines DNA-

Strangs nötig, Hilfen zur Lokalisierung der gespeicherten Information einzubauen: eine

vorgegebene Länge der synthetischen Sequenz und Markierungen für Anfang und Ende

des eingeschriebenen Textes. Gewisse Basentripletts fungierten als Stopp-Codons, d. h. sie

beendeten die Translation, sodass keine Expression der synthetischen Sequenzen statt-

fand, deren Produkt sich schädlich auf Wirt und Text hätte auswirken können.

Das Ergebnis des Projekts war die Erkenntnis, dass mit einem leistungsfähigen In-

dexsystem in Bakterienpopulationen große Mengen an Information gespeichert werden

können, indem den Individuen verschiedene Textsegmente eingeschrieben werden. Als

Problem blieb die Zerstörung der Information durch zufällige Mutationen bestehen, die

aber durch natürliche Mechanismen der Detektion und Reparierung in den Organismen

kaum Auswirkungen zeigten: Für etwa 100 Generationen des Bakteriums konnte die Ab-

schreibung getestet und die Information in einem biochemischen Prozess extrahiert und

maschinell unverändert gelesen werden. Anwendungsmöglichkeiten benannten Wong/

Wong/Foote mit der Signatur von Organismen, der Kontrolle von Populationen und der

effizienten Informationsübermittlung61: in der Agrarindustrie zum Schutz vor Saatgutpi-

raterie, im Umweltschutz zur Bestimmung der schädlichen Wirkung von Stoffen oder der

Überwachung gefährdeter Arten – aber auch mit einer Übermittlung von Botschaften

über die Dauer der menschlichen Existenz hinaus.62 Das Projekt verfolgte also rein prag-

matische Ziele, wurde aber zur wichtigen Grundlage für Böks Arbeiten an Genpoesie.

61 Vgl. WONG et al. 2003, S. 98. 62 Vgl. hierzu auch DAVIES 2004, der nicht ausschließt, in hochgradig konservierten Introns Botschaften von

extraterrestrischer Intelligenz zu finden. Er glaubt, dass diese mutationsarmen und nicht-codierenden DNA-

Segmente von Außerirdischen bereits vor Myriaden Jahren dazu genutzt worden sein könnten, Nachrichten

an Erdbewohnende zu hinterlassen.

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IV.2.2 „Genesis“

Das Projekt von Kac, auf welches Bök sich stützt, erhielt den Titel Genesis63. Es handelte

sich bei dieser Installation um eine in den Jahren 1998-1999 erfolgte und weltweit erste

Umsetzung eines transgenen Kunstprojektes. Namensgeberin war die Schöpfungsge-

schichte im biblischen Buch Genesis als Prozess der Umformung von Materie. Die Schaf-

fung eines artifiziellen Gens und dessen Mutation in biologischen Prozessen sollten sicht-

bar gemacht sowie eine Analogie zwischen biologischen und computerbasierten Prozes-

sen verdeutlicht werden. Dazu wurde ein codierter Bibelvers64 in einen DNA-Strang ein-

geschrieben und dieser in einen Mikroorganismus implantiert. Das Bakterium wurde

während der Ausstellung durch Mausklicks Besuchender mutagener Strahlung ausge-

setzt, um der biblischen Botschaft symbolisch durch ihre zufällige Weiterentwicklung die

Beständigkeit zu nehmen. Sowohl der Zugriff auf den Bibeltext als auch seine Überset-

zung in den von Kac entwickelten Code und die Weiterleitung der Übersetzung in eine

Gen-Sequenz an ein DNA-Synthese-Labor fanden unter Nutzung des Internets statt. Die-

ses Vorgehen symbolisiert eine Loslösung von der Physis sprachlicher Zeichen, wie sie

aus Büchern bekannt ist und in vielfach verstärkter Form mit der materialisierten Sprache

im synthetisierten Protein wieder zutage trat.

