Pädagogische Hochschule Freiburg Expertinnengespräch 9. Juli 2012 ADHS – was wissen wir, wenn wir wissen, dass ein Kind ADHS hat? Dr. phil. Adelheid Margarete Staufenberg Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Frankfurt am Main
Pädagogische Hochschule Freiburg
Expertinnengespräch
9. Juli 2012
ADHS –
was wissen wir, wenn wir wissen,
dass ein Kind ADHS hat?
Dr. phil. Adelheid Margarete StaufenbergKinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin
Frankfurt am Main
ADHS-Kontroverse
Zum psychoanalytischen Verständnis von ADHS und
darauf basierenden pädagogischen Überlegungen
Die Kontroverse um ADHS: multifaktoriell bedingt im bio-psycho-sozialen Kontinuum
• Genetisch (DAT)
• Neurobiologische Funktionsstörung
• Umweltfaktoren als weitere Risikofaktoren (Rauchen…)
• Beschleunigte Kindheit / Reizüberflutung
• Funktionalitätsorientierung
• Veränderte Familienformen und Erziehungsstile
• Psychische Überforderung
• "Biologisierung abweichenden Verhaltens" /sozialer Probleme
… die Kontroverse
• ADHS ist "multifaktoriell bedingt", ist der Konsens aller beteiligten Wissenschaften.
• Die Kontroverse wird auf der Ebene ausgetragen, welche Bedeutung den einzelnen Faktoren innerhalb des biopsychosozialen Spektrums zukomme.
• Ein ganzheitlicher Erklärungsansatz existiert nicht.
• Kein Biomarker aber auch keine Kausalität: wenn-dann.
• Der ganzheitliche Blick auf den Einzelfall bleibt unverzichtbar.
Entwicklung des Methylphenidatverbrauchs
Entstehungsfaktoren…
► sozio-ökonomische + kulturelle Veränderungen:
→ beschleunigte Kindheit/ "funktionieren"/ Familien unter Druck
→ veränderte Erziehungsstile→ neue Probleme/ Grenzen & Struktur
► Probleme der Diagnose:
- kein international akzeptierter cut-off-point fürHyperaktivität oder Aufmerksamkeitsdefizit: fließende Grenzen- Kulturelle und subjektive Faktoren sind entscheidend für die Diagnosestellung- Temperamentsunterschiede werden pathologisiert
Subgruppen bei ADHS-Diagnosen
• I. ADHS Kinder mit einer emotionalen Frühverwahrlosung
• II. ADHS, Trauer und Depression
• III. ADHS und Trauma
• IV. ADHS und das Aufwachsen mit einer "toten Mutter" (André Green)
• V. ADHS und Kultur
• VI. ADHS und Hochbegabung• VII. ADHS Kinder mit einem hirnorganischen Problem
(vgl. Leuzinger-Bohleber et al. 2006: 372f)
Psychodynamik
•Begriffsklärung:• ADHS: eine Verhaltensstörung – Ursachen?• Symptome sind überdeterminiert • Die Trias der ADHS: - Hyperaktivität
- Konzentrationsschwäche - Fehlende Impulskontrolle
→ haben multifaktorielle Ursachen → Genexpression ist umweltgetriggert (Epigenetik)
→ ADHS ist eine deskriptive Diagnose. Die beschriebenen Symptome haben bewusste + unbewusste Bedeutungen.
→ Den gleichen Symptomen liegen jeweils individuelle Biographienzugrunde!
