Top Banner
Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen der Ökonomie
116

Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Jun 01, 2020

Download

Documents

dariahiddleston
Welcome message from author
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
Page 1: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Ernst Fehr und Gerhard SchwarzPsychologische Grundlagen der Ökonomie

Page 2: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 3: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Psychologische Grundlagen

der Ökonomie

Über Vernunft und Eigennutz hinaus

Herausgegeben von Ernst Fehr und Gerhard Schwarz

Verlag Neue Zürcher Zeitung

Page 4: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

© 2002 Neue Zürcher Zeitung, Zürich

www.nzz-buchverlag.ch

ISBN 3-85823-958-5

Page 5: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Vorwort

Von aussen gesehen wirken die Wirtschaftswissenschaften oftwie «höhere Mathematik», wie ein sehr technisches Jonglieren mitDaten und Formeln in einem relativ mechanistischen Wirkungszu-sammenhang. Dabei geht unter, dass die Ökonomie letztlich eineHumanwissenschaft ist, eine Wissenschaft vom Verhalten der Men-schen. Diese Sichtweise – die nie ganz verschüttet war – hat in denletzten Jahren wieder stark an Bedeutung gewonnen. Das ist vor allemdem Aufkommen von mikroökonomischen Experimenten zu ver-danken, die methodisch für das Fach fast einer Revolution gleich-kommen.

Die Wirtschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung hat vordiesem Hintergrund während des ganzen Jahres 2001 zahlreiche Arti-kel über die «Psychologischen Grundlagen der Ökonomie» veröffent-licht, die hier nun in gesammelter Form vorliegen. Die Auswahl der Tex-te, die Kontaktierung der Autoren, die Übersetzung und redaktionelleBetreuung erfolgten dabei in enger Zusammenarbeit mit Prof. ErnstFehr vom Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der UniversitätZürich. Dieser war zugleich Leiter der 2001 den «Sozialen und psy-chologischen Grundlagen des Wirtschaftens» gewidmeten Europä -ischen Wissenschaftstage in Steyr (Österreich). Das erlaubte es, viele derdort vortragenden Wissenschafter auch noch zu einer zeitungsgerech-ten Fassung ihres Vortrages zu ermuntern.

Da die Artikel zum Teil im laufenden Wirtschaftsteil, zum Teilin besonderen Gefässen wie «Fokus der Wirtschaft» oder «Themen undThesen der Wirtschaft» erschienen sind, sind sie von deutlich unter-schiedlicher Länge. Sie werden hier in verschiedenen thematischenGruppen präsentiert. Abgesehen von kleineren Anpassungen, dem Ein-fügen von Zwischentiteln oder Untertiteln (wo diese fehlten) und eini-

5

Page 6: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

gen Korrekturen werden die Artikel so abgedruckt, wie sie seinerzeit inder Neuen Zürcher Zeitung erschienen sind.

Ein besonderer Dank gilt Suzann-Viola Renninger und Chri-stoph Eisenring. Sie haben einen grossen Teil der Last des Übersetzens,Redigierens und Kürzens oft viel zu langer Texte getragen und damitwesentlich zum vorliegenden Buch beigetragen.

Gerhard Schwarz

6

Page 7: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

7

Inhalt

Vorwort 5

I. Einführung

Ernst FehrÜber Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11

II. Markt und Motivation

Bruno S. FreyDie Grenzen ökonomischer Anreize 21

George LoewensteinReflektieren Marktpreise «wahre» Werte? 27

Colin CamererDer lange Weg zum Gleichgewicht 33

David Laibson/Jeromin ZettelmeyerDie Neue Ökonomie der Ungeduld 39

Page 8: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

III. Kooperation und Fairness

Simon Gächter«Erzwungene» Kooperation 49

Armin FalkFairness contra Eigennutz 55

Tom TylerHöhere Produktivität dank prozeduraler Gerechtigkeit 61

IV. Die kleine Gruppe und die grosse Gemeinschaft

Vernon SmithHandeln in zwei Welten 67

Samuel Bowles/Herbert GintisDie Gemeinschaft als Regelmechanismus 73

V. Geld und Finanzen

Robert J. ShillerParadigmenwechsel in der Finanzmarktforschung 83

Jean-Robert TyranGeldillusion und Geldpolitik 91

VI. Ein realistisches Menschenbild

Kurt DopferDie Rückkehr des verlorenen Menschen 99

Gerhard SchwarzEin Recht auf Unvernunft 107

Autoren 113

8

Page 9: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

I. Einführung

Page 10: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 11: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Ernst Fehr

Über Vernunft,

Wille und Eigennutz hinaus

Ansätze zu einer neuen Synthese von Psychologie und Ökonomie

Die meisten Ökonomen gehen in ihrer Theorienbildung vom vollständigrationalen, eigennützig handelnden Individuum aus. Dieses Menschenbildgreift jedoch in der Erklärung vieler Phänomene zu kurz. Oft bilden Wer-te wie Fairness und Reziprozität die Richtschnur wirtschaftlichen Handelns.Wirtschaftswissenschafter sind deshalb daran, psychologische Erkenntnissefür ihre Theorienbildung fruchtbar zu machen.

Für den Mainstream in den Wirtschaftswissenschaften zeichnensich wirtschaftliche Akteure durch perfekte Rationalität, uneinge-schränkte Willenskraft und unbeschränktes Streben nach Eigennutzaus. Doch zahlreiche Forschungsergebnisse der letzten 20 Jahre stellendieses Menschenbild systematisch in Frage. Inspiriert durch Erkennt-nisse der kognitiven Psychologie und der Sozialpsychologie, hat in denWirtschaftswissenschaften eine Entwicklung eingesetzt, die in dieserDisziplin zu den grundlegendsten Umwälzungen seit Jahrzehntenführen könnte. Menschen besitzen keine unbeschränkten kognitivenRessourcen, wie es das traditionelle Menschenbild der Wirtschaftswis-senschaften unterstellt. Stattdessen ist ein grosser Teil der wirtschaftli-chen Akteure durch beschränkte Rationalität und eingeschränkte Wil-lenskraft gekennzeichnet. Beschränkte Rationalität hat zur Folge, dasshäufig nicht die besten Mittel zur Erreichung der eigenen Ziele gefun-den werden. Selbst wenn die Menschen die besten Mittel kennen, sindsie manchmal wegen eingeschränkter Willenskraft nicht in der Lage,diese Mittel auch anzuwenden. Ausserdem legen viele Menschen nichtnur Wert auf materiellen Eigennutz, sondern lassen ihr Handeln auch

11

Page 12: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

von dem Bedürfnis nach Fairness und Gerechtigkeit leiten. Im Folgen-den werde ich illustrieren, weshalb diese drei Merkmale menschlichenVerhaltens – beschränkte Rationalität, eingeschränkte Willenskraft undbeschränkter Egoismus – manches Fundament der modernen Ökono-mik erschüttern.

Beschränkte Rationalität

Die traditionelle Finanzmarkttheorie unterstellt die vollständige Ratio-nalität aller Akteure auf den Finanzmärkten. Mit Rationalität lässt sichdas geradezu exzessive Handelsvolumen an den Finanzmärkten aller-dings nicht erklären – an der New Yorker Börse wechseln beispielswei-se 76 % aller Aktien einmal im Jahr den Besitzer. Verständlich wird dasVerhalten der Akteure erst dann, wenn ihre Psychologie genauer unter-sucht wird. Viele Menschen haben typischerweise ein zu grosses Ver-trauen in ihre Kenntnisse der Finanzmärkte und werden dadurch zuexzessiv vielen Transaktionen verleitet. Barber und Odean (2001)bestätigen etwa in einer gerade erschienenen Arbeit, dass unter den amFinanzmarkt tätigen Akteuren Männer auf Grund dieser übermässigenTauschtätigkeit den Ertrag ihrer Finanzmarktaktivitäten nicht nur nichterhöhen, sondern ihn sogar um 2,65 Prozentpunkte pro Jahr senken.Doch auch Frauen tauschen zu viel. Bei Frauen beträgt der durch-schnittliche Verlust durch exzessive Tauschtätigkeit aber «lediglich» 1,72Prozentpunkte.

Ein kluger Kenner der Finanzmarktökonomik wird einwenden,dass für ein rationales Funktionieren der Märkte nicht die Rationalitätaller Akteure notwendig ist. Eine hinreichend grosse Minderheit vonrationalen Akteuren könnte schon ausreichen. Sofern es nämlich mög-lich ist, aus der Unvernunft der Mehrheit der Akteure Kapital zu schla-gen, würden Preisverzerrungen – so der Einwand – bald beseitigt wer-den. Wenn beispielsweise eine Aktie zum Wert von 500 gehandelt wird,obwohl der wahre (fundamentale) Wert lediglich 300 beträgt, kannman erwarten, dass sich der Preis «irgendwann einmal» wieder demwahren Wert annähert. Rationale Händler könnten daher einen Anreizhaben, die Aktie heute oder zumindest in naher Zukunft zu verkaufen,

12

Page 13: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

wodurch der Preis sinken und sich dem wahren Wert annähern wür-de.

Doch wer kennt schon den wahren Wert einer Aktie? Und waspassiert, wenn man glaubt, dass die Aktie noch für einige Zeit im Wertsteigen wird und erst dann sinkt? In diesem Fall lohnt es sich, noch mehrvon diesen Aktien zu erwerben, um vom vorübergehenden Wertzu-wachs profitieren zu können. Dies wiederum treibt den Aktienpreisweiter vom wahren Wert weg. Dieses Beispiel zeigt, dass selbst ein ratio-naler Händler den Anreiz haben kann, der Mehrheit der irrationalenAkteure zu folgen, anstatt deren Verhalten zu konterkarieren. Mehrnoch, selbst wenn zwar alle Akteure rational sind, aber glauben, dass esgenügend viele irrationale Marktteilnehmer gibt, die den Preis hoch -treiben, lohnt es sich für die rationalen Akteure ebenfalls, die Aktievorübergehend zu kaufen. Der Glaube an die Existenz von irrationalenAkteuren kann demnach eine Preisblase hervorrufen, wodurch der Akti-en preis für längere Zeit vom wahren Wert abweichen kann.

Die neuere Forschung (z. B. Loewenstein, 2000) zeigt, dassneben Beschränkungen in der Rationalität auch Ungeduld und Wil-lensschwäche die ökonomischen Entscheidungen beeinflussen können –ein Umstand, der bisher ebenfalls von der Ökonomik vernachlässigtwurde. Aus einer Menge von verfügbaren Entscheidungen die richtigezu finden, ist etwas anderes, als diese Entscheidung auch tatsächlich indie Tat umzusetzen. Oft fehlt es dazu an Willensstärke und Geduld. Dieunmittelbare Bedürfnisbefriedigung scheint häufig ein stärkeres Motivzu sein. So sind sich die meisten Menschen bewusst, dass sie für ihr AlterGeld zurücklegen sollten. Und doch erliegen viele der Versuchung, dasGeld sofort auszugeben, um sich etwa eine Urlaubsreise zu gönnen.

Die Verführungskraft sofortigen Genusses, welche alle guten Vor-sätze zunichte macht, wird auch in einer Reihe von Verhaltensexperi-menten bestätigt. Auf die Frage beispielsweise, welche Filme sie sich inZukunft gerne anschauen würden, wählten viele Teilnehmer eines Expe-rimentes intellektuell und moralisch anspruchsvolle Filme. Diese Ent-scheidung für ein unbestimmtes «später» war allerdings rasch vergessen,wenn es um die Frage des unmittelbaren Konsums ging. Stand die Frei-zeitgestaltung noch am selben Abend zur Debatte, fiel die Wahl meist

13

Page 14: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

auf einen leichten Unterhaltungsfilm. Vor diesem Hintergrund könnenobligatorische Rentenversicherungen oder die steuerliche Begünstigungder privaten Altersvorsorge als mögliche Massnahmen der Politik begrif-fen werden, der Neigung vieler Menschen entgegenzusteuern, widerbesseres Wissen ihr eben verdientes Geld gleich wieder auszugeben.

Fairness und Arbeitsmarkt

Für die Funktionsweise von Arbeitsmärkten und Unternehmen sind dieFairness- und Gerechtigkeitsvorstellungen von Arbeitnehmern vonerheblicher Bedeutung. Die Personalverantwortlichen von Unterneh-men wissen, dass die Lohnstruktur eines Unternehmens ein fein austa-riertes System ist, das auch den Fairnessvorstellungen der Arbeitnehmergenügen muss. Eine als unfair empfundene Lohnstruktur kann dieArbeitsmoral und die Produktivität negativ beeinflussen. Aus demsel-ben Grund werden Kürzungen von Nominallöhnen in den meistenMarktwirtschaften sehr selten vorgenommen, da diese von den Beschäf-tigten als Affront empfunden werden. Kürzungen sind meistens nurdurchsetzbar, wenn damit glaubhaft Arbeitsplätze gesichert werden kön-nen.

Die traditionelle Arbeitsmarkttheorie unterstellt, dass die Löhneausschliesslich durch Angebot und Nachfrage auf den Märktenbestimmt werden, wenn Staat und Gewerkschaften der Lohnbildungfreien Lauf lassen. Doch Fairness- und Gerechtigkeitsvorstellungen vonArbeitnehmern üben einen unabhängigen Einfluss auf die Lohnbildungaus. Dadurch wird die Flexibilität der Löhne – insbesondere nachunten – eingeschränkt. Diese Einschränkung trägt vermutlich mit zurArbeitslosigkeit bei, reduziert die Anpassungsfähigkeit der Arbeits-märkte und hat daher weitreichende Konsequenzen für die Geldpolitik.

Eine Geldpolitik, die zu niedrige Inflationsraten anstrebt, läuftGefahr, Arbeitslosigkeit zu erzeugen, da Reallohnsenkungen bei sehrniedrigen Inflationsraten nur noch mittels einer Senkung der Nomi-nallöhne erzielt werden können. Nominallohnsenkungen werden abervon den Unternehmen wegen ihrer negativen Auswirkungen auf dieArbeitsmoral und die Produktivität der Beschäftigten gescheut, so dass

14

Page 15: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

«ökonomisch gebotene» Lohnanpassungen unterbleiben. Eine neuereArbeit von Fehr und Goette (2000) zeigt beispielsweise, dass in derSchweiz in den Jahren 1991–1997 nur ganz wenige Nominallohnsen-kungen durchgeführt wurden, obwohl auf Grund der sehr niedrigenInflationsraten und der faktischen Stagnation bei einem grossen Teil derArbeitnehmer solche Senkungen «ökonomisch geboten» gewesen wären.Die Schätzungen legen nahe, dass die Rigidität der Nominallöhne denAusstieg aus der Rezession, in der sich die Schweizer Wirtschaft damalsbefand, erheblich erschwerte.