Als Ziel seines Kunstprojektes nannte Kac die Vermittlung der Idee, dass Leben nicht

auf einen biochemischen Prozess reduziert werden kann, sondern als komplexes System

angesehen und zwischen Glaubenssystemen, ökonomischen Prinzipien, gesetzlichen Er-

lassen, politischen Entscheidungen, wissenschaftlichen Gesetzen und kulturellen Kon-

strukten verortet werden müsse.65 Analog zur schöpferischen Tätigkeit eines Computers

durch die Realisierung einer Möglichkeit von mehreren (un-)wahrscheinlichen Ereignis-

sen in Benses stochastischen Texten verglich Kac das Schaffen transgener Kunst mit Pro-

grammierung: „The artist literally becomes a genetic programmer who can create life

forms by writing or altering a given sequence.‚66 Zentral für Genesis war die Generierung

63 Vgl. KAC 2005, S. 249–263. 64 Dies ist 1 Mose 1,28: „Let man have dominion over the fish of the sea, and over the fowl of the air, and over

every living thing that moves upon the earth.‚ Kac verwendete den Vers in Morse-Code, der nach einem

eigens für dieses Projekt entwickelten Schema in eine Abfolge der Basen A, C, G, T übersetzt wurde. Dieser

Code wurde gewählt, um aufzuzeigen, welche Kontinuität zwischen Glaubenslehren, Rassismus, Kolonialis-

mus und Imperialismus sowie der heutigen reduktionistischen Vorstellung von Leben als Genmaterial und

deren Auswirkungen auf das soziale Leben besteht (vgl. Fußnoten 1 und 2 der angegebenen Literatur). Au-

ßerdem sollte die Verwendung des Morse-Codes den Übergang zum Informationszeitalter bezeichnen; vgl.

KAC 2005, S. 249–254. Für das Projekt „Move 36‚, verwendete auch Kac ASCII; vgl. KAC 2005, S. 295–298. 65 Vgl. auch REICHLE 2002, S. 7–8. 66 KAC 2005, S. 242–243.

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einer innovativen Kombination von Buchstaben – hier in Form von Basen als Bausteine

des Lebens, bei Bense ähnlich als Mikroelemente sprachlicher Kommunikation. Die Varia-

tionsmöglichkeiten wurden in beiden Fällen vom Menschen beherrscht, aber waren mit

der Auslösung des stochastischen Prozesses in ihrer Realisierung nicht mehr determiniert.

Ein weiteres Kunstprojekt von Kac, das transgene, fluoreszierende Kaninchen „GFP

Bunny‚67, wies eine andere Konzeption von Ästhetik auf. Im Gegensatz zur Abhängigkeit

von Besuchenden der Installation68 und der Auswirkung der mutagenen Strahlung schuf

Kac das Kaninchen bewusst nach ästhetischen Gesichtspunkten; es war keine Realisie-

rung eines rein stochastischen Ereignisses, sondern die Umsetzung menschlichen Willens

und spezieller Vorstellungen.69 Derartiges Vorgehen kann nach Kac eine Möglichkeit zur

Wiedergewinnung der biologischen Vielfalt auf der Erde darstellen.70 Ästhetik entstand

hier nicht – wie bei Bense – im Prozess der Generierung, sondern war ein feststehendes

Konzept, nach dem die transgene Kunst geformt wurde.71

In allen beiden Projekten erhob Kac keine Ansprüche auf die Praktizierung einer lite-

rarischen Form der Ästhetik. Er wollte stattdessen die Fragilität der Grenze zwischen

körperlichem Leben und digitaler Information verdeutlichen sowie eine Reflexion der

Wissenschaften und der Gesellschaft über technische Möglichkeiten und deren Auswir-

kungen auf Beschaffenheit und Wahrnehmung menschlicher Körperlichkeit und Soziali-

sierung anstoßen72 – ein Gedanke, der sich in abgewandelter Form bei Bök wiederfindet.73

IV.2.3 „Xenotext Experiment“

Für die Realisierung seines Vorhabens, einen buchstäblich fremdartigen Text zu verfas-

sen, wurde Bök die Unterstützung und Nutzung von universitären Laboranlagen ge-

währt. Dort soll ein kurzes, codiertes Gedicht als Gen synthetisiert, dieses in ein Bakteri-

um eingebracht und der Fortgang des Experiments publiziert werden. Erst im Anschluss

soll aus und mit den bis dahin rein biochemisch betrachteten Ergebnissen ein Kunstpro-

67 Vgl. KAC 2005, S. 264–285. 68 Diesen war es freigestellt, den bereits erwähnten Mausklick zu tätigen – oder auch nicht. 69 VELMINSKI 2007 liefert eine Betrachtung der Gesetze der Vererbung unter Zuhilfenahme der Markov-Ketten