Dimensionale versus kategoriale Diagnose
(
ADHS als deskriptive oder horizontale Diagnose
Borderlinestörung
Störungen des
Sozialverhaltens
Angststörungen
Narzissistische
Störungen
Depression
Traumafolgen
(Streeck-Fischer 2008)
Psychodynamische KonzepteKindliche Reaktionen auf Überforderung und Leid
Internalisierung
Depressive TendenzenÄngsteZwänge
Externalisierung
UnruheUnaufmerksamkeitImpulsivitätAblenkbarkeitAggression
Kindliche Reaktionen auf Überforderung und Leid
Psychodynamik - Entstehungsfaktoren
• Trauma:
• Emotionale Frühverwahrlosung
• Mismatching-Situationen dominieren
• Abgewehrte Depression nach Verlusterfahrung
• Aufwachsen mit depressiver oder psychisch krankerMutter
• Unverarbeitete Traumatisierung der Eltern
• Unsicheres Bindungsverhalten der Eltern
Psychosoziale Entstehungsfaktoren fürADHS
Psychoanalytische Überlegungen
►"Mismatching" zwischen dem Temperament des Babys und seiner Mutter/Pflegeperson:
→ die Signale des Säuglings werden missinterpretiert→ seine Affekte werden nicht "markiert" gespiegelt→ er kann seine Affektstürme u. Erregungszustände
nicht genügend gut regulieren
→ Ergebnis: Regulationsschwäche→ eingeschränkte Reflexions- und
Mentalisierungsfunktion→ die Tendenz zu externalisierenden Lösungen
wird verstärkt
… Psychodynamik
Geschlechtspezifische Aspekte
70% - 80% der ADHS Diagnosen betreffen Jungen
→ mangelnde Diskussion darüber
Warum die Jungen?
→ komplizierter Separationsprozess/ aufgrund der
Geschlechterdifferenz: frühe Fremdheitserfahrung
→ frühe + intensive Ängste
→ spezifische Schwierigkeiten, Aggressionen zu modulieren
("Vaterhunger")
→ fehlende Erfahrungen mit männlichen Erwachsenen /
"Feminisierung" der kindlichen Lebenswelt und der Pädagogik
Zur Genese der Symptome- intrapsychische Ebene
•Eingeschränkte Ichfunktionen / unzureichende Affektregulation / mangelhafte Triebmischung
•Unmittelbare Spannungsabfuhr/ Triebdurchbruch→ Grenzüberschreitungen
•Fehlender psychischer Innenraum
•Externalisierung auf frühem Entwicklungsniveau der "Ausdrucksmotitlität" - Bewegung = Leben
•Abwehr gegen Reizüberflutung
Konfliktdynamik und Funktion der ADHS
•ADHS als Kompromissbildung mit expansiver Lösung:
•Abwehr archaischer Ängste
•Abwehr depressiver Gefühle (Selbstwertprobl.)
•Trennungsangst/-trauma und Bindungsstörung
•Inzestwunsch/angst u. Sexualisierung
•ADHS als Ausdruck versuchter Individuation
und Autonomie
Generelle Überlegungen basierend auf Bindungsforschung:
Komplementarität von Angst und Neugier
Pädagogische Grundhaltung:
"Nur wenn die Neugierde und der Wissensdurst gefördert werden und zugleich die Angst vor Neuem und Unbekanntem ertragen werden kann, ist Lernen möglich."
Sichere Basis,Selbstbewusstsein
Verunsicherung,Erregung, Angst
Erkundungssystem aktiv
Bindungssystem aktiv
Spielen als Basisbedürfnis von Säugetieren
"Trotz unserer Unkenntnis über die zugrundeliegendenneuronalen Bedingungen haben andereWissenschaftler und ich in Erwägung gezogen, dass einGroßteil dessen, was heutzutage bei unseren Kindern als ADHS diagnostiziert wird, die natürliche Formwiderspiegeln könnte, spielerische und andereKindheitsbedürfnisse auszudrücken, wenn auch insozial unpassender Form."
Panksepp J (2007): Can PLAY Diminish ADHD and Facilitate the Construction of the Social Brain? Journal of the Canadian Academy of Child and Adolescent Psychiatry 16: 57-66
Verdacht auf ADHS: Was tun?
Der Wunsch nach schneller Hilfe ist verständlich.
► Eine medikamentöse Behandlung (nach sorgfältigerkinderärztlicher und psychologischer Untersuchung)ist manchmal eine notwendige Indikation, um eineEskalation in Familie, KT oder Schule aufzubrechen.