Eine allgemeine Theorie ist nicht in Sicht

Die Liste der Beispiele für beschränkt rationales Verhalten, für die Exi-stenz von Präferenzen für Fairness, von Ungeduld und Willensschwächeliesse sich fast noch beliebig verlängern. Der interessierte Leser kann vie-le weitere Beispiele im Buch «The Winner’s Curse» von Richard Thalerfinden. Warum hat es so lange gedauert, bis die Wirtschaftswissen-schaften angefangen haben, diese Phänomene zur Kenntnis zu nehmen?Ein Grund liegt darin, dass es sich als ausserordentlich schwierig erwie-sen hat, die oben beschriebenen Faktoren in befriedigender Weise syste-matisch in eine umfassende Theorie einzubauen. Ökonomen haben zuRecht eine Abneigung dagegen, jedes neu auftauchende Phänomen miteiner neuen Partialtheorie zu erklären. Denn wenn es nicht gelingt, dieverschiedenen Partialtheorien im Rahmen einer allgemeineren Theoriekonsistent miteinander in Beziehung zu setzen, dann ist die Gefahrgross, lediglich post hoc Rationalisierungen zu liefern und letztlich garnichts zu erklären.

Ausserdem kann sich der Prozess der Theorienbildung nichtallein auf Glaube, Intuition und Alltagserfahrung verlassen. Stattdessenwerden präzise wissenschaftliche Untersuchungen benötigt, um die Ein-schränkungen von Rationalität, Willenskraft und Eigennutz nachzu-weisen. Ein grosses Problem der Wirtschaftswissenschaften besteht inder Mangelhaftigkeit der verfügbaren Daten. Diese sind typischerwei-se nicht in kontrollierten Experimenten erhoben worden und deshalbdurch viele unbekannte und unkontrollierbare Einflüsse «verunreinigt».

15

Page 16: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Zwei Beispiele sollen die Problematik mangelhafter Daten verdeutli-chen. Es gibt gute Gründe für die Vermutung, dass durch irrationalesInvestorenverhalten der tatsächliche Preis einer Aktie für längereZeiträume vom Fundamentalwert der Aktie abweichen kann. Dergenaue empirische Nachweis dieser Vermutung ist mit den üblichenDaten fast nie möglich, da diese Daten es nicht erlauben, den Funda-mentalwert der Aktie mit genügender Präzision zu erkennen. ÄhnlicheProbleme ergeben sich, wenn man aus den Handlungen von Akteurenpräzise Schlussfolgerungen über ihre Motive ziehen will. Wie sollen wirbeispielsweise eine Situation interpretieren, in der Person A einer ande-ren Person B unter Aufwendung eigener Kosten hilft? Ist diese Hilfe -leistung von A altruistisch motiviert oder doch eher egoistisch, da A inZukunft eine Gegenleistung von B erwartet?

Wirtschaft unter Laborbedingungen

Derartige Probleme konnten erst durch die Entwicklung experimentel-ler Methoden in den Wirtschaftswissenschaften abgeschwächt oderbehoben werden. Bei den im Labor durchgeführten Finanzmarktexpe-rimenten ist es beispielsweise möglich, den Fundamentalwert eines imLabor gehandelten Wertpapiers ganz genau festzulegen und ihn mitdem sich im Experiment bildenden Laborpreis zu vergleichen. Mankann daher beschränkt rationales Verhalten im Labor mit viel grössererSicherheit und Präzision nachweisen; ähnliches gilt auch für den Nach-weis «sozialer Präferenzen». In Laborexperimenten kann sichergestelltwerden, dass die Personen A und B völlig anonym miteinander inter -agieren und dass B keine Gegenleistung an A erbringen kann. Dadurchkann ausgeschlossen werden, dass die Hilfeleistung von A durch eineerwartete Gegenleistung motiviert ist.

Neben dem Problem mangelhafter Daten gibt es noch andereGründe für die zögerliche Anerkennung eines realistischeren und psy-chologisch adäquateren Menschenbildes. Es gibt wichtige Fakten, diemit dem Menschenbild der traditionellen Ökonomie konsistent sind.Ein schönes Beispiel dafür sind die experimentellen Doppelauktions-märkte. In einer Doppelauktion können sowohl die Anbieter als auch

16

Page 17: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

die Nachfrager eines Gutes Preisvorschläge machen. Die traditionelleTheorie des vollständigen Wettbewerbs unterstellt, dass alle Anbieterund Nachfrager vollkommen rational und egoistisch sind. Diese Theo-rie prognostiziert, dass der Preis und die gehandelte Gütermenge aufeinem Wettbewerbsmarkt durch den Schnittpunkt von Angebots- undNachfragekurve bestimmt werden. Experimentelle Doppelauktions-märkte haben diese Prognose tausendfach eindrucksvoll bestätigt. Nachwenigen Perioden pendelt sich der Preis und die gehandelte Menge desGutes nahe beim Schnittpunkt von Angebots- und Nachfragekurve ein.Diese Tatsache wurde von vielen älteren experimentellen Ökonomen alsein Beleg für die Richtigkeit der Rationalitäts- und Eigennutzannahmeder traditionellen Theorie interpretiert.

Doch die Konsistenz einer Theorie mit einzelnen Fakten ist alleinnoch kein Grund für ihre Richtigkeit, sofern die Theorie wichtigen neu-en Fakten widerspricht. Auch falsche Theorien können mit gewissenFakten übereinstimmen. Solange es aber keine vollständig ausgearbei-teten Alternativtheorien gibt, die alte und neue Phänomene konsistenterklären können, werden Konventionen und Trägheit häufig dafür sor-gen, dass die Konsistenz der vorherrschenden Theorie mit den «alten»Fakten als «Beweis» für die Richtigkeit dieser Theorie interpretiert wird.

Der traditionelle Konsens bröckelt

Glücklicherweise gibt es mittlerweile auf einigen Gebieten alternativeTheorien, die Ungeduld, Willensschwäche und die Präferenzen für Fair -ness berücksichtigen. Diese Theorien können eine beeindruckende Füllevon disparaten Fakten systematisch erklären. Die neueren Fairnesstheo -rien (z. B. Fehr und Schmidt 2001) zeigen beispielsweise, dass man häu-fig zu völlig anderen Prognosen als die herkömmliche Theorie gelangt,selbst wenn nur ein kleiner Teil der Akteure durch Fairness motiviert ist.Es fehlt jedoch weiterhin eine allgemeine Theorie beschränkt rationalenVerhaltens. Die Phänomene beschränkter Rationalität haben sich bisherfür eine allgemeine Theorie als zu «sperrig» und zu vielschichtig erwiesen.

Trotz diesen ungelösten Problemen gibt es deutliche Hinweise,dass der bisherige Konsens über das Menschenbild in den Wirtschafts-

17

Page 18: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

wissenschaften zunehmend ausgehöhlt wird. Die Anzahl der Fach-beiträge in den weltbesten wissenschaftlichen Zeitschriften, die sich mitdiesen Fragen beschäftigen, ist in den letzten Jahren sprunghaft gestie-gen. Die amerikanischen und europäischen Spitzenuniversitäten kon-kurrieren um die Anstellung von Forschern, die im Grenzbereich vonPsychologie und Ökonomie arbeiten. Führende Theoretiker wie z. B.der derzeitige Präsident der European Economic Association, Jean Tiro-le, wenden sich dieser Thematik zu, und die Hauptvorträge auf grosseninternationalen Tagungen behandeln in zunehmendem Masse Themenaus dem Grenzbereich von Psychologie und Ökonomie. Auf der kom-menden Jahrestagung der European Economic Association, die EndeAugust 2001 in Lausanne stattfindet, sind beispielsweise alle Haupt-vorträge diesem Thema gewidmet. Die Umwälzung gewinnt also anFahrt, aber derzeit weiss noch niemand genau, wo die Fahrt enden wird.

Literatur

Barber, B. M., und Odean, T.: Boys will be Boys: Gender, Overconfidence, andCommon Stock Investment. Quarterly Journal of Economics 116 (2001),S. 261–290.

Fehr, E., und Goette, L.: Robustness and Real Consequences of Nominal Wage Rigi-dity. Working Paper No. 45, Institute for Empirical Research in Economics,Universität Zürich, Zürich 2000 (www.iew.unizh.ch/home/fehr/).

Fehr, E., und Schmidt, K.: Theories of Fairness and Reciprocity – Evidence and Eco-nomic Applications. Erscheint in: M. Dewatripont, L. P. Hansen und S.Turnovski: Advances in Economic Theory, Eigth World Congress of theEconometric Society. Cambridge University Press, Cambridge 2001(www.iew.unizh.ch/home/fehr).

Loewenstein, G.: Willpower – A Decision Theorist’s Perspective. Law and Philoso-phy 19 (2000), S. 51–76.

Shleifer, A.: Inefficient Markets: An Introduction to Behavioral Finance. Claren-don Lectures, Oxford University Press, Oxford 2000.

Thaler, R.: The Winner’s Curse – Paradoxes and Anomalies of Economic Life. Prin-ceton University Press, Princeton 1994.

18

Page 19: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

II. Markt und Motivation

Page 20: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 21: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Bruno S. Frey

Die Grenzen

ökonomischer Anreize

Was Menschen motiviert

Die Menschen unterliegen zweierlei Arten von Motivation. Zum einen tunsie vieles, weil sie für ihr Tun in der einen oder anderen Form belohnt wer-den. Zum anderen unternehmen sie vieles aber einfach aus sich heraus; mitdieser «intrinsischen Motivation» muss sich die Ökonomie vermehrt be -fassen, wenn sie realitätsnäher werden will.

«Leistungswillige Mitarbeiter haben eine hohe Arbeitsmoral.»Für die meisten Menschen erscheint diese Aussage selbstverständlich.Diese Aussage kontrastiert aber mit einer zweiten: «Menschen arbeitenumso härter, je mehr sie dafür bezahlt werden.» Auch diese Aussage istvernünftig. Sie entspricht dem traditionellen ökonomischen Denkan-satz. Der Mensch wird als eigennütziges Individuum gesehen, das sta-bile Wertvorstellungen hat und in erster Linie an Einkommen interes-siert ist («homo oeconomicus»). Arbeitsmoral spielt in dieser Theoriekeine bestimmende Rolle. Individuen reagieren systematisch auf vonaussen gesetzte Anreize: Eine Preiserhöhung (im Vergleich mit anderenPreisen) vermindert die nachgefragte Menge und steigert die angebote-ne Menge. Dieser Preiseffekt gilt auch für Aktivitäten: Wenn Individu-en für eine Tätigkeit mehr Geld bekommen, werden sie diese Aktivitätauch vermehrt unternehmen. Dieses Menschenbild ist mit grossemErfolg auf Bereiche ausserhalb der Wirtschaft angewandt worden. Eseignet sich vorzüglich, viele Phänomene in den Gebieten der Umwelt,der Politik («Public Choice»), des Rechts («Law and Economics»), desSports, der Kriminalität und sogar der Familie und der Kunst zuerklären.

21

Page 22: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Nicht wegen des Geldes allein …

Seit einigen Jahren besinnt sich die Ökonomie aber wieder verstärkt aufihre sozialwissenschaftlichen Wurzeln. Sie bemüht sich, ihr Menschen -bild zu erweitern, indem sie Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie undder Soziologie einbaut. Im Vordergrund steht dabei die Motivation fürmenschliches Handeln: Der Mensch tut vieles einfach aus sich selbstheraus (intrinsische Motivation); er handelt nicht nur, weil er dazu vonaussen einen – oft monetären – Anreiz erhält (extrinsische Motivation).

Es lassen sich drei wichtige Ausformungen der intrinsischenMotivation unterscheiden:

Erstens kann eine Tätigkeit selbst Vergnügen bereiten, d. h. ein«freudiges Fluss-Erlebnis» ermöglichen. Beispiele sind Skilaufen, Musi-zieren oder das Lesen eines spannenden Romans.

Zweitens kann es um das Einhalten von Normen um ihrer selbstwillen gehen. Es können dies ethische Normen sein, z. B. andern Per-sonen nicht mutwillig zu schaden. In Organisationen sind darüber hin-aus Fairness-Normen und Gruppenzugehörigkeits-Normen («Team-geist») von besonderer Bedeutung.

Drittens kann es sich um das Erreichen eines selbst gesetztenZiels handeln, auch wenn der Weg zum Ziel alles andere als lustvoll ist,z. B. das Erstellen einer Examensarbeit oder das Besteigen eines Berges.

Der Verdrängungseffekt

Intrinsische und extrinsische Motivation lassen sich nicht einfachzusammenzählen. Sie sind unter bestimmten Bedingungen negativ mit-einander verknüpft: Von aussen kommende Eingriffe können die intrinsische Motivation beeinträchtigen. Kinder, die sich ursprünglichfür ihre Schularbeiten interessierten, verlieren einen Teil des Interesses,wenn ihnen eine Belohnung für die Erfüllung der Aufgabe in Aussichtgestellt wird. Die Eltern erreichen damit, dass das Kind fast nur nochgegen Geld Schularbeiten macht. Damit ist ein Verdrängungseffekt ein-getreten. Im schlimmsten Fall stellt das Kind auch den Müll nur nochgegen Entgelt vor die Haustür.

22

Page 23: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Wo der Verdrängungseffekt spielt, unterhöhlt oder eben ver-drängt ein von aussen kommender (extrinsischer) Eingriff den intrinsi-schen Antrieb zur Ausübung einer Tätigkeit. Viele Beobachtungen deu-ten auf die Bedeutung des Verdrängungseffektes in Wirtschaft undGesellschaft hin. Auch empirisch ist er gut gestützt: In sorgfältigenLaborexperimenten wurde der Verdrängungseffekt bestätigt. Feld -untersuchungen zeigen das gleiche Bild, besonders, wenn eine Bezie-hung bisher auf freiwilliger Kooperation und gegenseitiger Rücksicht-nahme gründete, nun aber durch Bezahlung zu einer geschäftlichenBeziehung wird.

