Suzanne Joinson Kashgar oder Mit dem Fahrrad durch die Wüste Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer
Mar 22, 2016
Suzanne Jo inson
Kashgar oder
Mit dem Fahrrad durch die Wüste
Aus dem Englischen
von Ulrike Thiesmeyer
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
A Lady Cyclist’s Guide to Kashgar
bei Bloomsbury Plc, London
© 2012 Suzanne Joinson
© der Karte auf Seite 9 John Gilkes
© der Illustrationen Sarah Greeno
Für die deutsche Ausgabe
© 2012 Bloomsbury Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Gesetzt aus der Celeste
von hanseatenSatz-bremen, Bremen
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8270-1088-9
www.bloomsbury-verlag.de
Für Ben
Hier geht die Wanderung der Vögel zu Ende, unsere Wan-
derung, die Wanderung der Worte.
Und nach uns ein Horizont für die neuen Vögel, nach uns
ein Horizont für die neuen Vögel.
Und wir, die wir das Kupfer des Himmels hämmern, wir
schlagen den Himmel, damit er nach uns Wege baut.
Wir haben uns mit unserem Namen versöhnt auf dem
Hang der fernen Wolken, dem Hang der fernen Wol-
ken.
Bald werden wir hi nun tersteigen wie Witwen auf den
Platz der Erinnerungen,
Und wir werden unser Zelt für die letzten Winde auf-
schlagen: weht, weht, damit das Gedicht lebe
Und der Weg zu ihm lebe. Und nach uns werden die
Pflanzen wachsen, und die Pflanzen werden die Wege
bedecken, die wir allein gegangen sind, Wege, einge-
weiht von unsern beharrlichen Schritten.
Hier werden wir in die letzten Felsen ritzen, Es lebe das
Leben, es lebe das Leben.
Und dann werden wir in uns selber fallen. Und nach uns
ein Horizont für die neuen Vögel.
»Hier geht die Wanderung der Vögel zu Ende«,
Mahmud Darwisch
Denn die Vögel des Himmels tragen die Stimme fort, und
die Fittiche haben, sagen’s weiter.
Prediger 10, 20
11
Einige Punkte, die es zu beherzigen gilt: Studieren Sie
die Gegend, die Sie bereisen wollen, und die Beschaffen-
heit der Straßen, arbeiten Sie sich vorab in die Landkarte
ein, um sich Ihre Route, ihren groben Verlauf usw. einzu-
prägen. Achten Sie stets auf die Straße, auf der Sie unter-
wegs sind; führen Sie ein kleines Notizbuch, um da rin in-
teressante Beobachtungen festzuhalten.
Maria E. Ward, Fahrradfahren für Damen, 1896
Kashgar oderMit dem Fahrrad durch die Wüste – Notizen
Kashgar, Ost-Turkestan, 1. Mai 1923
Mit Bedauern muss ich festhalten, dass mir in der der-
zeitigen Lage nicht einmal Mrs Wards Fahrradhand -
buch MIT HINWEISEN ZUR KUNST DES RADFAH-
RENS – RATSCHLÄGE FÜR ANFÄNGERINNEN – KLEI-
DUNG – FAHRRADPFLEGE – MECHANIK – TRAI-
NING – ÜBUNGEN USW. USF. von Nutzen ist, denn wir
sind in eine missliche Klemme geraten.
Beginnen kann ich wohl ebenso gut mit den Knochen.
Von der Sonne schneeweiß gebleicht, sahen sie aus
wie winzige Flöten, und ich rief dem Kutscher zu, anzu-
halten. Es war früher Abend. Um unser Ziel baldmög-
12
lichst zu erreichen, waren wir, törichte Engländerinnen,
die wir nun einmal sind, tagsüber gereist, in der brüten-
den Mittagshitze. Vogelknochen waren es, die in einem
Häuflein vor einer Tamariske lagen, und aus dem Mus-
ter im Staub könnte, wenn ich es nur zu deuten wüsste,
vermutlich mein künftiges Schicksal abgelesen werden.