– eine interessante Lektüre an der Schnittstelle der Methoden von Kac und Bense. 70 Vgl. KAC 2005, S. 236–237. 71 Vgl. REICHLE 2002, S. 7–8. Interessant ist, dass Kac sich den gängigen ästhetischen Maßstäben dennoch wi-

dersetzte und einen schockierend fremdartigen Organismus entstehen ließ. Vergleichbar ist dies mit den un-

verständlichen Buchstabengruppen in Benses stochastischen Texten, deren Generierung Wahrscheinlichkeits-

verteilungen einzelner Buchstaben unter Rückgriff auf existente deutsche Literatur zugrunde liegen. 72 Vgl. KAC 2005, S. 254, sowie REICHLE 2002, S. 6. 73 Hier im Hinblick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst; vgl. BÖK 2008, S. 230–231.

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jekt entstehen. Im Unterschied zu den bisher dargelegten Arbeiten ist die genetische Ex-

pression des von ihm geschriebenen Textes zentraler Bestandteil von Böks Projekt: Das

Gen soll vom Wirt in ein für seinen Organismus unschädliches und überlebensfähiges

Protein umgesetzt werden, dessen biochemische Mikroelemente ein eigenes codiertes

Gedicht formen. Das Ergebnis dieses literarischen Projekts ist folglich zugleich ein Text,

seine Speicherung und die Genese eines Poesieproduktionsapparates. Böks Kunst soll sich

hier ihr eigenes Museum erschaffen und zur Kunstschöpferin werden.74

Bök teilt die Konzeption von Information als das Innovative oder Überraschende75, wie

dies bereits für Benses Informationsästhetik erläutert wurde. In diesem Sinne legt er Wert

darauf, der erste Schriftsteller zu sein, welcher einen Mikroorganismus herstellt, der selbst

poetisch aktiv wird.76 Bök hat nach eigenen Angaben lange Zeit damit verbracht, eine Ni-

sche zu finden, in der er wichtige, epistemische Beiträge zur Entwicklung der Literatur leis-

ten könne.77 So beschäftigt er sich bereits seit dem Jahre 2002 mit dem Xenotext.78

Anfängliche Überlegungen über den Inhalt des Gedichts sind inzwischen konkreti-

siert, nicht aber publiziert.79 Dem Ziel, seinen Text in das bereits von Wong/Wong/Foote

verwendete extremophile Bakterium Deinococcus radiodurans zu integrieren, ist Bök

nach eigenen Angaben im April 2011 bereits sehr nahe gekommen: Das von ihm entwor-

fene Gen X-P13 wurde nach diversen Tests und Simulationen bereits in die DNA einer

Population von E. coli-Bakterien eingebracht. Die erfolgreiche Synthese des auf Grundla-

ge von X-P13 synthetisierten Proteins 13 führt in den Organismen zu einer roten Fluores-

zenz.80 In einem weiteren Arbeitsschritt wird nun versucht, X-P13 ins Genom des Zielor-

ganismus Deinococcus radiodurans einzubringen81. Falls auch das gelingen sollte, will

Bök zur Phase der künstlerischen Präsentation seiner Ergebnisse übergehen: Geplant sind

die Erstellung eines poetischen Handbuchs mit dem Text des Gedichts sowie eine Mono-

graphie zum Experiment mit Fotografien, biochemischen Daten, Tabellen und Grafiken

74 Vgl. BÖK 2008, S. 229. 75 Vgl. VOYCE 2007. 76 Vgl. SILLIMAN 2011b. 77 Vgl. BÖK 2001, sowie VOYCE 2007. 78 Vgl. BÖK 2011b. 79 Bekannt ist, dass der Text eine Länge von ca. 50 Wörtern aufweisen und inhaltlich die Beziehung von Spra-

che und Genetik betreffen, selbstreflexiv und selbstanalytisch sein soll; vgl. BÖK 2008, S. 229–230. Außerdem

werden die ersten Worte des Gedichtes, „any style of life/is prim‚, Böks Absicht nach im Protein zu „the faery

is rosy/of glow‚ umgesetzt; vgl. BÖK 2011b. 80 Vgl. BÖK 2011b. 81 Eine Aufgabe, die sich offensichtlich schwieriger gestaltet als bei E. coli und nach Böks Planungen einige

wenige weitere Monate – gerechnet von April 2011 aus – in Anspruch nimmt; vgl. BÖK 2011b. Beachtenswert

ist auch eine Video-Sequenz, die auf der hier angegebenen Internetseite verlinkt ist.