Der Verdrängungseffekt wurde – um ein Beispiel zu nennen – fürein wichtiges Gegenwartsproblem nachgewiesen: die Schwierigkeit odergar Unmöglichkeit, Standorte für gesamtgesellschaftlich vorteilhafte,lokal aber unerwünschte Projekte zu finden. Dazu gehören etwa Son-dermülldeponien, Überlandstrassen, Flughäfen oder Gefängnisse. Oftwird versucht, jene Gemeinden, die solche Projekte aufzunehmen bereitsind, mit Geldzahlungen für die entstehenden Nachteile zu kompen-sieren. Eine Untersuchung über das nukleare Endlager in der Gemein-de Wolfenschiessen hat jedoch ergeben, dass monetäre Kompensationenkontraproduktiv wirken. Als den betroffenen Bürgerinnen und Bürgerngrosszügige Geldzahlungen für die Aufnahme des Endlagers gebotenwurden, fiel die Akzeptanz von anfänglich 50,8 % (ohne Kompensati-on) auf 24,6 %. Das Geldangebot verdrängte offenbar den Bürgersinnder Betroffenen. Gemeint ist eine intrinsische Bereitschaft, zur Lösungvon Problemen der Gesamtgesellschaft freiwillig einen Beitrag zu lei-sten.

Der Verdrängungseffekt lässt sich auf den psychologischen Pro-zess der verminderten Selbstbestimmung zurückführen. Ein als kon-trollierend empfundener Eingriff von aussen vermittelt ein Gefühl derFremdsteuerung; die intrinsische Motivation wird verdrängt. Ein alsinformierend empfundener Eingriff verstärkt hingegen die erlebte Kom-petenz und akzentuiert sogar die intrinsische Motivation. Je nachdem,welcher Aspekt im Vordergrund steht, wird die intrinsische oder dieextrinsische Motivation in einem sich selbst verstärkenden Prozessgefördert. Der Verdrängungseffekt ist für die Ökonomie so zentral, weil

23

Page 24: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

er dem Preiseffekt entgegenwirkt. In vielen Fällen wird deshalb dieursprünglich beabsichtigte Wirkung des Preiseffekts nicht erreicht. Obim Einzelfall der Preis- oder Verdrängungseffekt überwiegt, hängt vonverschiedenen Faktoren ab.

Leistungslöhne und ihre Tücken

Variable Leistungslöhne (pay for performance) gelten seit geraumer Zeitals Kennzeichen eines fortschrittlichen Führungsinstrumentariums. Vorallem die Zuteilung von Boni oder Aktienoptionen wird vielerorts alsInbegriff einer leistungsfördernden Entlohnung angesehen. Diese Ent-wicklung bedeutet jedoch, dass Firmen, Behörden und andere Organi-sationen vermehrt auf extrinsische Motivatoren abstellen, anstatt auf dieintrinsische Motivation der Angestellten zu vertrauen. Vor dem Hin-tergrund des Verdrängungseffektes scheint die Forcierung von varia-blen Leistungslöhnen verfehlt. Unternehmungen sind aus mehrerenGründen auf die intrinsische Motivation ihrer Mitarbeiter angewiesen.

Unternehmen werden ins Leben gerufen, weil nicht alle Tätig-keiten auf befriedigende Weise als externe Dienstleistung auf dem Markteingekauft werden können. Dazu gehören alle Tätigkeiten von Mitar-beitern, die Auswirkungen auf andere Mitarbeiter haben, ohne dass die-se Effekte sich präzise zurechnen liessen. Beispiele sind der gute Rufeines Unternehmens, seine besondere Unternehmenskultur und guteBeziehungen zu Kunden und Lieferanten. Nur an ihrem eigenen Vor-teil interessierte Mitarbeiter tragen freiwillig nichts dazu bei. Sie ver-halten sich als Trittbrettfahrer. Die firmenspezifischen Gemeingüter ent-stehen nur, wenn eine vorgesetzte Person anordnen und überwachenkann. Bei den geschilderten, nicht greifbaren Ressourcen ist dies kaummöglich. Intrinsisch motivierte Mitarbeiter hingegen strengen sich indiesem Fall an, um einen Beitrag zu den Gemeingütern zu leisten.

Auch die Übertragung von nicht kodierbarem implizitem Wis-sen kann kaum durch Bezahlung oder Befehl erzwungen werden. EineFirma ist deshalb zu grossen Teilen auf die intrinsische Motivation derMitarbeiter angewiesen. Neues Wissen ist heute der wichtigste strategi-sche Wettbewerbsvorteil, und deshalb wird die intrinsische Motivation

24

Page 25: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

der Mitarbeitenden zu einer zentralen strategischen Ressource. Kreati-ve, innovative Tätigkeiten beruhen weitgehend auf intrinsischer Moti-vation. Hingegen behindert extrinsische Motivation die Geschwindig-keit und die Intensität des Lernens. Die Lerngeschwindigkeit und daskonzeptuelle Verständnis werden durch Überwachung verringert. Unterdem Druck einer ausgesetzten Belohnung werden weniger anspruchs-volle Niveaus der Lernleistung bevorzugt. Es wird flüchtiger gearbeitet.

Intrinsische Motivation ist zwar wichtig, gleichwohl ist extrinsi-sche Motivation unter bestimmten Bedingungen unabdingbar. Moti-vation ist kein Selbstzweck, sondern sollte den Zielen der Unternehmendienen. Dies lässt sich oft einfacher durch extern gesetzte Anreize errei-chen. Allerdings verzichtet man in diesem Fall darauf, das innere Feuerzu entfachen. Intrinsische Motivation kann auch unerwünschte Inhal-te haben. Neid, Rachsucht und Geltungstrieb sind nicht weniger intrinsisch motiviert als Altruismus, Pflichtbewusstsein und Liebe.Extrinsische Motivation kann hingegen unerwünschte Emotionen dis-ziplinieren. Dennoch bleibt die Quintessenz: Sowohl in Firmen wieauch in der Wirtschaft und Gesellschaft sollte eine geeignete intrinsi-sche Motivation bewahrt und gefördert werden. Monetäre Anreize sindzur Zielerreichung nicht immer geeignet.

Literatur

Frey B. S.: Not Just for the Money. An Economic Theory of Personal Motivation.Cheltenham, Northampton 1997.

Frey B. S. und Osterloh M. (Hrsg.): Successful Management by Motivation. Sprin-ger Verlag, Berlin-Heidelberg 2002.

Fehr E. und Falk A.: Psychological Foundations of Incentives. Schumpeter Lectu-re der European Economic Association. Erscheint in: European EconomicReview, Papers and Proceedings 2002 (www.iew.unizh.ch/home/fehr/).

25

Page 26: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 27: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

George Loewenstein

Reflektieren Marktpreise

«wahre» Werte?

Hohes Mass an Beliebigkeit bei der Bewertung von Gütern

In der neoklassischen ökonomischen Theorie wird angenommen, dass dieKonsumenten ihre Präferenzen kennen und dass Marktpreise dementspre-chend «wahre» (marginale) Zahlungsbereitschaften reflektieren. DieseAnnahme wird in Experimenten regelmässig widerlegt. Deshalb sollte dieInstitution Markt nicht so sehr mit überlegener Effizienz legitimiert wer-den, als vielmehr mit der Wahlfreiheit der Konsumenten.

In einer berühmten Passage aus Mark Twains Roman «TomSawyer» steht der Protagonist vor der Situation, den Zaun seiner Tantestreichen zu müssen. Da er die Schadenfreude seiner Freunde fürchtet,legt er sich einen einfachen Plan zurecht: Er tut so, als mache ihm dieArbeit Spass. Ein Freund nach dem anderen fällt auf Tom Sawyers Listherein. Nicht nur, dass sie um Toms Platz am Zaun betteln, die Arbeitbereitet ihnen auch noch Spass. Twain schliesst daraus, dass Tom, «ohnedies beabsichtigt zu haben, ein bedeutendes Gesetz des menschlichenVerhaltens entdeckt hat. Um einem Mann oder einem Jungen eineSache begehrenswert erscheinen zu lassen, muss man sie nur schwererreichbar machen.»

Beliebige fundamentale Bewertung

Twains Anschauung steht in starkem Widerspruch zur modernen öko-nomischen Theorie, die annimmt, dass die Leute eine klare Vorstellungdavon haben, was sie wollen und was sie gerne mögen. Die Preise vonKonsumgütern wie Schokolade, CDs, Kinofilmen, Massagen und

27

Page 28: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Ferien reflektieren demnach zugrunde liegende «fundamentale» Werte –in diesem Fall den Genuss, den sich die Konsumenten von diesen Pro-dukten versprechen. Es ist jedoch kaum möglich, diese fundamentalenWerte direkt zu messen. Daher besitzt die Idee einer fundamentalenBewertung den Status eines unbeweisbaren Glaubenssatzes. Neue For-schungsarbeiten von Dan Ariely und Drazen Prelec von der SloanSchool of Business des MIT sowie von George Loewenstein von derCarnegie Mellon University legen nahe, dass dieser Glaube möglicher-weise nicht gerechtfertigt ist. Die neuen Forschungsarbeiten weisennämlich darauf hin, dass es ein hohes Mass an Beliebigkeit in denBewertungen sogar der grundlegendsten Konsumgüter gibt. In einerStudie verkauften die Forscher Konsumgüter – etwa eine 100 $ teuredrahtlose Tastatur, eine Computermaus, eine teure und eine wenigerteure Flasche Wein und eine luxuriöse Bonbonnière – an Doktorandender Betriebswirtschaft. Die Studenten bekamen immer nur ein Produktpräsentiert und wurden gefragt, ob sie dieses zu demjenigen Preis kau-fen würden, der sich aus den letzten beiden Stellen ihrer Sozialversi-cherungsnummer zusammensetzt. Die Sozialversicherungsnummer isteine im Wesentlichen zufällige Identifikationsnummer, die manbenötigt, um in den USA einen Arbeitsplatz zu erhalten. Endete dieNummer beispielsweise mit den Ziffern 3 und 4, betrug der Preis desProduktes 34 $. Anschliessend wurden die Studenten nach demHöchstpreis gefragt, den sie für das Produkt zu zahlen bereit wären. Beider Befragung wurde ein Verfahren eingesetzt, das den Leuten einenAnreiz gab, ihre «wahren» Präferenzen zu offenbaren. Die Resultatewaren verblüffend. Obwohl die Studenten daran erinnert wordenwaren, dass ihre Sozialversicherungsnummer im Wesentlichen zufälligist, waren jene mit einer hohen Nummer bereit, deutlich mehr für dieProdukte zu bezahlen. Beispielsweise bewerteten die Studenten miteiner Nummer in der unteren Hälfte der Verteilung die weniger teureFlasche Wein – einen 1998er Côte du Rhône Jaboulet «Parallel 45» –mit $ 11.62, während jene mit einer Nummer in der oberen Hälfte derVerteilung den Preis für dieselbe Flasche mit $ 19.95 ansetzten.

28

Page 29: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Kohärente relative Bewertung

Wenn Konsumenten in der Bewertung von Gütern so unsicher sind,wie kann dann die Wirtschaft als Ganzes funktionieren? Ein zweiterAspekt dieser Studie gibt einen Hinweis darauf. Die Studenten schei-nen zwar wenig Verständnis für die «wahren» Werte der verschiedenenProdukte zu haben, dafür besitzen sie aber ein übereinstimmendesGespür für die relative Bedeutung von Produkten. So bewerteten alleStudenten unabhängig von der Sozialversicherungsnummer die feinereFlasche Wein – einen 1996er Hermitage Jaboulet «La Chapelle» – höherals den Côte du Rhône. Die Studenten wussten, dass der bessere Weinmehr wert ist als der schlechtere, auch wenn ihnen nicht klar war, wiesie unterschiedliche Weine für sich bewerten sollten. Ariely, Loewen-stein und Prelec bezeichnen diesen Umstand als «kohärente Beliebig-keit». Ein Betrachter, der nur die relativen Preise der beiden Weinebeobachtet, würde den voreiligen Schluss ziehen, dass sich die Konsu-menten perfekt gemäss der ökonomischen Theorie verhalten.

In einer zweiten Studie, die eine noch engere Analogie zu TomSawyers Geschichte darstellt, fragten die Forscher eine Gruppe von Stu-denten, ob sie bereit wäre, gegen eine Entlohnung von 10 $ einem10-minütigen Vortrag ihres Professors aus der Gedichtsammlung «Lea-ves of Grass» zuzuhören. Eine andere Gruppe von Studenten wurdedagegen gefragt, ob sie bereit wäre, dafür 10 $ zu zahlen. Wiederumwaren die Antworten der Studenten stark von der ursprünglichen Fra-ge abhängig. Jene, die gefragt worden waren, ob sie fürs Zuhören zah-len würden, waren auch tatsächlich bereit, dafür einen Obolus zu ent-richten, während jene, denen man eine Bezahlung fürs Zuhörenangeboten hatte, auch wirklich bezahlt werden wollten. Doch unab-hängig davon, ob die Erfahrung des Zuhörens als positiv oder negativeingeschätzt wurde: Für länger dauerndes Zuhören nannten die Stu-denten höhere Geldwerte.

Das Muster willkürlicher absoluter, aber kohärenter relativerBewertungen lässt sich nicht nur bei Konsumgütern beobachten, son-dern auch in vielen anderen Bereichen der Wirtschaft. Zum Beispiel istder «wahre» Wert von Aktien nicht eindeutig bestimmbar, was zu

29

Page 30: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

erklären vermag, warum Börsenbewertungen in kurzer Zeit starkenSchwankungen unterliegen können. Der Ökonom Robert Shiller(1998) schreibt dazu: «Wer wollte wissen, wie hoch der Wert des DowJones Industrial Index sein sollte? Ist er wirklich heute 6000 Punkte‹wert›? Oder 5000 oder 7000? Oder 2000 oder 10 000? Es gibt keineallgemein anerkannte ökonomische Theorie, die diese Fragen beant-worten könnte.» Während der Gesamtwert des Marktes oder die Bewer-tung einer spezifischen Unternehmung also unbekannt sind, gehen dieLeute wiederum vernünftig mit marginalen Änderungen um. Wennz. B. ein Aktiensplit 2 : 1 beträgt, dann drücken die Investoren den Kursauf ungefähr 50 % hinunter.