In dem Moment hörte ich den Schrei. Ein gellendes
Jammern, das hinter einer Ansammlung toter Pappeln
hervordrang, durch deren Anblick die Trostlosigkeit
dieser speziellen Wüstenebene in keiner Weise gemil-
dert wurde. Ich stieg von dem Karren ab und hielt hin-
ter mir Ausschau nach Millicent und meiner Schwester
Elizabeth, konnte sie aber nirgends entdecken. Millicent
reist lieber zu Pferde als im Karren, so kann sie leichter
dann und wann pausieren, um eine ihrer Hatamen-Ziga-
retten zu rauchen.
Fünf Stunden lang war unser Weg bergab durch einen
staubigen Talkessel verlaufen, in dessen tiefstem Teil hie
und da verstreut Tamarisken aus den Erd- und Sandhau-
fen aufragten, die sich, vom Wind he rangeweht, rings
um die Wurzeln gebildet hatten; und dann diese toten
Pappeln.
Zwischen den Baumstämmen wucherte Saksaul, ein
knorriges, mit grauer Borke überzogenes Gesträuch, und
hinter diesem Gestrüpp kniete vorn übergebeugt ein Mäd-
chen und gab die absonderlichsten Laute von sich, die an
das Schreien eines Esels erinnerten. Ohne Eile kam nun
auch der Kutscher herbei und stellte sich neben mich,
und wir betrachteten sie wortlos, wobei er – unverschämt
und verschlagen wie alle Burschen seiner Sorte – auf sei-
13
nem Holzsplitter he rumkaute. Da blickte sie zu uns auf.
Sie war etwa zehn oder elf Jahre alt, mit einem Bauch, der
so rund und prall war wie eine Hami-Melone. Der Kut-
scher starrte bloß, und ehe ich noch etwas sagen konnte,
kippte sie vorn über auf den Boden, mit weit geöffnetem
Mund, als wollte sie den Staub essen, und gab weiter ihr
grässliches Stöhnen von sich. Endlich vernahm ich hinter
mir das Hufgeräusch von Millicents Pferd auf dem losen
Schotter der Piste.
»Sie steht kurz vor der Niederkunft«, sagte ich, mehr
aufs Geratewohl.
Millicent, unsere ernannte Anführerin, Repräsentan-
tin des Missionsordens vom Unerschütterlichen Ge-
sicht – unsere Wohltäterin –, brauchte lange, um sich
aus dem Sattel zu hieven. Nach stundenlangem Rei-
ten war sie offenbar etwas steif. Insekten vibrierten um
uns her um, he rausgelockt von der nachlassenden Hitze.
Ich beobachtete Millicent. Nichts passte weniger in die
Wüste als sie mit ihrer herrischen Nase, die förmlich die
Luft durchschnitt, während sie ohne Anmut von ihrem
Pferd absaß, und dem großen Rubinring an ihrer Hand,
der einen seltsamen Kontrast zu ihrer eher männlich an-
mutenden Kleidung bildet.
»Sie ist ja noch ein Kind.«
Millicent bückte sich und flüsterte dem Mädchen
etwas auf Turki zu. Was auch immer sie gesagt haben
mochte, es hatte einen Aufschrei zur Folge und danach
schreckliches Schluchzen.
»Es ist in vollem Gang. Wir benötigen, glaube ich, die
Zange.«
14
Millicent wies den Kutscher an, den Gepäckkarren zu
holen, und kramte dann in unserer Habe he rum, auf der
Suche nach dem Verbandskasten. Während sie damit be-
schäftigt war, sah ich, dass auf dem Pfad eine Gruppe
Frauen, Männer und Kinder – eine große Familie mögli-
cherweise – näher kam. Sie zeigten he rüber und stießen
sich gegenseitig an, erstaunt über uns ausländische Teu-
fel mit dem schweinestrohfarbenen Haar, die leibhaf-
tig auf ihrem Weg standen. Millicent sah zu ihnen hoch
und benutzte dann ihre Predigerinnenstimme:
»Lassen Sie uns bitte Platz, treten Sie zurück.«
Sie wiederholte ihre Aufforderung auf Chinesisch
und Turki, was seine Wirkung nicht verfehlte. Sicht-
lich erschrocken stellten sie sich auf, akkurat wie für ein
Gruppenfoto, und verstummten erst, als das Mädchen
im Staub sich auf allen vieren vorbeugte und in einer
Lautstärke losbrüllte, die ausgereicht hätte, um Bäume
zum Verdorren zu bringen.