Jedoch sind folgende Aspekte zu bedenken:
► Medikamente verdecken die Ursachen der Störungund ihre psychodynamische Bedeutung
► Medikamente werden ins Selbstbild der Kinder integriert
► Nebenwirkungen► Langzeitwirkungen noch unbekannt
…Verdacht auf ADHS: Was tun?
• professionelle pädagogische Betreuung
• soziale Stigmatisierung und Ausgrenzung verhindern("Teufekskreis")
• Hilfs-Ichfunktionen bieten (Kompensation der Wahrnehmungs-und Beurteilungsschwäche, Grenzsetzung, Mentalisierung etc.)
• Empathische Wahrnehmung und Begleitung durch PädagogenUmgang mit drohender Reizüberflutung:
• Tagesablauf strukturieren
• Unterricht rhythmisieren• motorische Abfuhr ermöglichen
• Rituale einführen
• ANERKENNUNG aussprechen – Glaubwürdigkeit!
"Allgemeingültige Unterrichtsregeln"http://www.adhs-zentrum.de/Kinder/Lehrer_Unterrichtsregeln.php
"Obwohl Lehrkräfte in Deutschland eine umfassende Ausbildung besitzen, so muss (leider) trotzdem immer wiederauf allgemeingültige Unterrichtspraktiken hingewiesenwerden. Sie sind allgemeingültig und nicht im speziellen auf Kinder mit ADHS ausgerichtet:
• Festlegen der Lernerwartung für die Stunde, des zu verwendenden Materials und des Verhaltens
• Ggf. vorhandene Hilfestellungen erklären• Kurze Zusammenfassung vor Unterrichten neuer Lerninhalte auf zuvor gelernte, wichtige Dinge
• Audiovisuelle Vorführungen, z.B. durch Versuche oder Filme
• Nachvollziehen der Leistung des Schülers ("wie kamst Du zu diesem Ergebnis?")
… Allgemeingültige Unterrichtsregeln
• Zwischendurch Fragen zum Verständnis stellen (genug Zeit zum Antworten geben!)
• Augenkontakt während der Ersterklärung• Vereinfachte Anweisungen bei komplexen Aufgaben• Durchgehende Einschätzung der Schülerleistung verzeichnen
• Anleitung zur selbständigen Fehlersuche und Fehlererkennung
• Lärmpegel minimieren!• Zeitablaufhinweise geben (z.B. "noch 10 Minuten")• Verhaltenssignale setzen, falls nötig• Langsamen Schülern helfen, sich zu konzentrieren, evtl. Lernpartner zur Seite stellen
• In der Freiarbeit eindeutige Anweisungen geben, wo der Schüler was arbeiten soll
… Allgemeingültige Unterrichtsregeln
Das Lernumfeld des ADHS-Kindes:
• Immer in der Nähe des Lehrers sitzend (vorne an der Tafel)
• Neben einem ruhigen Mitschüler / Mitschülerin (Stichwort: positives Modell)
• U.U. auch alleine Sitzend als Hilfe (Ablenkungsgefahr minimieren)
• Nicht direkt neben dem Fenster sitzen lassen• Möglichst kein Sitzplatzwechsel während des Schuljahres
• Darauf achten, das beim ADHS-Kind nur die Arbeitsmaterialien auf dem Tisch liegen, die auch benötigt werden
• Stillarbeit (Kurzzeit; später längere Stillarbeiten)"
"Was können Lehrerinnen und Lehrer tun?"
http://www.zentrales-adhs-netz.de/fuer-paedagogen/hilfreiche-konzepte.html
"I. Optimierung durch mehr Struktur im Unterricht
1. feste Sitzordnung• häufige Platzwechsel irritieren - in Lehrernähe - links vorne – außermittig• unruhige Gruppentische und dauerhafte Einzelsitzplätze sind ungünstig• Tischnachbar als Helfer und positives Modell• Händigkeit beachten
2. Tischordnung• Markierungen (z.B. mit Kreppband) für Tischmitte und wichtige Materialien• nur aktuell benötigte Materialien auf dem Tisch
3. Tafelordnung • ist stets die Gleiche (Hausaufgabenseite)
4. Führen eines Hausaufgaben- und Mitteilungshefts• rechtzeitige und schriftliche Bekanntgabe wichtiger Informationen (Unterrichtsausfall,
Ausflüge, Projekte…)• ggf. mit Kenntnisnahme der Eltern durch abzeichnen
5. Regeln• wenige aber eindeutige Verhaltensregeln aufstellen
…."Was können Lehrerinnen und Lehrer tun?"