Ein anderes Beispiel für die Beliebigkeit der Bewertung ökono-mischer Variablen bildet der Umstand, dass auch die Art der Verände-rung solcher Variablen unterschiedlich wahrgenommen und bewertetwird. Ein entscheidender Faktor für die Wahrnehmung liegt in derGeschwindigkeit einer Veränderung. Schnellere Veränderungen werdeneher bemerkt. Sind sich aber die Akteure der Veränderung nicht bewusst, dann reagieren sie – wenn überhaupt – nur schwach. DieserBefund könnte erklären, warum die amerikanischen Autofahrer denAufstand proben, wenn der Benzinpreis um 30 % erhöht wird, obwohlsich die Benzinpreise in den Vereinigten Staaten sowohl historisch alsauch im internationalen Vergleich auf einem äusserst niedrigen Niveaubefinden. Die Theorie liefert auch einen Erklärungsansatz dafür, wes-halb eine plötzliche dramatische Steigerung der Bussen oder der Über-wachungsdichte manchmal einen sofortigen, aber typischerweise nurkurzlebigen Rückgang des strafbaren Verhaltens nach sich zieht. Einanderer Faktor, der einen Einfluss auf die Bewertung ausübt, ist die Artund Weise der Informationsvermittlung. Es spielt eine Rolle, ob diePreise von ähnlichen Produkten in einer vergleichbaren Form ange-schrieben werden, ob man sie nacheinander erfährt, ob die Preise pri-vat bekannt sind oder ob sie diskutiert werden. So reagieren Arbeitertypischerweise massiv auf eine Reduktion des Nominallohns, da derVergleich mit ihrem eigenen früheren Lohn negativ ins Auge sticht,während sie grosse Lohnunterschiede zwischen den einzelnen Indu-striezweigen tolerieren (Bewley, 1998).

30

Page 31: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Märkte maximieren die Wahlfreiheit

Die Wirtschaftswissenschaft beruht auf der Annahme, dass die indivi-duellen Wahlhandlungen die wahren Präferenzen reflektieren, dass alsodie Wahl von A anstatt von B bedeutet, dass das Individuum mit Atatsächlich besser fährt als mit B. Wenn jedoch die Entscheidungen derKonsumenten zu einem Grossteil willkürlich getroffen werden, dannwird die Behauptung der Ökonomen, dass freie Märkte die Wohlfahrtmaximieren, stark relativiert. Es gibt vielleicht eine Rechtfertigung fürfreie Märkte, wenn man der Wahlfreiheit per se einen Wert zubilligt,nicht aber auf der Basis, dass freie Märkte zu einer sinnvollen Bedürf-nisbefriedigung führen. Die Institution des Marktes maximiert zwar dieKonsumentensouveränität – damit geht aber nicht notwendigerweiseauch die Maximierung der Konsumentenwohlfahrt einher.

Literatur

Bewley, T. F.: Why Not Cut Pay? European Economic Review 42 (1998), 459–490.Ariely D., Loewenstein G. und Prelec D.: Arbitrary-Coherence: Duration-sensitive

Pricing of Hedonic Stimuli around an Arbitrary Anchor, MIT Sloan Schoolof Management Working Paper, 2001.

Shiller, R. J.: Stock Prices and Social Dynamics. Brookings Papers on EconomicActivity 2 (1984), 457–98.

31

Page 32: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 33: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Colin Camerer

Der lange Weg zum Gleichgewicht

Lerntheorien und ihre Anwendung in der Ökonomie

Die herkömmliche ökonomische Theorie vernachlässigt die Tatsache, dassAkteure in Entscheidungssituationen lernen und das Erlernte in die For-mulierung neuer Strategien einfliessen lassen. Mit der Berücksichtigung vonLerntheorien kann die Prognosekraft ökonomischer Modelle deutlich ver-bessert werden.

Zu den eindrücklichsten Eigenschaften des menschlichenGehirns zählt seine Lernfähigkeit. Trotzdem wird in der herkömmlichenökonomischen Theorie das Phänomen des Lernens weitgehend igno-riert. Stattdessen wird in den Wirtschaftswissenschaften nach dem Vor-bild der Physik versucht, die Komplexität des sozialen Verhaltens aufGesetze zu reduzieren, die einfach genug sind, um sie auf ein T-Shirt zudrucken. Eine von der Physik übernommene Idee ist jene des Gleich-gewichts. In einem ökonomischen Gleichgewicht haben sich Konsu-menten, Arbeiter und Unternehmungen so angepasst, dass sie ihrenNutzen unter den gegebenen Beschränkungen nicht weiter erhöhenkönnen. Doch in der Realität braucht es eine gewisse Zeit, bis Menschenund Organisationen sich an neue Situationen anpassen und «ins Gleich-gewicht kommen». Ein anschauliches Beispiel dafür liefert die Privati-sierung in den ehemaligen kommunistischen Ländern. Nach dem Fallder Berliner Mauer schwärmten die Ökonomen in die exkommunisti-schen Länder aus, um dort kapitalistische Institutionen wie Privat -eigentum, Aktienbörsen sowie hoch entwickelte Methoden der Buch-führung und der öffentlichen Finanzberichterstattung einzuführen. DerKapitalismus sollte «chirurgisch» implementiert werden. Doch die Öko-

33

Page 34: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

nomen hatten nicht bedacht, dass Menschen eine gewisse Zeit brau-chen, um sich auf veränderte Bedingungen einzustellen. In der Folgekam es zu Streiks und Protesten.

Lernexperimente

Glücklicherweise beginnt sich die Situation in der ökonomischen For-schung zu ändern. Seit kurzem wird an Lerntheorien gearbeitet, welchedie Auswirkungen individueller Entscheidungen auf das Verhaltenanderer modellieren. Eine gute Möglichkeit, das Lernverhalten zu stu-dieren, stellen Experimente dar. Eines dieser Lernexperimente simuliertdie Konkurrenz zwischen zwei Einzelhandelsgeschäften, die dasselbeProdukt verkaufen. In diesem Experiment wird den beiden Versuchs-personen, die die Rolle der Verkäufer übernehmen, die Aufgabe zuge-wiesen, gleichzeitig und ohne Absprache einen Preis zu verkünden. DieKonsumenten beobachten die beiden Preise und feilschen darum, dasProdukt zum niedrigeren Preis auch vom anderen Verkäufer zu bezie-hen. Ausserdem wird der billigere Anbieter mit einem Bonus in derHöhe von R belohnt, während der teurere Anbieter eine Strafe in der-selben Höhe zu gewärtigen hat. Angenommen, Sie sind ein Verkäufer,der in Konkurrenz zu einem anderen Verkäufer steht. Welchen Preiswürden Sie ankündigen (unter der Annahme, dass die Produktion desGutes nichts kostet)? Wie würde er von der Höhe der Belohnung bzw.der Bestrafung abhängen?

Die Voraussage der herkömmlichen ökonomischen Theorie fürdieses Zwei-Verkäufer-Spiel ist simpel – und, wie wir sehen werden,falsch. Gemäss dieser Theorie sollten Sie immer versuchen, der billige-re Verkäufer zu sein. Falls der andere Verkäufer nämlich den niedrige-ren Preis ankündigt, wird auch Ihnen nichts anderes übrig bleiben, alsdas Produkt zu diesem Preis zu verkaufen, da sonst niemand von Ihnendas Gut beziehen will. Nur Sie allein aber werden bestraft, während IhrKonkurrent die Belohnung einstreicht. Optimal wäre es, den Preis desanderen Verkäufers um eine Einheit zu unterbieten. In diesem Fallerhalten Sie statt der Strafe die Belohnung. Wenn nicht nur Sie, son-dern auch der andere Verkäufer so denkt, besteht das Gleichgewicht dar-

34

Page 35: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

in, dass beide Verkäufer zu einem Preis von null offerieren – und zwarunabhängig von der Höhe der Belohnung respektive der Strafe. Beijeder anderen Preiskonstellation könnte sich ein Verkäufer besserstellen,indem er seinen Preis marginal reduziert, um der Strafe zu entgehen undstattdessen die Belohnung zu kassieren.

Dieses Preiskonkurrenz-Experiment wurde von Monica Capraund ihren Kollegen an der Universität von Virginia durchgeführt. Dabeikonnten die Versuchspersonen einen Preis zwischen 0 und 120 Geld-einheiten vorschlagen. Die Grafik auf der nächsten Seite zeigt den Ver-lauf des Experimentes mit zwei Personen, die zehnmal das Preiskon-kurrenz-Spiel wiederholten. Die durchgezogenen Linien repräsentierendie Pfade der in jeder Runde tatsächlich beobachteten Durchschnitts-preise für zwei verschiedene Werte des Belohnungs- bzw. Bestrafungs-parameters R. Wenn R 80 Geldeinheiten beträgt, sinken die Preise mitjeder Spielwiederholung zunächst auf 10 Geldeinheiten und nähernsich dann langsam null. Für hohe Werte von R strebt demnach der Preiseinem Gleichgewicht zu, das ungefähr mit demjenigen übereinstimmt,das von der herkömmlichen Theorie vorausgesagt wird – allerdings wirddieses Gleichgewicht nicht unmittelbar, sondern erst nach einigen Run-den erreicht. Fällt die Bestrafung respektive Belohnung jedoch mit 5Geldeinheiten gering aus, dann beginnen die beiden Spieler mit Prei-sen in der Nähe von 100 und erhöhen sie bis nahe zum Maximum von120. Für niedrige Werte von R ist daher die Vorhersage der herkömm-lichen Theorie falsch. Dies liegt daran, dass von der Theorie das Lern-verhalten der Versuchspersonen nicht gebührend berücksichtigt wird.

Aus zwei mach eins

Es existieren zwei wichtige Lerntheorien: das «Bekräftigungslernen»(Reinforcement Learning) sowie das «Vermutungslernen» (Belief Lear-ning). Die Theorie des Bekräftigungslernens stammt aus der Verhal-tensforschung der dreissiger Jahre. Tiere drücken mit grösserer Wahr-scheinlichkeit einen Hebel, wenn sie in der Vergangenheit dafür Futterals Belohnung erhalten haben. Menschen reagieren ebenfalls auf vor-angegangene Bekräftigung. Sie fürchten sich etwa vor dem Reiten, wenn

35

Page 36: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

sie einmal vom Pferd gefallen sind. Beim «Vermutungslernen» schliessenMenschen von Beobachtungen vergangener Handlungen auf zukünfti-ge. Nehmen Sie an, dass Ihr Konkurrent im Preiskonkurrenz-Experi-ment in der ersten Runde einen Preis von 50, in der zweiten Rundeeinen Preis von 40 Geldeinheiten wählte. Die Theorie des Vermu-tungslernens geht davon aus, dass Ihre Voraussage für das Preis -setzungsverhalten Ihres Konkurrenten für die nächste Runde zwischen40 und 50 Geldeinheiten liegen wird. Optimalerweise setzen Sie IhrPreisangebot gerade unterhalb dieser Projektion an. Vermutungslernenprognostiziert demnach, dass die Preise über die Zeit sinken. Doch wiedas Experiment zeigt, ist dies nicht immer der Fall.

Teck-Hua Ho von der Wharton Business School und ich haben eineneue mathematische Lerntheorie entwickelt, die einer Kombination vonBekräftigungs- und Vermutungslernen entspricht. Diese Theorie berück-sichtigt einerseits, dass Menschen Strategien wiederholen, die sich in der

36

Page 37: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Vergangenheit bewährt haben. Daneben trägt sie aber auch dem Ver-mutungslernen Rechnung. Die gestrichelte Linie in der Grafik zeigt denvon der kombinierten Theorie vorhergesagten Preispfad, wenn das Preis-setzungsverhalten der Akteure in der ersten Runde des Experiments alsAusgangspunkt herangezogen wird. Die Theorie passt nicht für jede Dre-hung und Wendung in den Daten, aber sie sagt korrekt die allgemeinenTrends für die beiden Werte des Belohnungs- respektive Bestrafungspa-rameters voraus. Tatsächlich hätten 90 % der Teilnehmer insgesamt 10 %mehr verdienen können, wenn sie der Theorie gefolgt wären. Der Blickauf die Kristallkugel einer Wahrsagerin, die die zukünftigen Entschei-dungen der Experimentteilnehmer korrekt voraussagt, hätte die gesam-ten Einkommen um 25 % und damit lediglich um 15 Prozentpunktemehr als die neue mathematische Lerntheorie zu steigern vermocht.

Eine Anwendung der beschriebenen Lerntheorie ausserhalb desLabors stammt von Teck-Hua Ho und Juin Kuan Chong von der Natio-nal University of Singapore. Konsumenten, die im Supermarkt einbestimmtes Produkt bevorzugen, sollten auch eine Vorliebe für andereProdukte mit ähnlichen Eigenschaften entwickeln. Der Verzehr einerköstlichen Halbliterportion Häagen-Dazs-Rocky-Road-Eiscrème solltedaher den Absatz aller Häagen-Dazs-Eissorten erhöhen, aber auch den-jenigen für jede andere Eiscrème mit Rocky-Road-Geschmack sowie fürjedes Eis, das in der Halbliterverpackung verkauft wird. Diese Hypo-these wurde an 130 000 tatsächlichen Entscheidungen amerikanischerKonsumenten in 16 Produktkategorien bestätigt. Die erwähnte Lern-theorie konnte dabei die Umsätze um etwa 10 % besser prognostizierenals alternative Theorien. Unternehmen können die neue Lerntheoriedaher gut gebrauchen, wenn sie die Popularität eines neuen Marken-produkts einschätzen wollen, das vertraute Charakteristika anderer Pro-dukte auf sich vereint.

Literatur

Camerer, C.: Behavioral Game Theory – Experiments on Strategic Interactions.Princeton University Press, Princeton 2002.

Capra M., Goeree J., Gomez R. und Holt C.: Anomalous Behavior in a Travellers’Dilemma. American Economic Review 89 (1999), 678–690.