»Eva, schnell, stütze sie.«
Das weinende Kind bot mit seinem geschwollenen
Leib einen abscheulichen Anblick, es wirkte auf mich
wie eine geifernde Wildkatze, die ich nur ungern anfas-
sen wollte. Dennoch kniete ich mich in den Staub, zog
den Kopf des Mädchens auf meine Knie und versuchte,
es zu streicheln. Ich hörte, wie Millicent eine ältere Frau
um Hilfe bat, aber die Alte wich heftig zurück, wie aus
Angst, sich durch Kontakt mit uns zu verseuchen. Vom
Mund des armen Mädchens her, dessen Gesicht auf mei-
nen Beinen lag, spürte ich eine Nässe, womöglich wollte
sie beißen, doch dann riss sie sich unvermittelt von mir
15
los, zurück auf die Erde. Millicent rangelte mit ihr und
drehte sie auf den Rücken. Das Mädchen schrie jämmer-
lich.
»Halt ihren Kopf fest«, sagte Millicent. Ich bemühte
mich, sie festzuhalten, während Millicent ihre Knie auf-
bog und mit beiden Ellbogen niederdrückte. Der Stoff
um ihren Unterleib he rum ließ sich leicht abstreifen.
Meine Schwester war noch immer nicht eingetroffen.
Auch sie reist lieber zu Pferde, um nach Belieben Abste-
cher in die Wüste machen zu können und »Sand zu fo-
tografieren«. Sie glaubt da ran, in den Sandkörnern und
Dünen Seinen Anblick festhalten zu können. Und wo es
zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es
dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die
Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf
stehen … Diese und andere Worte singt sie mit der ei-
gentümlich hohen Stimme, die sie sich angeeignet hat,
seit die Macht des Glaubens vollauf von ihr Besitz ergrif-
fen hat. Ich hielt ringsum nach ihr Ausschau, aber ver-
gebens.
Noch jetzt klingen mir diese grässlichen, angsterfüll-
ten Schreie in den Ohren, als Millicent ihren Finger in
Fleisch stieß, um Raum für die Zange zu schaffen, bis
ein Gemisch aus Blut und einer anderen Flüssigkeit her-
ausströmte und über ihr Handgelenk rann.
»Wir sollten das besser bleiben lassen«, sagte ich.
»Bringen wir sie lieber in die Stadt, dort gibt es gewiss
jemanden, der mehr Erfahrung hat als wir.«
»Dazu reicht die Zeit nicht. Barmherziger Jesus, sieh
auf uns«, Millicent sah mich nicht an, »Deine Diener,
16
und behüte uns vor Bangigkeit und bösen Geistern, die
danach trachten, die Arbeit Deiner Hände zu zerstören.«
Die Zange wurde hin eingestoßen, und das Mädchen
schrie wie am Spieß.
»O Herr, mildere die Mühsal unserer Schwanger-
schaft«, betete Millicent laut, während sie zog und zerrte,
»und schenke uns die Kraft und Tapferkeit, zu gebären,
und ermögliche dies mit Deiner allmächtigen Hilfe.«
»Wir sollten das bleiben lassen«, wiederholte ich. Das
Haar des Mädchens war nassgeschwitzt, und Panik stand
in ihren Augen, wie bei einem Pferd bei Gewitter. Milli-
cent legte kurz den Kopf zurück, damit ihre Brille wieder
den Nasenrücken hi naufrutschte. Dann zerrte sie mit
einem heftigen Ruck, als holte sie einen Anker ein, bis
ein blaurotes Geschöpf zusammen mit einem Schwall
wässriger Substanzen he rausgeglitscht kam und wie ein
Fisch von Millicents Händen aufgefangen wurde. Aus
der jungen Mutter floss Blut, das rasch einen roten Halb-
mond im Staub bildete. Millicent legte ihr Messer an die
Nabelschnur.