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Stochastische Texte und Genpoesie

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zur Illustration der Resultate. Diese Zusammenstellung soll der Öffentlichkeit eine na-

turwissenschaftliche Untersuchung und Betrachtung des Gegenstandes ermöglichen.82

IV.3 Teleologie

In den vorangegangenen Beispielen wurde erläutert, wie die Biochemie von Lebewesen

Künstlern und Wissenschaftlern zum potentiellen Schreibstoff wird. Das Genom ist nicht

nur bestimmend für Entwicklung und Fortbestehen eines Organismus, sondern auch rich-

tungsgebend für bisher ungeahnte Formen der künstlerischen Innovation und des kultu-

rellen Ausdrucks.83 Sprache ist Information im Sinne von Daten, die gespeichert und wei-

tergegeben werden können, aber auch anfällig für Störungen in Form von unerwünschten

Mutationen sind. Ähnlich wie bei Bense räumt Kac dem Zufall durch die Integration

spontaner Genmutationen in sein Projekt Genesis einen Ort ein. Anders konzipiert ist das

Vorhaben von Wong/Wong/Foote – hier nimmt der Zufall eher die Rolle der unerwünsch-

ten Plot-Fehler beim Druck stochastischer Texte in der Gruppe um Bense84 ein.

Bök klammert die Möglichkeit unvorhergesehener Mutationen in seinem Xenotext

komplett aus. Eine Replikation des Gens X-P13 oder seine Expression in Form des Pro-

teins 13 mit fehlerhaftem, d. h. grammatikalisch oder orthographisch inkorrektem, Text

käme einem Scheitern seines Vorhabens gleich.85 Diese Rigidität entsteht aus Böks An-

spruch an sein Projekt: Er sieht sich selbst in erster Linie als (natur-)wissenschaftlicher

Experimentator, der die Weiterentwicklung wissenschaftlicher Möglichkeiten voran-

bringt, nicht als Künstler. Erst im Anschluss an seine biochemischen Aktivitäten, in der

Veröffentlichung seiner Ergebnisse, will Bök genuin künstlerische Elemente integrieren.86

Dieses Vorgehen entspricht nicht ganz der von ihm geäußerten Absicht, zwei bisher

unabhängig voneinander existierende Forschungsrichtungen durch den Xenotext zu ver-

knüpfen: Angeblich plant Bök, das ästhetische Potenzial der literarischen Genetik zu un-

tersuchen und simultan die Methoden zur genetischen Einschreibung von Daten zu ver-

bessern, welche in der Kryptographie, Epidemiologie und Landwirtschaft genutzt werden

sollen.87 An anderer Stelle schreibt Bök, er wolle die Poesie als maßlose Übertreibung der

82 Vgl. BÖK 2008, S. 229. 83 Vgl. BÖK 2008, S. 228–229. 84 Vgl. Fußnote 43 in der vorliegenden Arbeit. 85 Vgl. SILLIMAN 2011a. 86 Vgl. BÖK 2008, S. 229. 87 Vgl. BÖK 2008, S. 230.

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Stochastische Texte und Genpoesie

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Naturwissenschaft konstruieren, anstatt sie dieser diametral gegenüberzustellen.88 Viel-

mehr scheint es jedoch, als sehe er die eigenhändige naturwissenschaftliche Tätigkeit

nicht nur als unerlässliches Mittel auf dem Weg zu moderner und zeitloser Poesie89, son-

dern gar als prestigeträchtigeres Objekt als eine solche90 an.

V Literarische Experimente

Durch die Konzipierung von Sprache als stochastischer Prozess gelingt Bense nicht nur

eine Technisierung der Kunst, sondern er generiert eine neue Form des Experiments, das

sich in seinem Aufbau radikal von dem der Naturwissenschaften unterscheidet: Anstatt

unter größtmöglichem Ausschluss unkontrollierbarer Faktoren nach Naturgesetzen zu

suchen, werden bereits bekannte Regelmäßigkeiten in der menschlichen Sprache mathe-

matisch analysiert und ihre Elemente aleatorisch neu kombiniert. Ziel dieses theorieba-

sierten, aber zufallsgeleiteten literarischen Experiments sind nicht Sinn oder Verständ-

lichkeit des produzierten Textes, sondern die Methode des Prozesses, welche die Grenzen

zwischen Kunst und Technik, Ästhetik und Information aufhebt.