37

Page 38: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 39: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

David Laibson und Jeromin Zettelmeyer

Die Neue Ökonomik der Ungeduld

Selbstbindung als Mittel zur Durchsetzung langfristiger Ziele

Nachträglich bereuen Individuen oft, dass sie die kurzfristige Bedürfnis -befriedigung über die Verfolgung längerfristiger Ziele gesetzt haben. Es wärejedoch verfehlt, auf Grund vermuteten inkonsistenten Verhaltens eine star-ke Ausweitung der Staatstätigkeit zu fordern, da der Staat die «wahren»individuellen Präferenzen nicht kennt. Ein gangbarer Weg besteht in derErrichtung von Institutionen, welche die Realisierung langfristiger Pläneerleichtern.

Unser Verhalten in der Gegenwart widerspricht oft unseren Plä-nen für die Zukunft. Wenn wir langfristig planen, nehmen wir uns vor,«das Richtige» zu tun. Aber unsere guten Absichten werden durch denWunsch nach kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung oft untergraben. Wirbeschliessen, eine Diät zu beginnen, aber bei der nächsten Mahlzeiterliegen wir der Versuchung eines Schokoladensoufflés. Wir nehmenuns vor, regelmässig zu joggen, aber finden nie die Zeit dazu. Wir ent-schliessen uns, früher zu Bett zu gehen, bleiben aber trotzdem abendsvor dem Fernseher sitzen. Kurzfristiges Versagen dieser Art taucht in vie-len Facetten auf. Viele soziale Probleme lassen sich auf unseren Mangelan Bereitschaft – oder unsere Unfähigkeit – zurückführen, unsereursprünglichen Absichten zu verwirklichen. Dabei widerspricht unserVerhalten nicht nur Normen, die uns möglicherweise von aussen vor-gegeben werden, sondern auch den eigenen Zielen. Derartige Verstössegegen die eigenen Interessen sind verblüffend – vor allem für Ökono-men, die üblicherweise davon ausgehen, dass Individuen rational ent-scheiden und handeln.

39

Page 40: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Das chronische Spardefizit

Die Diskrepanz zwischen langfristigen Zielen und kurzfristigem Han-deln hat wichtige Folgen für wirtschaftliches Verhalten, vor allem imBereich individueller Spar- und Konsumentscheidungen. In einerUmfrage des US-Think-Tank Public Agenda aus dem Jahre 1997 wirdausgewiesen, dass mehr als 75 % der Familien in den USA – wo diegesetzliche Rentenversicherung wesentlich knapper bemessen ist als inden meisten europäischen Ländern – der Meinung sind, sie solltenmehr für den Ruhestand sparen. Unter diesen Befragten dachte mehrals die Hälfte, dass sie mit ihren Ersparnissen im Verzug sind. Nur 6 %gaben an, sie hätten mehr als genug getan. Für die Forscher von PublicAgenda ist «die Diskrepanz zwischen Überzeugungen und Absichteneinerseits und tatsächlichem Verhalten anderseits beunruhigend unddroht zu einer erhöhten Unsicherheit und Unzufriedenheit nachBeginn des Ruhestands zu führen. Die Amerikaner tun einfach nicht,was die Vernunft und ihre eigene Überzeugung ihnen vorschreiben.»Eine Umfrage des Finanzhauses Merrill Lynch unter US-Haushaltenmit einem Haushaltsvorstand im mittleren Alter führte zu ähnlichenErgebnissen. Die Diskrepanz zwischen dem Einkommensanteil, dendie Teilnehmer gemäss ihrer eigenen Auffassung für den Ruhestandsparen sollten, und dem Anteil, den sie tatsächlich beiseite legten,betrug im Durchschnitt 11,1 % des jährlichen Haushaltseinkom-mens.

Anreize oder kulturelle Prägung?

Geringe private Ersparnisse sind in vielen europäischen Ländern, indenen Renten fast ausschliesslich über das Umlageverfahren finanziertwerden, kein akutes Problem. Aber wenn die Struktur der alterndenBevölkerung in diesen Ländern den Übergang zu einem teilweise pri-vat finanzierten Rentensystem erzwingt, könnte sich dies rasch ändern.Ausserdem sind eine hohe Verschuldung und eine niedrige Sparquoteder privaten Haushalte nicht nur ein Phänomen in den USA. EtlicheIndustriestaaten, darunter die skandinavischen Länder und Neuseeland,

40

Page 41: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

wiesen in den neunziger Jahren ähnlich niedrige oder zum Teil nochniedrigere Sparquoten auf.

In einer Studie aus dem Jahre 1999 zeigen der Amerikaner ChrisCarroll und die Koreaner Changyon Rhee und Byungkun Rhee, dassdas Sparverhalten neuer Einwanderer in den USA mit den durch-schnittlichen Sparquoten der Ursprungsländer nicht korreliert ist. Bei-spielsweise waren die Sparquoten von Einwanderern aus Japan, Koreaund Taiwan relativ niedrig im Vergleich mit denen von Einwanderernaus anderen Ländern, sie spiegelten also nicht die hohen Sparquoten inden Ursprungsländern. Dies legt den Schluss nahe, dass Unterschiedeim durchschnittlichen Sparverhalten nichts mit genetischen oder tiefverwurzelten kulturellen Faktoren zu tun haben, sondern mit ökono-mischen Anreizen und dem institutionellen Umfeld, in dem eine Per-son lebt.

Nur nicht heute!

Ökonomen haben vor kurzem damit begonnen, Phänomene der Selbst-bindung mit formalen Modellen zu analysieren. Angeregt wurde diesesneue Forschungsgebiet durch Ergebnisse aus Verhaltensexperimenten.Sie zeigen, dass Individuen durchaus bereit sind, Konsum zu vertagen –aber nur dann, wenn sie über Alternativen zu befinden haben, die fernin der Zukunft liegen. Teilnehmern an Experimenten wurden zum Bei-spiel Gutscheine für Gratismahlzeiten angeboten. Vor die Wahl gestellt,einen Gutschein zu erhalten, der sich frühestens nach 100 Tagen einlö-sen lässt, oder zwei Gutscheine, die sich frühestens nach 101 Tagen ein-lösen lassen, zogen fast alle Experimentteilnehmer Letzteres vor. Aberwenn beide Alternativen in der Zeit vorverlagert werden, dann drehensich die Präferenzen oft um: Viele Konsumenten ziehen einen sofort ein-lösbaren Gutschein zwei Gutscheinen vor, die sich erst morgen ein lösenlassen. Diese Präferenzumkehrung – Geduld in Bezug auf Alternativenin der fernen Zukunft, aber ungeduldiges Verhalten bei Alternativen,die in der nahen Zukunft liegen (üblicherweise Tage, höchstensWochen) – widerspricht der traditionellen Konsumtheorie. Die tradi-tionelle Theorie nimmt zwar auch die Existenz einer Zeitpräferenz an:

41

Page 42: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Wir konsumieren lieber früher als später. Aber es wird gleichzeitig unter-stellt, dass diese Zeitpräferenz nicht davon abhängt, ob sich Konsum -alternativen zeitlich nahe oder weit entfernt befinden. Wenn jemandzwei Gratismahlzeiten in 101 Tagen einer Gratismahlzeit in 100 Tagenvorzieht, dann sollte er gemäss der traditionellen Theorie auch zweiGratismahlzeiten morgen einer Gratismahlzeit heute vorziehen.

Stattdessen zeigen die Experimente, dass Individuen Entschei-dungen über zukünftiges Verhalten ganz anders angehen als Entschei-dungen über die Gegenwart. Um dies zu erfassen, wird in den neuenKonsummodellen angenommen, dass Konsumenten den Nutzen vonEreignissen, die nicht in der unmittelbaren Gegenwart stattfinden, starkabdiskontieren. Dadurch wirken zum Beispiel selbst zwei Mahlzeitenmorgen nicht so attraktiv wie eine Mahlzeit heute. Hingegen besteht ausheutiger Perspektive kaum ein Unterschied, ob in 101 oder 100 Tagenkonsumiert wird. Da beide Alternativen relativ weit in der Zukunft lie-gen, zählt nur die Zahl der Mahlzeiten und nicht die zeitliche Reihen-folge des Konsums. Demnach werden zwei in 101 Tagen einlösbareGutscheine einem in 100 Tagen einlösbaren Gutschein vorgezogen.Konsumenten mit solchen Präferenzen werden bereit sein, Selbstdiszi-plin zu üben – zum Beispiel einen Tag zuzuwarten, um eine zusätzlicheGratismahlzeit zu erhalten –, aber nur, wenn sich diese Selbstdisziplinauf die fernere Zukunft bezieht. «Geduldiges» Handeln wird für dieZukunft geplant. Leider handeln wir aber immer in der Gegenwart.Wenn die Zeit verstrichen ist und die ehemalige Zukunft erreicht wird,sind wir in erster Linie an sofortiger Bedürfnisbefriedigung interessiert.Wir entscheiden dann in einer Weise, die mit dem ursprünglichen Planinkonsistent ist. So kann es vorkommen, dass Konsumverzicht immerwieder vertagt wird.

Strategien der Selbstbindung

Natürlich sollten Konsumenten dieses Problem erkennen und etwasdagegen unternehmen – und sie tun es auch oft. Sie werden zwar niefreiwillig auf sofortigen Konsum verzichten, aber sie haben einenAnreiz, ihren zukünftigen Überkonsum zu reduzieren, indem sie sich

42

Page 43: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

auf einen bestimmten Konsumpfad festlegen. Dies lässt sich erreichen,indem der Spielraum für zukünftige spontane Entscheidungen im vor-aus eingeschränkt wird. Wenn jemand Schwierigkeiten hat, einer Diätzu folgen, so sollte er kein Eis im Kühlschrank aufbewahren. Wer dazuneigt, den Wecker morgens abzustellen und einfach weiter zu schlafen,kann abends den Wecker ein paar Meter vom Bett entfernt aufstellen,so dass er gezwungen ist aufzustehen. Wer regelmässig zu viel ausgibt,kann einen Auftrag zur Überweisung auf ein Sparkonto veranlassen, vondem sich weniger leicht abheben lässt. Kurz: wer fürchtet, einer uner-wünschten Versuchung nicht widerstehen zu können, kann sich inirgendeiner Weise vorher binden – Odysseus liess sich an den Mast sei-nes Schiffes binden, um dem Lockruf der Sirenen zu widerstehen.

Strategien dieser Art lassen sich mit den neuen ökonomischenKonsummodellen gut erklären. Sie machen auch das Spar- und Anla-ge verhalten vieler Haushalte – ein grosser Teil der Haushaltsersparnisseliegt in illiquider Form vor (Wohnungsbesitz, Lebensversicherungen) –verständlich. Liquide Anlagen lassen sich leicht ausgeben, während illi-quides Vermögen vor spontanem Konsum geschützt ist. Das niedrigeNiveau an liquiden Ersparnissen erklärt auch, warum in Ländern mitbegrenzten staatlichen Rentensystemen der Konsum nach der Pensio-nierung normalerweise abfällt. Die Haushalte können ihren Lebens-standard nicht aufrechterhalten, weil ihnen die dazu nötigen liquidenMittel fehlen.

Steuern und Subventionen

Die Existenz von Problemen der Selbstkontrolle hat potenziell weitrei-chende Folgen für die Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik. Einwichtiges Beispiel sind gesetzliche Rentenversicherungen. Der Staatzwingt seine Bürger zum Sparen, indem er Einkommen besteuert unddie Steuereinnahmen zur Finanzierung der Renten heranzieht. In vie-len Ländern setzt der Staat ausserdem die Besteuerung von privatenErsparnissen, die für den Ruhestand angelegt werden, aus; besteuertwird erst, wenn diese im Ruhestand konsumiert werden. Der Staat ver-sucht oft, seine Bürger zur Investition in ihr Humankapital zu veran-

43

Page 44: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

lassen. In den meisten Ländern gilt die obligatorische Schulpflicht. DieSchulen werden vom Staat getragen und finanziert, und Hochschulenund Berufslehrgänge werden subventioniert. Verhaltensweisen, die mitdestruktiven Folgen für die Zukunft verbunden sind, werden oft gesetz-lich eingeschränkt oder besteuert. Drogen-, Alkohol- und Tabakgesetz -gebungen sind dafür ebenso Beispiele wie die Gurtentragpflicht beiAutofahrern und die Helmpflicht bei Motorradfahrern.

Subventionen für öffentliche Bibliotheken, Theater, Orchesteroder Museen lassen sich als Subventionen für persönliche «Investitio-nen» interpretieren. Wir nehmen normalerweise an, dass der Theater-oder Museumsbesuch bildet, also nicht nur Unterhaltungswert für dieDauer des Besuchs besitzt, sondern in der Zukunft Erträge abwirft.Kein Staat subventioniert hingegen Actionfilme oder Seifenopern, diezwar Spass machen, aber keinen – oder nur einen geringen – investivenGehalt aufweisen. Gemäss den neuen ökonomischen Konsummodellenwerden sie im Verhältnis zu anspruchsvolleren Unterhaltungsformennormalerweise zu stark konsumiert.

Daniel Read (Universität Leeds) und George Loewenstein (Car-negie-Mellon-Universität) liessen die Teilnehmer an einem ExperimentFilme aussuchen, die sie sich in Zukunft gerne anschauen würden. Diemeisten wählten moralisch oder ästhetisch anspruchsvolle Filme wie«Schindlers Liste». Als sie aber zu entscheiden hatten, welchen Film siesich am selben Abend ansehen wollten, wählten sie meist anspruchs loseActionfilme. Die Teilnehmer glaubten offenbar, dass es gut für sie sei,sich Filme wie «Schindlers Liste» anzusehen. Aber sie zogen es vor, diebittere Medizin eines «schwierigen» Filmes erst morgen zu schlucken,nicht heute. In der Praxis legen sich die meisten Kinobesucher nicht imvoraus auf bestimmte Filme fest – sie suchen sich spontan aus, was siesehen möchten. Anspruchsvolle Filme haben von daher verhältnis -mässig wenig Publikum, auch wenn die meisten Kinobesucher glauben,dass sie sich solche Filme (irgendwann) einmal ansehen sollten.