Da tauchte Lizzie auf, mit der Leica in der Hand, in
unserer Uniform, einer schwarzen, mit einem dunkel-
blauen Seidenrock bedeckten Satinhose und einem chi-
nesischen Mantel aus leichter schwarzer Baumwolle. An
ihrem Rocksaum haftete der rosafarbene Staub, der hier
allgegenwärtig ist. Sie blieb stehen und starrte die Szene
vor sich an wie ein kleines Mädchen am Rande eines
Rummelplatzes, das sich verlaufen hat.
»Lizzie, hol Wasser!«
Millicents Messer trennte das Neugeborene für alle
17
Zeit von seiner Mutter ab, die erschauderte und den
Kopf schlaff zurücksinken ließ, während das Fischbaby
lautstark danach verlangte, in den Himmel gelassen zu
werden. Der Halbmond wurde unaufhörlich größer.
»Sie verliert zu viel Blut«, stellte Millicent fest. Das Ge-
sicht des Mädchens war zur Seite gesunken; sie kämpfte
nicht länger.
»Was können wir tun?«
Millicent stimmte ein leises Gebet an, das ich unter
dem Geschrei des Babys kaum verstehen konnte.
»Wir sollten sie fortschaffen, Hilfe suchen«, schlug ich
vor, aber Millicent reagierte nicht. Ich sah zu, wie sie die
Hand der Mutter anhob. Sie schüttelte den Kopf, ohne
zu mir hoch zu sehen.
»Millicent, nein.«
Meine Worte waren in den Wind gesprochen, in
der Tat konnte ich es einfach nicht fassen: Ein Le-
ben verschwand vor unseren Augen, versickerte in
der rissigen Wüstenerde so beiläufig wie eine Be-
wegung in den Wolken. Umgehend brachen un-
sere Zuschauer in wütendes Geschrei und Gezeter
aus.
»Was sagen sie, Lizzie?«, rief ich. Zwischen den Bei-
nen des Mädchens quoll weiter Blut hervor, eine hoff-
nungsvolle Flut auf der Suche nach einer Küste. Lizzie
starrte die roten Spuren auf Millicents Handgelenk an.
»Sie sagen, dass wir das Mädchen umgebracht ha-
ben«, erwiderte sie, »und dass wir sein Herz gestohlen
haben, als Talisman, um uns vor den Sandstürmen zu
schützen.«
18
»Was?« Die Gesichter der Menge wagten sich nun
ganz dicht he ran, stürmten auf mich ein, Hände mit
schmutzigen Fingernägeln griffen nach mir. Ich stieß sie
fort.
»Sie sagen, wir hätten das Mädchen getötet, um uns
seine Kraft anzueignen, und dass wir vorhaben, das
Kind zu rauben und zu verspeisen.« Lizzie sprach sehr
schnell, mit dieser eigenartigen hohen Stimme. Sie be-
herrscht diese undurchdringliche Turki-Sprache wesent-
lich besser als ich.
»Sie ist eines natürlichen Todes gestorben, bei der Ge-
burt, das habt ihr doch alle gesehen«, schrie Millicent
sinnloserweise auf Englisch und wiederholte das Ganze
dann auf Turki. Lizzie machte sich da ran, eine Kanne
mit Wasser und eine Decke zu holen.
»Sie verlangen unsere Erschießung.«
»Unsinn.« Lizzie trat mit der Decke neben Millicent,
so standen sie beisammen: eine Dame und ihre Magd.
»Also, wer …« – Millicent hielt das kreischende Baby
in die Höhe, als wäre es ein abgetrennter Kopf, eine Op-
fergabe – »… nimmt jetzt dieses Kind?«
Alle sahen sie mit großen Augen an, ohne den kleins-
ten Laut von sich zu geben.
»Wer ist für dieses kleine Mädchen verantwortlich?
Ist ein Angehöriger anwesend?«
Ich hatte es schon geahnt. Niemand wollte sie. Nicht
einer aus dem Haufen verschwendete auch nur einen
Blick auf das tote Mädchen im Staub, das selbst noch ein
Kind war, oder auf das Blut, das soeben zu Erde wurde.
Auf ihren Beinen krabbelten bereits Insekten he rum.
19
Millicent ließ sich von Lizzie die Decke geben und wi-
ckelte das zornig quäkende kleine Wesen aus Haut und
Knochen da rin ein. Wortlos reichte sie das Bündel an
mich weiter.