Auch Bök hält es für fruchtbar, in der Poesie Methoden der Naturwissenschaften zu

verwenden und sich in ihre Diskurse einzubringen. Grund für diese Auffassung ist die

seines Erachtens der Kunst und Naturwissenschaft gemeinsame epistemologische Aktivität,

welche Entdeckungen und Innovationen zutage bringe und daher das Engagement der

Literatur in naturwissenschaftlichen Experimenten rechtfertige.91 Diese hätten per se keine

politischen oder ethischen Implikationen92; so sieht er auch seine Bemühung um den Xe-

notext nicht als Aktivismus, sondern als konzeptuelles Experiment an, das er mit der Ar-

beit interdisziplinärer wissenschaftlicher Forschungsgruppen vergleicht. Sein Projekt ha-

88 Vgl. VOYCE 2007. 89 Bök dazu in SILLIMAN 2011b: „... the artistic exercise requires that I, in fact, become a molecular biologist‚,

und in BÖK 2001: „Recent, poetic trends suggest that, in order to avoid sounding completely outdated, many

poets may have to learn a new catechism, acquiring competence in domains far beyond the purview of litera-

ry expertise. Poets may have to become advanced typesetters and computer programmers ... Poets may have

to learn the exotic jargon of scientific discourses just to make use of a socially relevant lexicon, ... poets may

have to take refuge in a new set of aesthetic metaphors for the unconscious, adapting themselves to the me-

chanical procedures of automatic writing, aleatoric writing, and mannerist writing – poetry that no longer

expresses our attitudes so much as it processes our databanks‚. 90 Vgl. die Debatte zu der geringen Zahl an ihn naturwissenschaftlich unterstützenden Personen: SILLIMAN

2011b. Des Weiteren Bök in VOYCE 2007: „... science being our most important cultural activity as a species ...‚. 91 Vgl. VOYCE 2007. 92 Vgl. VOYCE 2007.

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be eine Verbesserung der Anwendungsmöglichkeiten der von ihm verwendeten Theorien

durch unspezifisches Experimentieren93 zum Ziel und solle mit seinem künstlerischem

Output der Entdeckung bislang unbekannter Charakteristika von Sprache dienen94.95

In umgekehrter Weise sieht Maarten Bullynck in der Anwendung von Markovs The-

orie stochastischer Ketten auf Texte eine „Stärkung mathematischer Wahrheiten‚ durch

ihre Verwendung in der Literatur.96 Markov selbst97 – und nicht zuletzt auch Bense – hat

in dieser Vorstellung eine mathematische Theorie mit Mitteln nicht-exakter Wissenschaft

experimentell überprüft: Die Validität der Markov-Ketten wird durch kulturelle Erzeug-

nisse gestützt, falls diese einer natürlichen Sprache besonders nahe kommen. Laut Bense

soll die Verwendung von Sprache theoretisch fundiert sein und durch Experimente auf

das wissenschaftliche und kulturelle Niveau der Zeit abgestimmt werden; insofern ver-

schmelzen in der Sprache Literatur (Poesie) und Wissenschaft (Theorie).98

Unklar bleibt, ob Bense die Poesie von Bök als solche anerkennen würde – ist in sei-

ner Vorstellung doch das Ziel ästhetischen Schaffens, Formen der Determination zu

überwinden. Ein kreativer künstlerischer Prozess zeichnet sich nach Bense dadurch aus,

dass er materiale Gegebenheiten in einer innovativen oder unerwarteten Art und Weise

zusammenfügt oder erschafft: Aus einem Repertoire physische Elemente auszuwählen

und anzuordnen, sie auf diese Weise zu Trägerinnen ästhetischer Zustände zu machen,

sei Kunst.99 Umso spannender liest sich Böks Verteidigung gegen einen Angriff, er sei

nicht im eigentlichen Sinne schriftstellerisch aktiv, sondern nur Auftraggeber einer Pro-

teinbiosynthese. Bök kontert, seine literarische Aktivität sei eine Antwort auf die bioche-

mischen Beschränkungen, die ihm durch den Zielorganismus auferlegt würden, aber

auch unter dieser Einschränkung sei er selbst der Schriftsteller, der vom gewählten Bakte-

rium Anweisungen des Möglichen erhalte, nicht ein Techniker, der lediglich einen Plot im