44

Page 45: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Die Grenzen staatlicher Interventionen

Argumente und experimentelle Ergebnisse dieser Art scheinen nahezu-legen, dass der Staat eine enorme Bandbreite von «investiven» Aktivitä-ten fördern bzw. «konsumptive» Aktivitäten einschränken sollte. Legendiese Überlegungen nahe, Fitness-Studios und gesunde Nahrungs mittelzu subventionieren, Pommes frites, Popcorn, Soft Ice und Action-Fil-me dagegen zu besteuern und Zigaretten zu verbieten? Eine dramatischeAusweitung staatlicher Intervention ist mit Sicherheit der falsche Weg.Ohne Zweifel gibt es wichtige Bereiche, wie Altersrenten, Bildung oderGesundheit, in denen sich individuelle und soziale Probleme fast immerauf einen Mangel an Vorausschau und investivem Verhalten zurück-führen lassen. Die Wünschbarkeit staatlichen Eingreifens wird in sol-chen Fällen meist von einem breiten Konsens getragen. Aber die mei-sten Situationen sind komplizierter.

Vielleicht geht jemand nicht in Fitness-Studios, weil er langeSpaziergänge vorzieht. Oder vielleicht ist ihm körperliche Fitness wirk-lich relativ unwichtig. Sollten Seitensprünge gesetzlich verboten wer-den, weil sie Folge einer letztlich unerwünschten Impulshandlung seinkönnten? Sicher nicht. Vielleicht wollen wir eine Affäre wirklich. Viel-leicht haben wir Gründe dafür – eine schlechte Ehe oder Liebesbezie-hung –, die mit Mangel an Selbstkontrolle nichts zu tun haben. Kurz:der Staat kennt unsere Präferenzen nicht. Es sollte nicht Sache des Staa-tes sein, unsere «wahren Interessen» herauszufinden. Diese Aufgabe demStaat zu übertragen, würde dem Totalitarismus Tür und Tor öffnen, wieder Philosoph Isaiah Berlin in einem berühmten Aufsatz aus dem Jah-re 1958 verdeutlicht hat.

Hilfestellungen zu investivem Verhalten

Glücklicherweise gibt es andere Methoden, unser Defizit an Willens-stärke zu kompensieren. Gesellschaftliche Institutionen und Mechanis-men können es uns erleichtern, unsere langfristigen Pläne zu realisieren.Ein Beispiel dafür sind illiquide Sparkonten für den Ruhestand. Nie-mand wird gezwungen, Geld auf solche Konti einzubezahlen. Aber wer

45

Page 46: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

sich dazu entschliesst, weiss, dass er auf diese Konti erst mit dem Errei-chen des Rentenalters Zugriff hat. Ersparnisse werden dadurch vor Kon-sumimpulsen geschützt.

Ein anderes Beispiel ist die automatische Überweisung eines Teilsdes Einkommens auf ein Sparkonto. Sie könnte jederzeit ausgesetzt wer-den, aber die meisten Haushalte werden erfahrungsgemäss von dieserMöglichkeit keinen Gebrauch machen. Der Drang nach sofortigerBefriedigung wirkt diesmal in beide Richtungen. «Nichts tun» heisstweiterhin sparen, während eine Kündigung etwas Aufwand erfordert.Bridgitte Madrian von der Universität Chicago hat gezeigt, dass Mecha-nismen dieser Art die Teilnahme an Sparplänen für den Ruhestand starkerhöhen können. Jeder kann kündigen, aber nur 5 % pflegen diestatsächlich zu tun.

Die meisten Menschen nehmen ihre Zukunft ernst und versu-chen entsprechend zu planen. Leider werden unsere langfristigen Plänejedoch oft von kurzfristigen Konsumwünschen durchkreuzt. Institu-tionen sollten uns helfen, spontanen Impulsen zu widerstehen, zu inve-stieren und unsere Investitionen zu bewahren. Diese Institutionen kön-nen auch das Bewusstsein stärken, dass ein Mangel an Selbstkontrolleein normaler, oft destruktiver Aspekt der menschlichen Natur ist, dersich aber in vielen Fällen relativ leicht überlisten lässt. Wer das Problemder Selbstkontrolle versteht, wird lernen, besser damit umzugehen. DerStaat sollte uns nicht zu investivem Verhalten zwingen, aber investivesVerhalten sollte eine klare und einfache Option sein.

Literatur

Laibson, D.: Golden Eggs and Hyperbolic Discounting. Quarterly Journal of Eco-nomics 112 (1997), S. 443–478.

Angeletos G.-M., Laibson, D., Repetto, A., Tobacman, J. und Weinberg, S.: The Hyper-bolic Buffer Stock Model: Calibration, Simulation and Empirical Evalua-tion. Journal of Economic Perspectives 15 (2001), S.47–68.

Carroll, C. D., Rhee, B.-K., und Rhee, C.: Does Cultural Origin affect Saving Beha-vior? Economic Development and Cultural Change 48 (1999), S. 33–50.

Löwenstein, G., Read, R., und Kalyanaraman, S.: Mixing Virtue and Vice: Combi-ning the Immediacy Effect and the Diversification Heuristic. Journal ofBehavioral Decision Making 12 (1999), S. 257–273.

Madrian, B. und Shea, D.: The Power of Suggestion: Inertia in 401(k) Participati-on and Savings Behavior. Erscheint in: Quarterly Journal of Economics.

46

Page 47: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

III. Kooperation und Fairness

Page 48: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 49: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Simon Gächter

«Erzwungene» Kooperation

Wie sich soziale Dilemmata überwinden lassen

Soziale Dilemmata zeichnen sich durch die Diskrepanz zwischen indivi-duellen und kollektiven Interessen aus. Überwinden lassen sie sich durchKooperation. Experimentelle Befunde weisen darauf hin, dass das Vorhan-densein von Sanktionsmöglichkeiten entscheidend am Zustandekommenvon Kooperation beteiligt ist.

Während des britischen Bergarbeiterstreiks von 1984 kam es zuzahlreichen Ausschreitungen gegen Streikbrecher. Diese wurden vonden Streikenden gemieden und sozial isoliert. Ähnlich erging es «über -eifrigen» Arbeitnehmern der amerikanischen Hawthorne-Werke, die inihrem Team mehr als das Plansoll leisteten. Ihr Verhalten wurde vonArbeitskollegen als «sozial schädlich» etikettiert und entsprechend sank-tioniert. Beispiele wie diese illustrieren, dass soziale Sanktionsmecha-nismen häufig eingesetzt werden, um Normabweichungen und Tritt-brettfahrerverhalten in sozialen Dilemmata zu bestrafen.

Soziale Dilemmata

Mit dem Begriff «soziale Dilemmata» werden Situationen charakteri-siert, in welchen das Eigen- und das Kollektivinteresse auseinander-klaffen. Es lassen sich damit so unterschiedliche Phänomene wie Team-arbeit, die Teilnahme an Streiks und Demonstrationen, die freiwilligeMitarbeit bei der Landesverteidigung, das Engagement in Interessen-vertretungen, private Umweltschutzmassnahmen, die Bewirtschaftungvon Allmenderessourcen oder die Aufrechterhaltung eines Kartells

49

Page 50: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

beschreiben. All diesen Situationen ist eigen, dass jedes Individuumselbst dann von der Kooperation der anderen profitiert, wenn es sich sel-ber unkooperativ verhält. Ich komme beispielsweise in den Genuss vonUmweltschutzmassnahmen anderer, ohne selbst aktiv zu einer besserenUmweltqualität beizutragen. Die herkömmliche ökonomische Theoriemacht für soziale Dilemmata eine eindeutige Prognose. Jeder wird dar-auf hoffen, dass die anderen kooperieren, und selbst nichts oder zuwenig zum Gemeinwohl beitragen. Dadurch fällt die Wohlfahrt jedochgeringer aus, als wenn jeder einen Beitrag zur Überwindung des sozia-len Dilemmas leisten würde.

Allerdings bestätigen Alltagsbeobachtungen diese Vorhersagenicht. Viele Menschen beteiligen sich an «kollektiven Aktionen». Sie tra-gen aktiv zum Umweltschutz bei und setzen sich in caritativen Organi-sationen und in Vereinen für das Gemeinwohl ein. Damit stellt sich dieFrage, wie dieses hohe Ausmass an erfolgreicher Kooperation erklärtwerden kann. Antworten versucht die neue ökonomische Verhaltens-forschung zu geben. Mittels Laborexperimenten wird dabei versucht,die Determinanten des Kooperationsverhaltens unter kontrolliertenBedingungen zu ermitteln.

Ein typisches Kooperationsexperiment kann wie folgt charakte-risiert werden. Zunächst werden Gruppen zu je vier Personen gebildet.Jedes Gruppenmitglied erhält eine Ausstattung von 20 Punkten, die aufeinem Privatkonto angelegt oder in ein öffentliches Projekt investiertwerden können. Am Ende des Experimentes werden die Punkte in Fran-ken umgerechnet und den Gruppenmitgliedern ausbezahlt. Das Projektbesitzt dabei den Charakter eines öffentlichen Gutes, d. h., jeder profi-tiert von den Projektbeiträgen aller anderen, auch dann, wenn er selbernichts zum öffentlichen Projekt beigetragen hat. Der Öffentlichgut-Charakter des Projektes wird im Experiment dadurch abgebildet, dassder Versuchsleiter die Beiträge der Gruppenmitglieder zunächst sam-melt, dann verdoppelt und schliesslich gleichmässig auf alle aufteilt,unabhängig davon, ob und wie viel der Einzelne zum öffentlichen Gutbeigetragen hat. Dagegen arbeitet man bei einer Einzahlung aufs Pri-vat konto in die eigene Tasche, wovon die anderen Gruppenmitgliedernichts haben.

50

Page 51: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Trittbrettfahrer reduzieren Kooperation

Diese simple Versuchsanordnung bildet die Diskrepanz von Eigen- undKollektivinteresse ab: Aus pekuniärer Sicht haben alle einen starkenAnreiz, die Trittbrettfahreroption wahrzunehmen. Sie sollten die 20Punkte ausschliesslich aufs eigene Privatkonto einbezahlen und davonprofitieren, wenn andere in das öffentliche Projekt investieren. DieGruppe als Ganzes würde hingegen am besten fahren, wenn jedes Grup-penmitglied die 20 Punkte ins Projekt steckte, da jede Investition eine«soziale» Rendite von 100 % abwirft. In der Realität besteht oft dieMöglichkeit, das Kooperationsverhalten der Mitmenschen zu beobach-ten und dieses allenfalls sozial zu sanktionieren. Um den Einfluss vonSanktionsmöglichkeiten auf das Kooperationsverhalten zu untersuchen,habe ich zusammen mit Ernst Fehr von der Universität Zürich die obi-ge Versuchsanordnung mit Sanktionsmöglichkeiten erweitert. Nach-dem alle ihre Beitragsentscheidung zum Projekt getroffen haben, wer-den die Gruppenmitglieder über die Beiträge der anderen in Kenntnisgesetzt. Danach besteht die Möglichkeit, sich gegenseitig zu bestrafen,indem das Einkommen eines anderen Gruppenmitgliedes reduziertwird. Allerdings muss für diese Sanktion vom bestrafenden Individuumeine Gebühr entrichtet werden. Strafen ist also kostspielig. Ein eigen -nütziges Individuum wird daher weder andere bestrafen noch etwas insöffentliche Projekt investieren.

Doch wie sieht nun das tatsächliche Kooperationsverhalten imExperiment aus? Der tiefer liegende Pfad der auf der nächsten Seiteabgebildeten Grafik zeigt das Kooperationsniveau in jeder Runde deszehnmal durchgeführten Experimentes, wenn den Individuen keineSanktionsmöglichkeiten offen stehen. Nach einigen Runden ist einedeutliche Abnahme der Kooperation zu beobachten. Nachdem die Indi-viduen anfänglich durchschnittlich ungefähr die Hälfte ihrer 20 Punk-te ins öffentliche Projekt investiert haben, sinken die Beiträge in der letz-ten Runde auf etwa 3 Punkte. In der letzten Periode verhalten sich nichtweniger als 70 % der Versuchspersonen als Trittbrettfahrer und tragennichts zum öffentlichen Projekt bei – so wie es die herkömmliche öko-nomische Theorie vorhersagt.

51

Page 52: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Niemand will der Dumme sein

Bedeutet dieses Resultat, dass die auf der Annahme des Homo oecono-micus basierende Theorie bestätigt wird? Dieser Schluss ist meinesErachtens nicht zulässig. Eine Mehrheit der Versuchspersonen verhältsich nämlich «bedingt kooperativ», d. h., diese Personen sind zur Koope-ration bereit, falls sich andere auch als kooperationswillig erweisen.Allerdings ist in sozialen Gruppen auch immer der Typus des sprich-wörtlichen «Trittbrettfahrers» präsent, der nie einen Beitrag zum öffent-lichen Gut leistet. Im Experiment führt die Präsenz solcher Trittbrett-fahrer dazu, dass die anfänglich kooperativen Individuen ihre Beiträgeüber die Zeit reduzieren, weil sie nicht «die Dummen» sein wollen.

Wenn hingegen Trittbrettfahrer bestraft werden können, dann drehtsich der Verlauf des Experimentes fast vollständig um, wie anhand derhöher liegenden Linie in der Grafik abgelesen werden kann. In der Ver-

52

Page 53: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

suchsanordnung mit Sanktionsmöglichkeit beobachten wir nach eini-gen Perioden fast vollständige Kooperation. In diesem Fall werden dieTrittbrettfahrer durch die bedingt kooperativen Personen bestraft. Die-se Bestrafung fällt umso härter aus, je stärker der Beitrag des Trittbrett-fahrers vom Gruppendurchschnitt nach unten abweicht. Dieser Sank-tionsmechanismus vermittelt den Trittbrettfahrern einen starken Anreizzur Kooperation, um so der Strafe zu entgehen.