II. Optimierung durch Einsatz von Signalkarten
• 1. viele ADHS-Kinder sind bei verbaler Ansprache unaufmerksam
• Nutzung nonverbaler Kommunikation• Nutzung eines weiteren Wahrnehmungskanals• Signalkarten verdeutlichen in einfacher Weise Anweisungen bzw. Regeln
III. Optimierung durch Einsatz von Blick- bzw. Körperkontakt
• Einsatz als „Geheimsprache“ • Blick- bzw. Körperkontakt „weckt“ viele ADHS-Kinder
• stört nicht den Unterrichtsablauf
…."Was können Lehrerinnen und Lehrer tun?"
IV. Optimierung durch Rituale im Unterricht:
1. ritualisierte Begrüßung – Verabschiedung – Pausenbeginn2. Ruhe zu Unterrichtbeginn herbeiführen
(Aufmerksamkeitsfokus!)
3. Einsatz eines Sprechballs
4. Körper- oder akustisches Signal bei zu hohem Lärmpegel
5. Aufstellen z.B. nach Größe, Geburtsdatum, Alphabet
6. Konsequentes Führen und Kontrolle des Hausaufgabenheftes
…."Was können Lehrerinnen und Lehrer tun?"
V. Optimierung durch Bewegungschancen im Unterricht1. für alle Kinder:
• Arbeitsmaterialien an bestimmtem Platz abholen• sich auf besondere Art dorthin bewegen• Lösungen zur Aufgabenkontrolle an anderem Platz bereitlegen
2. für das ADHS-Kind:
• kleine gezielte Aufträge (Tafeldienst, Botengänge)• Arbeitsblätter durch ADHS-Kind austeilen lassen• im Sportunterricht expansivem Verhalten durch Arbeitsaufträge,
Helferrolle, Schiedsrichter o.ä. vorbeugen (s.u.) • Umgang mit Handschmeichlern erlauben (Knete, Sandsäckchen)• Arbeitsposition frei wählen lassen (stehen, knien, sitzen)• Sitzball (Vorsicht: bei begleitender Störung d. Sozialverhaltens!)• „Aktives Ignorieren“ bei weniger störendem Verhalten
…."Was können Lehrerinnen und Lehrer tun?"
• VI. Spezielle praxisnahe Tipps:
1. für alle Unterrichtsfächer• vermehrt strukturiertes Lernen statt Freiarbeit • direkte Instruktion durch den Lehrer • Frei- oder Wochenplanarbeit nur mit helfendem, strukturierendem
Begleiten • Aufträge gezielt und hintereinander erteilen • Aufgaben in kleine Abschnitte unterteilen • Arbeitsergebnisse in Merksätze und Regeln fassen • Automatisierung durch Wiederholen und Üben der Lerninhalte • Fehler zeitnah korrigieren • lebhaft, expressiv, humorvoll unterrichten • häufige kleine Leistungsüberprüfungen • ermutigen statt entmutigen! • Stärken betonen und nutzen, Schwächen benennen, aber zugleich
Hilfen aufzeigen!
Umgang mit ADHS - Behandlung
• Stressbewältigung
• Struktur und Strukturierungshilfe
• Spiel → "Raufen & Balgen"
• analytische/tfp Kindertherapie:
• Arbeit mit den Eltern
• Förderung einer sicheren Bindung
• Traumabearbeitung
ADHS und Kreativität
Die Stärken der Kinder:
• Lebendigkeit
• Phantasie
• Ansprechbarkeit + Interesse für…
• Gerechtigkeitsgefühl
• Hilfsbereitschaft
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!