Danach wurden wir von dem Familienältesten und sei-
nem Sohn zu den Stadttoren von Kashgar »eskortiert«,
wo man, auf welchem magischen Kommunikationsweg
auch immer, schon über unser Eintreffen unterrichtet
war. Das städtische Gericht hatte noch geöffnet, trotz der
frühen Abendstunde, und ein chinesischer Amtsträger
wurde herbeigeholt, denn diese Gegend steht, obwohl
überwiegend von muslimischen Turkvölkern bewohnt,
unter chinesischer Herrschaft. Unsere Karren wurden
durchsucht, unsere Besitztümer unter die Lupe genom-
men. Mein Fahrrad wurde von der Ladefläche des Kar-
rens gehoben und erregte, genau wie wir selbst, nehme
ich an, erhebliches Interesse, es fand sich eine große
Schar Schaulustiger ein. Fahrräder sind eine Seltenheit
in diesen Breiten, und dass sich noch dazu eine Frau da-
mit fortbewegt, ist schlicht unvorstellbar.
Millicent erklärte: »Wir sind Missionarinnen und
vollkommen friedlich. Auf die junge Mutter sind wir
ganz zufällig gestoßen, auf dem Weg zu Ihrer Stadt.«
Dann flüsterte sie: »Sitzt so still da wie ein Buddha. In
einer derartigen Lage ist Gleichmut die beste Strategie.«
Der Schädel des Babys war ein sonderbares, war-
mes Ding in meiner Hand, nicht weich, aber auch nicht
hart; eine schmiegsame Form, erfüllt von neuem Leben.
Nie zuvor hatte ich ein Kind im Arm gehalten, das erst
seit so kurzer Zeit auf der Welt und obendrein weiblich
20
war. Ich zurrte die Decke eng um die Kleine he rum und
drückte sie an mich, um so die wütenden Fäuste und das
purpurrote Gesicht einer zornigen Seele zu beruhigen,
die vor Empörung und Todesangst brüllte wie am Spieß.
Schließlich schlief sie vor Erschöpfung ein. Vor Angst,
dass sie sterben könnte, sah ich immer wieder auf sie
hin ab. Wir waren bemüht, so reglos wie nur möglich da-
zusitzen, während die Menge rings um uns murmelte
und diskutierte in dem zungenbrecherischen hiesigen
Dialekt. Millicent und Lizzie zischten mir zu: »Bedecke
dein Haar.«
Hastig richtete ich mein Kopftuch. Mein Haar ist lei-
der ebenso leuchtend rot wie das meiner Mutter, und of-
fensichtlich erregt das hier einiges Aufsehen. Besonders
auf der letzten Etappe unserer Reise von Osch nach Kash-
gar starrten Männer mich mit offenen Mündern an, als ob
ich nackt wäre oder mit Flügeln am Rücken und silbernen
Ringen in der Nase vor ihnen umhertollen würde. In den
Dörfern rannten Kinder erst mit ausgestrecktem Zeigefin-
ger auf mich zu, um dann furchtsam zurückzuweichen,
bis ich es schließlich leid war und dazu überging, mein
Haar wie eine Mohammedanerin unter einem Kopftuch
zu verbergen. Das funktionierte. Doch während des Ge-
tümmels im Staub war es he run tergerutscht.
Millicent übersetzte: Aufgrund der Anschuldigungen
der Zeugen würden wir uns, angeklagt wegen Mord und
Hexerei (oder Teufelsbeschwörung), vor Gericht verant-
worten müssen. Oder vielmehr Millicent. Denn sie war
diejenige, die das Baby in die Höhe gehalten und bei
dem Mädchen ihr Messer benutzt hatte.
21
»Wir werden uns durch Bestechung aus der Affäre
ziehen müssen«, flüsterte Millicent uns zu; ihr Gesicht
war so hart wie die sonnenverbrannte Wüstenerde.