Doch warum sind Leute überhaupt bereit, Kosten auf sich zunehmen, um andere zu bestrafen? In einer weiteren Forschungsarbeitvon Ernst Fehr, Urs Fischbacher und mir wird nachgewiesen, dass vie-le Menschen eine Aversion gegen Ausbeutung besitzen. Sie wollen nichtfür dumm verkauft werden, indem ihre Kooperation durch die Tritt-brettfahrer ausgenützt wird. Diese Aversion macht sich in Gefühlen wieÄrger und Antipathie Luft. Eine auf diesen Gefühlen basierende Sank-tionsdrohung wirkt glaubwürdig und animiert die Trittbrettfahrerschliesslich dazu, ihr Verhalten zu ändern und ebenfalls zu kooperieren.Unsere Forschungsergebnisse, welche mittlerweile oft repliziert wordensind, machen deutlich, dass in sozialen Dilemmata – anders, als in derökonomischen Standardtheorie vermutet wird – nicht 100 % der Indi-viduen vom Trittbrettfahren abgehalten werden müssen. Es genügt, die«Minderheit» der Egoisten zu disziplinieren, um ein hohes Koopera-tionsniveau zu erreichen. Unsere Resultate weisen darauf hin, wie wich-tig die Sozialstruktur für die Etablierung einer erfolgreichen Koopera-tion ist. In diesem Zusammenhang hat die Politologin Elinor Ostromnachgewiesen, dass die Bewirtschaftung von Allmendegütern imUmweltbereich dann besonders gut funktioniert, wenn Selbstregulie-rung mit Hilfe von sozialen Sanktionsmechanismen möglich ist. Einweiteres Beispiel kann im Bereich der Arbeitsorganisation gefundenwerden. Um Verspätungen zu reduzieren, führte Continental Airlinesbewusst Teamanreize ein und strukturierte die Arbeitsteams an den Ter-minals dergestalt, dass sie sich gegenseitig überwachen. Seither gehörtan den Terminals das Problem der Verspätungen praktisch der Vergan-genheit an.

53

Page 54: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Literatur

Fehr, E. und Gächter S.: Cooperation and Punishment in Public Goods Experi-ments. American Economic Review 90 (2000), 980–994.

Fischbacher, U., Gächter S. und Fehr E.: Are People Conditionally Cooperative? Evi-dence from a Public Goods Experiment, Economics Letters 71 (2001),397–404.

Ostrom, E.: Governing the Commons – The Evolution of Institutions for Collec-tive Action. Cambridge University Press, New York 1990.

54

Page 55: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Armin Falk

Fairness contra Eigennutz

Konsequenzen für die ökonomische Politikberatung

Das in Dilemma-, Verhandlungs- und Marktexperimenten beobachteteVerhalten weicht systematisch von der Prognose herkömmlicher ökonomi-scher Modelle ab. Die ökonomische Politikberatung muss daher sozialeMotive wie Fairness, bedingte Kooperation oder Reziprozität ernst nehmen.Sonst läuft sie Gefahr, wesentliche Determinanten menschlichen Verhaltenszu vernachlässigen und falsche Schlüsse zu ziehen.

Wirtschaftswissenschaftliche Modelle haben nicht nur eineerkenntnisleitende Funktion innerhalb der akademischen Diskussion,sondern prägen auch das öffentliche Bewusstsein sowie die politischenEntscheidungen. Vermittelt wird dieser Transfer zwischen Theorie undPraxis durch die ökonomische Ausbildung, aber vor allem auch durchdie Politikberatung. Im Mittelpunkt des traditionellen ökonomischenDenkansatzes steht die Annahme, dass Menschen allein auf ihren eige-nen Vorteil bedacht sind. Diese Eigennutzhypothese erlaubt eine rela-tiv einfache Modellierung menschlichen Verhaltens und ist deshalb einüber die Wirtschaftswissenschaften hinaus erfolgreich angewandtes ana-lytisches Werkzeug. Sie bildet den verhaltenstheoretischen Kern nahe-zu sämtlicher ökonomischer Modelle und fliesst direkt in die ökono-mische Politikberatung ein. Doch wie sieht es mit dem empirischenGehalt dieser Hypothese aus? Orientieren sich die meisten Menschentatsächlich am Eigennutz, oder spielen auch soziale Motive wie Altruis-mus, Fairness, Reziprozität oder Neid eine Rolle? Durch die Entwick-lung der experimentellen Wirtschaftsforschung ist es heute möglich,diese Frage systematisch zu untersuchen.

55

Page 56: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Niemand will der Dumme sein

Fairness-Überlegungen spielen in sozialen Dilemma-Situationen einegrosse Rolle. In solchen Situationen führt die Befolgung individuellerInteressen zu einem insgesamt schlechten Ergebnis für alle. Ein Beispielfür solch ein Dilemma bildet die Frage umweltfreundlichen Verhaltens.Für jeden Einzelnen ist es bequemer oder kostengünstiger, mit demAuto statt dem Velo zur Arbeit zu fahren, den Müll nicht zu trennenund keine speziellen Russfilter in die Heizungsanlage einzubauen. Dochinsgesamt wäre es besser, wenn sich alle umweltgerechter verhielten, dadadurch Energie eingespart und die Umwelt vor belastenden Schad-stoffen geschützt werden könnte.

Da soziale Dilemma-Situationen extrem häufig auftreten undvon grosser ökonomischer Bedeutung sind, wurden sie in Hundertenvon Experimenten studiert. Entgegen der Eigennutzhypothese verhal-ten sich die meisten Teilnehmer bedingt kooperativ. Sie handeln zugun-sten des Allgemeinwohls, wenn auch die anderen dies tun. BedingteKooperation ist jedem vertraut. Wer kommt in einer Wohngemein-schaft schon gerne seinen Haushaltspflichten nach, wenn die Mitbe-wohner nicht oder nur «oberflächlich» putzen? Wer engagiert sich schongerne für ein Vereinsfest, wenn die anderen nicht bereit sind, Zeit undGeld dafür zu investieren? Niemand will schliesslich der Dumme sein.

Steuermoral durch Fairness

Steuerhinterziehung ist ein zentrales wirtschaftspolitisches Problem.Laut Schätzungen entgehen dem US-Fiskus hierdurch jährlich Einnah-men in Höhe von etwa 130 Mrd. $. Die traditionelle Analyse unter-stellt, dass Steuern immer dann gezahlt werden, wenn die Kosten derSteuerzahlung geringer sind als die erwarteten Kosten bei einer Steuer-hinterziehung. Um die Steuerhinterziehung einzudämmen, wird des-halb vorgeschlagen, sowohl die Strafe als auch das Risiko, ertappt zuwerden, zu erhöhen. Diese Argumentationslinie der traditionellen Poli-tikberatung hat indessen einen Haken, gilt es doch als unumstritten,dass weitaus weniger Steuern hinterzogen werden, als mit dem Eigen-

56

Page 57: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

nutz-Modell vereinbar wäre. Offenbar spielen auch nichtmaterielle Fak-toren bei der Entscheidung eine wesentliche Rolle, ob die Steuern kor-rekt bezahlt werden. Eine alternative Politik-Empfehlung muss sichdaher auch damit auseinandersetzen, wie die Steuermoral verbessertwerden kann, d. h., wie freiwillige Formen der Steuerzahlung gefördertwerden können. Die Diskussion um die sogenannte Kopfsteuer machtdeutlich, dass die Fairness des Steuersystems einen wesentlichen Einflussauf die Steuermoral ausübt.

Die traditionelle Steuerlehre betrachtet die Kopfsteuer, also dengleichen Steuerbetrag für jeden Bürger, wegen ihrer geringen Verzer-rungswirkung als besonders geeignet und effizient. Die Effizienzbeur-teilung der Kopfsteuer fällt jedoch völlig anders aus, wenn die Bedeu-tung der Steuermoral für das Steueraufkommen und die Rolle vonFairness für die Steuermoral berücksichtigt werden. Es ist zu erwarten,dass eine Kopfsteuer als extrem unfair wahrgenommen wird und zumassiver Steuerhinterziehung und anderen für das Gemeinwohl nach-teiligen Protestformen führt. Die Reaktionen auf die versuchte Ein-führung der Kopfsteuer durch die Thatcher-Regierung in Englandbelegen diese Vermutung. Es kam zu starken Protesten, und die neueSteuer liess sich politisch nicht durchsetzen. Alle Faktoren, die für dieFairness eines Steuersystems relevant sind, können sich auf die Steu-ermoral auswirken. Das gilt nicht nur für das extreme Beispiel derKopfsteuer, sondern auch für die absolute Höhe der Steuerbelastung,die Ausgestaltung der Steuertarife, den Eingangssteuersatz, denHöchststeuersatz oder die konkreten Regeln wie etwa das Ehegatten-splitting.

Wer zurückgibt, darf auch nehmen

Der moderne Sozialstaat ist auf ein Mindestmass an Akzeptanz undZustimmung seiner Bevölkerung angewiesen. In der Ausgestaltung giltes daher fundamentale Fairness-Grundsätze zu beachten. Die Akzeptanzsozialpolitischer Massnahmen kann beispielsweise erhöht werden, wennTransferempfänger wie etwa Asyl- oder Sozialhilfeempfänger nicht nuretwas erhalten, sondern auch etwas zurückgeben müssen. Da unter die-

57

Page 58: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

sen Umständen die Geber das Gefühl haben, dass sie zumindest sym-bolisch etwas zurückerhalten, sind sie viel eher bereit, einen grosszügi-gen Beitrag zu leisten. Ein Anwendungsbeispiel solch bedingter Koope-ration findet sich in der Asylpolitik. Aus gutem Grund gilt die Gewährungpolitischen Asyls als ein zentrales politisches Grundrecht. Dennoch istdie Akzeptanz dieses Grundrechtes erheblichen Schwankungen unter-worfen. Wenn es das Ziel der Asylpolitik ist, die Akzeptanz gegenüberFremden und Asylsuchenden zu stärken und Widerstände gegen dasGrundrecht auf politisches Asyl zu verringern, dann ist es sinnvoll, Asy-lanten eine zumindest beschränkte Arbeitserlaubnis zu erteilen oder siesogar zu geringfügigen Arbeiten zu verpflichten. Asylsuchende würdenhierdurch wenigstens teilweise in die Lage versetzt, ihren eigenen Leben-s unterhalt zu bestreiten, und könnten gleichzeitig signalisieren, dass sieder Gesellschaft «etwas zurückgeben».

Ähnliche Argumente gelten auch für andere Gruppen von Trans-ferbezügern. Um nicht missverstanden zu werden: Es kann selbstver-ständlich niemals um «materiell gleichwertige» Gegenleistungen gehen,da es sich ja gerade um sozialpolitisch motivierte Transferleistungenhandelt. Wenn aber die Geber realisieren, dass auch die Empfängerihren Beitrag leisten – und sei er auch gering –, steigt ihre Bereitschaftzu teilen. Daneben verringern sich durch die Möglichkeit, etwas zurück-zugeben, auch die Schamgefühle der Empfänger.

Erwartungsbildung und Kriminalität

Gemäss der ökonomischen Theorie der Kriminalität sind Menschendann kriminell, wenn der materielle Nutzen einer kriminellen Hand-lung höher ist als die damit verbundenen Kosten. Aus der Fairness-For-schung kommt ein weiteres Motiv hinzu. Wenn sich andere in meinerUmgebung nicht regelkonform verhalten, sinkt auch meine Bereit-schaft, die Regeln zu achten. Kriminalität ist ein soziales Interaktions-phänomen: Es gibt «gute» und «schlechte» Erwartungsgleichgewichte.Wenn man erwartet, dass sich die anderen an die Regeln halten, respek-tiert man die Regeln auch. Erwartet man dies hingegen nicht, dannkümmert man sich ebenfalls nicht um die Einhaltung der Vorschriften.

58

Page 59: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Durch geeignetes «Erwartungs-Management» kann daher diePolitik versuchen, die Erwartungen positiv zu beeinflussen und damitbedingt regelkonformes Verhalten zu unterstützen. Ein möglicherAnsatzpunkt ist etwa die Gestaltung des äusseren Erscheinungsbildesvon öffentlichen Plätzen und Einrichtungen. Während ein intaktesErscheinungsbild die Geltung sozialer Normen und Regeln unter-streicht, führt ein desolater Zustand öffentlicher Räume zur sich selbsterfüllenden Erwartung weiterer Verwahrlosung. In Feldexperimentenkonnte gezeigt werden, dass Menschen in einer bereits verschmutztenUmgebung viel mehr wegwerfen als in einer sauberen. Eine andereUntersuchung in 40 US-Städten belegt den positiven Zusammenhangzwischen «public disorder» und der Kriminalitätsrate. Es lohnt sich also,der Verwahrlosung öffentlicher Räume entgegenzuwirken, da sichtbareFormen von Regelverstössen zu weiteren kriminellen Handlungenermuntern und anstiften.

Literatur

Falk, A.: Homo Oeconomicus versus Homo Reciprocans: Ansätze für ein NeuesWirtschaftspolitisches Leitbild. Erscheint in: Perspektiven der Wirtschafts -politik, 2002 (www.iew.unizh.ch/home/falk/).

Falk, A. und Fischbacher, U.: Crime in the Lab – Detecting Social Interaction.Erscheint in: European Economic Review, Papers and Proceedings 2002(www.iew.unizh.ch/home/falk/).

Fehr, E. und Fischbacher, U.: Why Social Preferences Matter – The Impact of Non-Selfish Motives on Competition, Cooperation and Incentives. Frank HahnLecture der Royal Economic Society. Erscheint in: Economic Journal 2002(www.iew.unizh.ch/home/fehr/).

59

Page 60: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 61: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Tom Tyler

Höhere Produktivität dank

prozeduraler Gerechtigkeit

Überschätzte Rolle monetärer Anreize

Psychologische Studien zeigen, dass monetäre Anreize nur einen relativgeringen Teil der Unterschiede im Engagement von Arbeitnehmern zuerklären vermögen. Besser schneiden diesbezüglich Faktoren wie die Iden-tifikation der Arbeitnehmer mit den Unternehmensentscheiden oder dieEinschätzung der prozeduralen Gerechtigkeit ab.

Es ist eine Binsenwahrheit, dass der Erfolg der Firmen entschei-dend vom Engagement der Mitarbeiter abhängig ist. Diese Abhängig-keit gilt in ausgeprägtem Masse für Firmen der «New Economy», da intechnologieintensiven Branchen von den Arbeitnehmern vermehrtunabhängiges Denken und Kreativität gefordert werden.