93 Wie offen diese Suche bei einem codierten Text von wenigen Wörtern Länge, der über den Zeitraum eines

Jahres genauestens konstruiert wurde, wirklich sein kann, sei an dieser Stelle in Zweifel gezogen. 94 Vgl. VOYCE 2007. Kac – seinerseits allerdings nicht Poet – bezieht diese Forderung nicht auf Sprache allein,

sondern auf unsichtbare Charakteristika menschlicher Lebenswelten generell: „More than making visible the

invisible, art needs to raise our awareness of what firmly remains beyond our visual reach but, nonetheless,

affects us directly‚ (KAC 2005, S. 236). 95 Vgl. BÖK 2008, S. 230. 96 BULLYNCK 2007, S. 159. 97 Hierzu auch v. HILGERS 2007, S. 14: „Markov tat sich keineswegs leicht damit, das strukturelle Angebot der

Mathematik in Hinblick auf seine empirische Anwendbarkeit zu legitimieren. (<) Um dennoch sein Wahr-

scheinlichkeitsmodell der Ketten auf die Probe zu stellen, griff er zum Bücherschrank. (...) Markov hat damit

< das Buch als ein physikalisches Objekt begriffen.‚ 98 Vgl. BENSE 1969, S. 96–97. 99 Vgl. BENSE 1998a, S. 288–289.

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Wirt des X-P13 starte.100 Innovativ ist dabei aber lediglich Böks Schreibzeug, nicht das

Zustandekommen unwahrscheinlicher Kombinationen von Sprachelementen.

Ungeachtet dessen, ob aleatorische Elemente in die Herstellung eines Gedichts einge-

hen oder nicht, zeigt sich bei beiden vorgestellten Poeten ein deutlicher Schwerpunkt auf

dem Akt und der Form der Textgenerierung anstatt auf dem literarischen Endergebnis in

seiner rein textuellen oder gar semantischen Dimension. Unter dem Einsatz modernster

technischer Möglichkeiten der Leitwissenschaft ihrer Tage treiben Bense und Bök enor-

men zeitlichen und finanziellen Aufwand, um ihre Vorstellungen in eine dem genutzten

Medium angepasste imperative Sprache zu übersetzen und in einen sinnlich erfahrbaren

Text umzusetzen. Aufgrund der recht strikt determinierten Ausgänge101 sowie der zuvor

erfolgten eingehenden theoretischen Beschäftigung mit ästhetischen und epistemologi-

schen Konzeptionen können diese literarischen Projekte nicht als exploratives Experimentie-

ren im Sinne von Friedrich Steinle102 oder gar von Richard M. Burian103 bezeichnet werden,

gehen aber doch weit über die Vorstellung eines Experimentalromans104 von Riccardo Nico-

losi105 hinaus. Was bei Bense und Bök geschieht, ist nicht – wie Nicolosi seinen Ansatz

formuliert – Experimentieren in der Literatur, sondern mit ihr; genauer: mit den Mitteln

der Literatur. Vermutlich existiert bisher noch keine Bezeichnung für das in einem Hybrid

aus Kunst und Wissenschaft betriebene Experiment, dem es weder um die Entdeckung

oder Beziehung wissenschaftlicher Größen noch um die Formulierung einer Theorie geht,

sondern um das Finden und Testen neuer Möglichkeiten zur Verwirklichung der Katego-

rie Innovation. Daher sei an dieser Stelle der Vorschlag gemacht, solche Experimente unter

dem Begriff der Methodenexploration zu fassen.