»Wir werden Ihnen das Geld geben«, sagte Millicent,
mit leiser, aber deutlicher Stimme, »dazu müssen wir je-
doch unsere Unterstützer in Schanghai und Moskau kon-
taktieren, was einige Tage dauern wird.«
»Sie werden unsere Gäste sein«, erwiderte der Be-
amte. »Unserer großartigen Stadt Kashi ist es ein Ver-
gnügen, Sie zu beherbergen.«
Daher sind wir also gezwungen, in diesem staubigen
rosafarbenen Talkessel zu bleiben. Nicht direkt unter
»Hausarrest«, auch wenn wir einer Erlaubnis bedürfen,
um das Haus zu verlassen; wo rin genau da der Unter-
schied besteht, verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht.
22
London, Gegenwart
Pimlico
Die Duftkerzen anzuzünden war ein Fehler gewesen;
nun roch es im Zimmer wie in einem künstlichen Kie-
fernwald. Energisch pustete Frieda sie nacheinander
aus. Es war zwanzig nach eins in der Nacht. Sie schloss
das Fenster, indem sie den Schieberahmen mit einem
Knall he run terriss, und sah in den Spiegel. Ihr seidenes
Trägerhemd schimmerte kühl und silbrig wie das Innere
einer Muschel, und dieser Perlmuttton bleichte sie aus,
schmolz sie geradezu ein. Sie sah sich nach einer Strick-
jacke um und kippte die Flasche Wein, die sie schon vor
geraumer Zeit geöffnet hatte – um den Wein atmen zu
lassen –, über der Spüle aus, beobachtete, wie die blut-
rote Flüssigkeit im Ausguss verschwand. Jetzt konnte er
atmen, so viel er nur wollte. Dem Geruch nach zu urtei-
len, war es ohnehin eher eine Plörre. Wenigstens habe ich
23
nicht auch noch für ihn gekocht. Sie sah zu ihrem Handy,
das auf dem Tisch lag. Kein Anruf, keine SMS, nichts.
Flüchtig dachte sie da rüber nach, ob sie sich ein
Bad einlassen sollte, hatte aber nicht die Kraft, sich ins
warme Wasser sinken zu lassen, oder wenn doch, könnte
sie später nicht entscheiden, wann sie es wieder verlas-
sen sollte. Mit einem Wattebausch schminkte sie sich
die Augen ab. Das letzte Mal, als sie mit Nathaniel im
Bett gewesen war, vor einigen Monaten, hatte er gesagt:
»Dass du einen Schmuddeltypen wie mich neben dir lie-
gen lässt, unglaublich.« Sie rieb sich das Gesicht mit ei-
nem Handtuch trocken. Wa rum sie ihm das gestattete,
war ihr selbst ein Rätsel. Auf der Fensterbank standen
drei Kakteen, aufgereiht wie müde Soldaten, die auf An-
weisungen warten. Sie legte einen Finger gegen einen
gelben Stachel des größten Kaktus und stieß zu, um den
Stich zu spüren, doch der Stachel war weich und fiel bei
ihrer Berührung ab. Die Kakteen waren voll anämischer
Stellen und mussten dringend gegossen werden. Sie
ging in die Küche.
Kinder gehen vor. So ist das nun mal. Gäbe es so et-
was wie einen Wettbewerb, einen Auswahlprozess oder
eine Rangfolge, wären Kinder immer die Nummer eins.
Oberste Priorität: die Jungen. Die anscheinend nachts
nur deshalb unruhig schliefen und immer wieder auf-
wachten, um sich zu überzeugen, dass Papa da ist, dass
er im selben Zimmer atmet, dass seine Hand dicht bei ih-
rem Kopf liegt und sie in der Dunkelheit niemals allein
gelassen werden. Ihre Träume sind voller Schrecken –
Monster, Piraten und Einsamkeit –, genauso wie manche
24
Gedanken, die sie noch nicht zu beherrschen oder richtig
in Worte zu fassen vermögen. Dass er in der Nacht ein
paar Stunden verschwindet, um an der Tankstelle Ziga-
retten zu besorgen, ist das Letzte, was sie sich wünschen.
Ihre Handteller juckten, waren erst heiß, dann kalt.
Eine ganze Weile hatte es mit Nathaniel gut geklappt,
das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Intimität. Du
bist ein Freigeist, Frie’. Du kommst und gehst. Das Reisen
und das Landen und dann Nathaniels heiße, tiefe, nahe
Leidenschaftlichkeit – eine Zeitlang gab ihr das eine
Leichtigkeit und machte ihren Alltag unwirklich und ne-
bensächlich, so dass es nicht weiter ins Gewicht fiel, dass
er kaum da rin vorkam. Sie hatte alles unter Kontrolle,
damals, und als Nathaniel davon sprach, seine Frau zu
verlassen, um mit ihr zusammenzuleben, hatte sie abge-
lehnt. Schließlich wollte sie nicht die Herzen dreier klei-
ner Jungen auf dem Gewissen haben. Doch das war nicht
ihr einziger Beweggrund. Er war einer dieser Männer,
die ständiger Pflege bedurften, ganz wie ihre verküm-
merten Kakteen. Das war eindeutig nicht ihr Fall.
Sie stand an der Küchenspüle. Ihr erster Abend zurück
in London, und er hatte sie versetzt. Von irgendwoher
wehte kühle Septemberluft he rein. Draußen tauchte ein
Zug auf, der unterwegs war zur Victoria Station. Strom-
leitungen über den Gleisen traten aufblitzend miteinan-
der in Kontakt, wobei eine Lichtspur entstand, die Frie-
das Gesicht und Hals wie ein Laserstrahl zerteilte, so
dass sie ganz kurz belichtet wurde, ein Röntgenbild vor
weißem Hintergrund, und dann sofort wieder in Dun-
kelheit versank. Es war eine Wohltat, wieder zu Hause
25
zu sein. Diese letzte Reise, das letzte Hotel war alles an-
dere als angenehm gewesen: ein Vier-Sterne-Hotel, aber
ohne Zimmerservice und mit einer leeren Minibar. Poli-
zei- und Militärfahrzeuge, die auf dem Platz vor dem Ho-
tel umherkurvten, und Lautsprecher, aus denen Anwei-
sungen dröhnten. Das Internet war von den Behörden in
der gesamten Region gesperrt worden, und die Straßen
waren wie leergefegt, abgesehen von den Soldaten, die
in Achterreihen mit vorgehaltenen Schutzschilden da-
hintrabten. Sie hatte am Fenster gestanden und ihr Te-
lefon angestarrt, als wäre es ein gebrochenes Herz in ih-
rer Hand. Jedes Mal, wenn sie eine Nummer im Ausland
wählte, leuchtete im Display die Anzeige »Keine Verbin-
dung« auf. Irgendwelche inneren Unruhen, doch was
genau los war, entzog sich vollständig ihrer Kenntnis;
sie wusste nur, dass sie an jenem Ort fehl am Platz war.
Wo? Das spielte eigentlich keine Rolle. Die Städte waren
mittlerweile so gut wie austauschbar. Es war einfach ein
weiterer Ort, an dem sie, als Engländerin, als Frau, nicht
länger sicher war. Wobei das Hauptprob lem ihre Natio-
nalität war. In Taxis erzählte sie den Fahrern immer, sie
sei Irin. Die Iren werden von niemandem mehr gehasst.
Sie hatte den nächstmöglichen Flug zurück nach
Hause genommen und während der gesamten langen
Reise an Nathaniel gedacht. In der Flughafenlounge –
dieser existentiellen Zone für Alleinreisende – kam sie
zu dem Schluss, dass die Frage der Kontrolle in letzter
Zeit nicht mehr so eindeutig zu beantworten war. Natha-
niels Unzuverlässigkeit löste in ihr eine brutale, fast
schon lähmende Frustration aus. Sie fühlte etwas Neues
26
in sich und erkannte mit Schrecken, dass es Bedürftig-
keit war oder, schlimmer noch, eine Sehnsucht nach
Beständigkeit. Zum ersten Mal genügte ihre Arbeit ihr
nicht mehr.
Vor der Wohnungstür wurde gehustet. Verflucht. Wo
sie sich doch gerade abgeschminkt hatte. Sie ging auf
die Tür zu, blieb dann aber stehen. Da war wieder das
Husten. Es war nicht Nathaniel. Sie wartete einen Au-
genblick, schlich dann leise zur Tür und spähte durch
den Spion. Im Treppenhaus brannte das Nachtlicht, und
auf dem Boden vor ihrer Tür saß ein Mann. Er lehnte
mit dem Rücken an der Wand und hatte die Beine vor
sich ausgestreckt. Seine Augen waren geschlossen, nur
wirkte er nicht so, als würde er schlafen.