100 Vgl. SILLIMAN 2011b. 101 – Bök hat sich durch vielfältige Überlegungen und Simulationen davon überzeugt, welcher Text welche

Genexpression erfährt; Bense implementierte eine beschränkte Zahl an möglichem Zeichenoutput unter

Kenntnis der jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit – 102 Exploratives Experimentieren ist laut STEINLE 1997 eine theorieoffene Form der Suche nach Gesetzmäßigkeiten

und Beziehungen von Größen, deren Existenz bereits bekannt ist oder vermutet wird. 103 BURIAN 1997 fasst den Begriff weiter: Er versteht unter explorativem Experimentieren ein von großer Metho-

denoffenheit gekennzeichnetes Vorgehen zur Bestimmung relevanter Größen in Bezug auf eine wissenschaft-

liche Fragestellung, der (noch) keine formulierbare Theorie zugrunde liegt. Ziel dieser Sondierung eines un-

bekannten Feldes unter Verwendung eines breiten technischen Repertoires ist das Schaffen einer Wissens-

grundlage zur weiteren Erkundung von neuen Objekten wissenschaftlicher Forschung. 104 – oder Experimentalgedichts – 105 NICOLOSI 2010 begreift einen Experimentalroman als narrative Modellierung der Welt, in welchem eine Aus-

gangssituation leicht variiert und das Funktionieren der Erzählung in ihren möglichen Weiterentwicklungen

beobachtet wird. Diese Form des Experiments soll Schriftstellenden ein literarisches Gestaltungspotenzial

liefern und könne ihnen zur Lehre dienen, aber keiner Form von naturwissenschaftlichem Anspruch genügen

oder gar einen solchen auf empirische Gültigkeit der durch sich erzielten Resultate erheben.

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Stochastische Texte und Genpoesie

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VI Schlussbetrachtung

Was die hier dargestellten poetischen Werke von Bense und Bök eint, liegt neben Teilen

ihrer Konzeption von Ästhetik und Experiment in einer Vision der Zukunft der Informa-

tions- und Naturwissenschaften, die Mittel und Gegenstand der erwähnten Kunstprojekte

sind. Bök selbst sieht eine Fusion der Computer- und Gentechnologien im Rahmen einer

neuen Superwissenschaft voraus106, während Kac von einer Integration der biotechnologi-

schen in die Informationswissenschaften ausgeht107. Klar wäre in beiden Fällen, dass ein

solcher Wandel nicht nur den Begriff der visuellen Künste, sondern auch der Wissen-

schaft im Ganzen transformieren würde. Eine offensichtliche Änderung ihres Selbstver-

ständnisses hat die Kunst laut Ingeborg Reichle bereits erfahren:

„Oftmals argumentieren die Werke der Künstler nicht mehr kunstimmanent, vielmehr

zielt die künstlerische Auseinandersetzung auf einen externen Impulsgeber, die Natur-

wissenschaften, ab, werden die Künstler ihrerseits zu Forschern.‚108

Als einer der Impulsgeber von Bök bestätigt Kac diese Analyse mit seinem Wunsch,

Kunst solle überhöhte Ansprüche und Erwartungen von und an Wissenschaft entlarven

und zurechtrücken109, findet aber bei Bök, der seine Kunst als Anstoß zu einer noch wei-

tergehenden Wissenschaft auffasst110, keine Zustimmung.

Bense versucht mit seiner Informationsästhetik, eine wissenschaftlich und technolo-

gisch veränderte Welt auf eine neue Weise erfassbar machen: Statt durch kontroverse

ethische Debatten oder unverständliche naturwissenschaftliche Begründungen versucht

er, die technisierte Welt über den Weg der Ästhetik zugänglich zu machen.111 Seine Ab-

sicht ist, sprachliche Erzeugnisse unter Zuhilfenahme der formalen Methoden der Natur-

wissenschaften als Kunst zu betrachten. Von solch einer „realwissenschaftlichen‚ Text-

theorie erwartet Bense eine neue Grundlage für Geisteswissenschaften, literarische Praxis

und textbasierte Kunst.112 Diese Neuerung manifestiert sich in Benses Umgang mit dem

Computer, der bei der Generierung stochastischer Texte nicht wie andere Maschinen zu-

106 Vgl. VOYCE 2007. 107 Vgl. KAC 2005, S. 217; 276. 108 REICHLE 2002, S. 3. 109 Vgl. KAC 2005, S. 249; 255; 260. 110 Vgl. BÖK 2008, S. 231. 111 Vgl. BENSE 2004b, S. 90. 112 Vgl. BENSE 1998a, S. 341–343; hier S. 342.