Frieda wich mit heftigem Herzklopfen zurück, konnte
indes nicht widerstehen und sah abermals hi naus. Er
blickte jetzt zu ihr he rüber, als könnte er durch die Tür
hindurchsehen. Sie rechnete halb damit, dass er aufste-
hen und auf sie zukommen würde, doch er senkte den
Blick auf seine Hand, in der er einen Stift hielt, und
rührte sich nicht.
So leise wie möglich kehrte sie in die Küche zurück.
An der Pinnwand steckte die Telefonnummer der City
Guardians, einem Verein freiwilliger Helfer, die sich
dar um kümmerten, Obdachlose von der Straße zu ho-
len; diese Leute könnte sie jederzeit anrufen, oder doch
die Polizei? An der Tür befand sich ein doppeltes Schloss,
aber wenn sie es jetzt vorhängte, würde er das hören und
sie nur unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Statt-
dessen ging sie ins Wohnzimmer und stellte sich wieder
27
ans Fenster. Die Gruppe Jugendlicher mit ihren Handys
unten auf der Straße war nun verschwunden, und da
draußen schien niemand mehr zu sein – bloß der Regen
und der in der Nässe aufquellende Beton und die Bäume,
die unter der Last des Wassers zitterten. In Abständen
hörte sie das Husten aus dem Treppenhaus. Ein Stadt-
fuchs, mager und räudig, kam sekundenkurz unter den
Müllcontainern zum Vorschein. Frieda blickte auf die
leere, nasse Straße hi nab und traf einen Entschluss. Aus
einem Schrank holte sie eine Decke und ein Kissen. Sie
spähte ein weiteres Mal durch den Spion. Er hatte sich
inzwischen auf dem Boden zusammengerollt, so dass sie
nur seinen gekrümmten Rücken sehen konnte, seine Le-
derjacke, seinen schwarzen Haarschopf.
Sicherlich war es unklug, ihm den Nachweis zu lie-
fern, dass eine junge Frau hier wohnte, mutmaßlich
allein, dennoch öffnete sie die Tür. Sofort richtete der
Mann sich vom Boden auf und sah sie an. Er hatte ei-
nen Schnauzbart und verschlafen wirkende Augen, kein
unsympathisches Gesicht. Frieda sagte nichts, lächelte
nicht, reichte ihm einfach nur das Kissen und die Decke
und schloss dann eilig wieder die Tür. Fünf Minuten spä-
ter warf sie noch einmal einen Blick durch den Spion. Er
saß, mit dem Kissen im Nacken, an die Wand gelehnt da,
hatte sich die Decke um die Beine gewickelt und rauchte
eine Zigarette.
Am Morgen fand sie die Decke säuberlich zusammenge-
faltet vor, mit dem Kissen da rauf, und an der Wand ne-
ben ihrer Tür prangte eine große Zeichnung: ein Vogel
28
mit langem Schnabel, eigenartigen Beinen und einem
Federschweif – keine Art, die sie hätte identifizieren
können. Daneben standen ein paar Worte auf Arabisch,
die sie, obwohl sie Arabisch in Grundzügen beherrschte,
jedoch nicht zu entziffern vermochte. Da run ter war auf
Englisch zu lesen:
Wie der große Dichter sagt, leidest du,
gleich mir, unter dem Reisedrang eines Vogels.
Neben den Vogel war ein Schnörkel aus Pfauenfedern
gesetzt, und daneben die komplizierte Zeichnung eines
Schiffs, das aus einem Schwarm Möwen zusammenge-
fügt war, die sich im Flug neu formierten zu einem Son-
nenuntergang. Frieda trat auf den Flur hi naus, um sich
die Zeichnung genauer anzusehen. Kurz fuhr sie mit ei-
nem Finger über die schwarzen Linien und beugte sich
dann über das Geländer, um durch den Schacht des spi-
ralig gewundenen Treppenaufgangs nach unten zu se-
hen. Im Erdgeschoss schwang gerade der Putzmann sei-
nen Mopp über den Fliesenboden. Er sah zu ihr hoch
und nickte.