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vor zum Verrichten spezifischer Arbeit genutzt wird113, sondern zur künstl(er)i(s)chen

Manifestierung von Kontingenz. Durch die Integration von Technik in Kunst und umge-

kehrt sowie die Implementierung des Zufalls in technische Erzeugnisse soll der Determi-

nierung durch Mechanisierung entgangen werden.114 Ein distanzierter, bewusster Um-

gang mit Geräten und Methoden des technologisierten Zeitalters soll erreicht und die

Kontrolle des Menschen über die maschinisierte Welt gesichert werden.

Eine Form der Restriktion, die derjenigen ähnlich ist, die Bense durch die Wahr-

scheinlichkeitsverteilung einzelner Buchstabenvorkommen auferlegt wurden, findet sich

in Böks Genpoesie wieder: Die biochemische Zusammensetzung des Wirts eines syntheti-

schen Gens erlaubt nicht jede beliebige textuelle Konfiguration, ohne den Organismus zu

verletzen oder zu zerstören. Im krassen Unterschied zu Bense nutzt Bök diesen Umstand

aber nicht als kreative Komponente zur Ergänzung seiner eigenen Ideen, sondern tüftelte

in mehrjähriger Arbeit an einem Text, der sowohl in Form des Gens eine Botschaft codiert

als auch der Synthese eines funktionalen, nicht-zytotoxischen Proteins zugrunde liegt und

selbst nach seiner Expression eine sinnvoll decodierbare Textsequenz enthält.115

Technologische und transgene Formen der Poesie sind Kennzeichen des Wandels ei-

ner Gesellschaft: Neue Themen, neue Methoden, neue Werte und Wünsche werden durch

die pure Erweiterung von Möglichkeiten generiert. Nichtsdestoweniger ist die Konzepti-

on einer Unterschiedenheit von Natur und Kultur, von Leben und Technik im menschli-

chen Bewusstsein noch verankert. Bense nimmt in diesem Sinne eine Brückenposition im

Umgang mit den durch Computer geschaffenen Formen der Informationstechnologie ein.

Ein Vorgehen wie das seine scheint heute nicht mehr zeitgemäß: Das für Benses stochasti-

sche Texte notwendige Zutagetreten des Computers und der in ihm ablaufenden Prozesse

ist einem Bedürfnis nach Unsichtbarkeit des Computings gewichen. Die Schwelle zwi-

schen Mensch und Maschine liegt im Verborgenen, nur selten stolpern Menschen noch

über die wirklichkeitskonstituierende und weltverändernde Wirksamkeit der von ihnen

erbauten Apparate. Eine dagegen im öffentlichen Diskurs stark vertretene Autorität ist

die des Genoms: Vorstellungen von Zugehörigkeit und Identität, von Intellekt und Phy-

sis, Herkunft und Zukunft werden kausal damit verknüpft.

113 Im Gegensatz zur Formulierung des zeitgenössischen Informationsästhetikers Abraham A. Moles, der

Computer als dem menschlichen Gehirn überlegene Maschinen ansieht, die zur Unterstützung von Denkauf-

gaben herangezogen werden können; vgl. MOLES 2004, S. 217–219. 114 Vgl. BENSE 2004a, S. 33–34. 115 Vgl. SILLIMAN 2011b.

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Die Literatur kann auf diesen Wandel aufmerksam machen, um zu schockieren, um eine

neue Konzeption des Schönen zu entwerfen, aber auch, um Naturwissenschaft zu über-

trumpfen, zu schnellerem Fortschritt anzutreiben. Poesie kann Möglichkeiten durch wis-

senschaftliche Technologien nutzen oder die Ideen wissenschaftlicher Theorien wörtlich

ausbuchstabieren. In jedem Fall aber soll sie sich fragen, ob sie ihre Macht zur Kritik und

Reflexion durch diese Form der Weiterentwicklung stärkt oder sich einer Autorität (Na-

tur-)Wissenschaft unterwirft, um ihre eigene Reputation durch von dieser übernommene

Methoden zu steigern, deren Mutationen oftmals spontan auftreten und auf weit mehr als

nur menschliche Sprache zurückwirken – sonst könnte eines Tages gedichtet werden:

„ich habe methoden die ich nicht kenne

die mich nichts angehen

die mich nicht in ruhe lassen

die nicht dableiben

die gleich fort sind

die alles mitnehmen‚116.

116 Leicht modifiziert nach BENSE; HARIG 1969, S. 77.

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