«Soziale Motive» fördern die Kreativität

Im Folgenden sollen daher Faktoren untersucht werden, die das Ver-halten von Individuen am Arbeitsplatz bestimmen. Im herkömmlichenökonomischen Ansatz, aber auch in den in der Realität zum Einsatzgelangenden Lohnmodellen wird das Gewicht einseitig auf monetäreAnreize wie Lohnhöhe und Boni gelegt. Dies führt zu einem Manage-ment-Modell, das auf «Befehl und Kontrolle» basiert. Firmen, die die-ses Modell favorisieren, legen bezeichnenderweise die gewünschten,beobachtbaren Arbeitsleistungen im Einzelnen fest und belohnen dieLeistungen des Arbeitnehmers relativ zu diesem Benchmark. Tatsäch-lich lässt sich feststellen, dass Individuen oft härter arbeiten, wenn siebesser bezahlt werden. Doch zusammen mit Steven Blader konnte ich

61

Page 62: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

in einer Untersuchung nachweisen, dass monetäre Anreize lediglichrund 10 % der Variation im Verhalten von Arbeitnehmern zu erklärenvermögen.

Monetäre Anreize eignen sich besonders gut, wenn die Anforde-rungen im Voraus klar spezifiziert werden können. Kreativität undInitiative lassen sich dagegen mit Belohnungen weniger gut fördern. Ausdiesem Grund haben sich Organisationspsychologen über andere Lei-stungsanreize, die unter dem Stichwort «soziale Motive» zusammenge-fasst werden können, Gedanken gemacht. Soziale Motive gehen überden Wunsch nach einer guten Bezahlung oder nach besseren Karrie-rechancen hinaus. Den sozialen Motiven kann die innere Einstellungdes Arbeitnehmers gegenüber seiner Arbeit und seiner Firma zugerech-net werden; beispielsweise arbeiten Beschäftigte härter, wenn sie gegen -über ihrem Arbeitgeber loyal eingestellt sind. Arbeitnehmer mit einerpositiven inneren Einstellung engagieren sich häufiger in kreativer undinnovativer Arbeit, die in ihrer Job-Beschreibung nicht explizit festge-legt ist. Die Werthaltungen des Arbeitnehmers bilden den zweiten wich-tigen Typus sozialer Motivation. Dazu gehören seine Ansichten über dieLegitimität von Regeln innerhalb der Firma sowie seine Beurteilung dermoralischen Qualität unternehmerischer Entscheide. Arbeitnehmer, diedie Regeln und Taktiken ihrer Firma als legitim erachten, übernehmenmehr Verantwortung und werden den Regeln auch folgen, wenn ihrVerhalten nicht überwacht wird. Unsere Forschung zeigt, dass sich 20 %der Variation im Verhalten der Arbeitnehmer mit diesen «weichen» Fak-toren erklären lassen.

Prozedurale Gerechtigkeit

Die Untersuchungen der Organisationspsychologie zeigen, welcheAspekte der Firmenkultur die Einstellungen und das Verhalten derArbeitnehmer besonders prägen. Vor allem drei Aspekte stehen im Zen-trum der Diskussion. Erstens arbeiten Individuen härter, wenn sie mer-ken, dass die Regeln und die Arbeitsplatzkultur sich für sie vorteilhaftauswirken. Zweitens ziehen Menschen es vor, dort zu arbeiten, wo siedas Gefühl haben, fair entschädigt zu werden. Schliesslich lässt sich,

62

Page 63: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

drittens, das Verhalten der Arbeitnehmer durch die Einschätzung derprozeduralen Gerechtigkeit beeinflussen. Unter prozeduraler Gerech-tigkeit sind Verfahren zu verstehen, mit welchen firmeninterne Ent-scheidungen gefällt, Ressourcen verteilt und Chancen eröffnet werden.Tatsächlich zeigen die Forschungsergebnisse, dass die positive Einstel-lung am meisten dadurch beeinflusst wird, als wie fair die Arbeitneh-mer die Verfahren einschätzen, die in ihrer Firma zur Organisation derArbeit verwendet werden. Ob ein Individuum die Situation am Arbeits-platz als fair einschätzt, hängt wiederum von zwei Faktoren ab. Erstenskommt es darauf an, dass die Entscheidungen selbst als fair beurteiltwerden. Hierbei spielt es eine Rolle, ob Entscheidungen unparteiischoder voreingenommen gefällt werden, ob sie auf Fakten oder auf per-sönlichen Meinungen sowie Stereotypen beruhen und ob die Mitarbei-ter einen Einfluss auf die Entscheidungen ausüben können. Der zwei-te Aspekt, der die Einschätzung der prozeduralen Gerechtigkeit prägt,ist die Art und Weise, wie Arbeitnehmer behandelt werden – ob ihnenRespekt entgegengebracht wird und ob das Management ihren Bedürf-nissen und ihrer persönlichen Situation Rechnung trägt.

Viele Leute mögen überrascht sein, dass die prozedurale Gerech-tigkeit eine so prominente Rolle spielt, denn die Überzeugung, dass vorallem monetäre Anreize zur Arbeit motivieren, ist tief in unserer Kulturverwurzelt. Doch die empirischen Ergebnisse sprechen eine deutlicheSprache. «Soziale Motive» stellen ein Schlüsselelement dar, um die Krea-tivität der Mitarbeiter zu fördern. Arbeitnehmer wollen unter fairenBedingungen arbeiten, in denen die prozedurale Gerechtigkeit gewähr-leistet ist.

Literatur

Kramer R. M., Tyler T. R.: Trust in Organizations. Sage, Thousand Oaks (Califor-nia) 1996.

Tyler, T. und Blader, S.: Cooperation in Groups. Psychology Press, Philadelphia2000.

63

Page 64: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 65: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

IV. Die kleine Gruppe

und die grosse Gemeinschaft

Page 66: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 67: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Vernon Smith

Handeln in zwei Welten

Interaktion auf Märkten und im persönlichen Austausch

Wirtschaftssubjekte interagieren einerseits in einer Welt des persönlichenAustauschs, der durch Sanktionen und Reziprozität gesteuert und durch einhohes Niveau an intentionaler Kooperation geprägt wird. Anderseits agie-ren Individuen auf anonymen Märkten, auf denen Adam Smiths «unsicht-bare Hand» die individuellen Pläne koordiniert, obwohl jeder Marktteil-nehmer nur seinen eigenen Interessen folgt.

Den grössten Teil unseres operativen Wissens haben wir nichtbewusst erworben, sondern – unterstützt durch unsere angeborenenKompetenzen – durch Imitation oder Erfahrung akkumuliert. Im Altervon vier Jahren beherrschen wir die Muttersprache; wir vermögen Ver-ben zu konjugieren und Sätze zu konstruieren. Das Lernen der Spracheerfordert keine Unterweisung durch die Mutter oder einen Lehrer.Zuhören allein genügt, um die angeborenen «Schaltungen» zu initiali-sieren. Im Alter zwischen vier und fünf Jahren lernen wir «Gedankenlesen». Wir schliessen aus Handlungen und Worten, was jemand glau-ben oder denken müsste – zum Beispiel, dass ein Spielkamerad fälsch-licherweise glauben muss, das Spielzeug befinde sich in der Kiste, wenner nicht beobachtet hat, wie es aus der Kiste entfernt wurde. In der wei-teren Entwicklung eignen wir uns immer komplexere Verhaltensmusteran, welche uns ermöglichen, einen immer grösseren Nutzen aus sozia-len Interaktionen zu ziehen.

67

Page 68: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Ordnung ohne Kontrolle

1952 formulierte Friedrich August von Hayek ein Modell der Wahr-nehmung, das durch Ergebnisse aus der Neurobiologie gestützt wird.Demgemäss wird die Erfahrung nicht, wie wir vielleicht zunächst ver-muten würden, durch den Empfang von Signalen geformt, die festeEigenschaften externer Phänomene reflektieren. Die Wahrnehmungberuht vielmehr auf der Wechselwirkung zwischen momentanen Rei-zen und Erfahrungen, die in der Vergangenheit in ähnlichen Umstän-den gemacht wurden. Geistige Kategorien entstehen dynamisch aus derrelativen Häufigkeit, mit der erinnerte und laufende Erfahrung über -einstimmen. Jede Wahrnehmung ist Erinnerung: Gespeichert werdenexterne Reize, die durch in der Vergangenheit geprägte Verarbeitungs-systeme modifiziert werden.

Der menschliche Verstand neigt zu der Überzeugung, die gesell-schaftliche Struktur sei durch jemanden in der Vergangenheit bewusstgestaltet worden. Individuen, Komitees und gesetzgebende Körper-schaften erlassen Regeln und Gesetze – und der Verstand sieht Designeram Werk. Was dagegen unbemerkt bleibt, sind Prozesse, in denen Nor-men ignoriert, in ihrem Gebrauch variiert oder teilweise ersetzt werden.Diese Prozesse werden von niemandem überwacht. Wenn etwas funk-tioniert, dann interpretiert es der Verstand als Erfindung eines ver-nunftbegabten Wesens und nicht als Endergebnis eines Prozesses, derdurch Versuch und Irrtum unzählige Modifikationen erfahren hat undan welchem eine Vielzahl von kurzsichtigen Wesen beteiligt waren. Ent-gegen den Befunden der Gehirnforschung glaubt der Verstand, er ver-füge immer über die Kontrolle.

Dass das Gehirn lernt und vieles ohne bewusste Steuerungerreicht, macht ökonomisch Sinn. Die meisten Aktivitäten werden «off-line» bearbeitet. Dadurch werden knappe Aufmerksamkeitsressourcengespart, die für die Reaktion auf Neuerungen, für die Kreativität sowiefür rasches Urteilen benötigt werden. Die herkömmliche ökonomischeTheorie beruht nun einseitig auf diesem rationalen Urteilsvermögen –unbewusste Prozesse oder das Vorhandensein von Normen werden aus-geblendet. Stattdessen wird angenommen, dass Individuen immer

68

Page 69: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

bewusst die Vor- und Nachteile von Handlungsalternativen abwägenund über vollständige Information verfügen. Die herkömmliche öko-nomische Theorie leitet daher rationale konstruktivistische Modelleinteraktiver Entscheidungen her, die von Zweipersonen-Verhandlungs-spielen bis zu Vielpersonen-Marktspielen reichen. Die interaktive Struk-tur dieser Spiele und die Auszahlungsumgebung können leicht inLaborexperimenten reproduziert werden. – Was lernen wir aus diesenStudien über menschliches Sozial- und Marktverhalten?

Vertrauen trotz Anonymität

In Zweipersonen-Spielen sind Verhaltensmuster zu beobachten, die aufVertrauen und Vertrauenswürdigkeit basieren. Das Erstaunliche dabeiist, dass diese Verhaltensweisen selbst dann zu beobachten sind, wenndie Individuen völlig anonym aufeinander treffen. Oft können Aus-zahlungsniveaus erreicht werden, die weit über den Ergebnissen liegen,welche von der herkömmlichen Theorie mit rational-optimierendenIndividuen prognostiziert werden – es handelt sich sozusagen um ein«überrationales» Resultat unserer biologischen und kulturellen Anpas-sung. Als illustratives Beispiel seien die Ergebnisse eines Vertrauens-spiel-Experiments angeführt. In diesem Spiel werden 12 Kandidatenzunächst zufällig und anonym in 6 Paare eingeteilt. Den beiden Spie-lern eines Paares wird die Rolle des Spielers 1 (P1) oder 2 (P2) zuge-wiesen. Jedes Paar sieht sich folgenden Spielregeln gegenüber: P1 kannentweder 20 $ gleichmässig auf P1 und P2 aufteilen oder P2 die Auf-teilung überlassen. In diesem Fall erhöht sich das Preisgeld auf 30 $ undP2 kann wählen zwischen der Aufteilung 18 $ für sich selbst und 12 $für P1, oder 25 $ für sich selbst und die restlichen 5 $ für P1. Die her-kömmliche Theorie sagt voraus, dass P1 den Zug nicht an P2 weiter-geben wird, weil er erwarten muss, dass P2 die Aufteilung 5 $ : 25 $wählen wird. Die gleichgewichtige Aufteilung ist daher 10 $ für beide,womit aber ein Pay-off von 10 $ nicht realisiert werden kann.

Das Experiment zeitigte folgende Ergebnisse: Ungefähr die Hälf-te der P1-Spieler liessen P2 zum Zug kommen. Von den P2-Spielernantworteten zwei Drittel bis drei Viertel mit der kooperativen Auftei-

69

Page 70: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

lung von 12 $ für P1 und 18 $ für P2, während der Rest die egoistischeLösung mit 5 $ für P1 und 25 $ für P2 vorzog. In einer Spielversion mitStrafmöglichkeiten kann P1 unter Aufwendung von Kosten den Spie-ler P2 mit einer Reduktion der Auszahlung für sein egoistisches Ver-halten bestrafen. Beispielsweise kann nun P1 zwischen 5 $ : 25 $ und0 $ : 0 $ wählen. Entgegen der theoretischen Prognose wurde in denExperimenten durchschnittlich die Hälfte der selbstsüchtigen P2-Spie-ler bestraft.

Wie sind das hohe Niveau an Kooperation und der häufige Ein-satz von kostspieliger Bestrafung zu erklären? Viele übereinstimmendeStudien legen als Erklärungsansatz Reziprozität nahe: wenn P1 die Auf-teilungsentscheidung P2 überlässt, ermöglicht dies beiden eine höhereAuszahlung. P2 erhält nun die Möglichkeit, auf den Goodwill von P1mit Kooperation zu antworten. Die Menschen sind pausenlos im sozia-len Austausch engagiert, sie tauschen Gefälligkeiten, Geschenke undDienste zwischen Kollegen aus. Dieser Imperativ ist offenbar so starkausgeprägt, dass er selbst in völlig anonymen Laborexperimenten dieErgebnisse treibt.

Bewusste und unbewusste Kooperation

Dieselben Subjekte, die sich in den Zweipersonen-Spielen kooperativverhalten, zeigen ein anderes Verhaltensmuster, wenn sie auf Wettbe-werbs- und Auktionsmärkten mit klar definierten Eigentumsrechtenagieren. Marktexperimente zeigen nämlich, dass sich Individuen in die-sem Fall egoistisch verhalten. Diese Forschung bestätigt die theoreti-schen Voraussagen von Adam Smith oder Friedrich August von Hayek,gemäss denen Märkte mit Tausenden und sogar Millionen von Men-schen eine Spezialisierung erlauben, mit der Reichtum geschaffen wer-den kann. Menschliches Verhalten wird auf diesen anonymen Märktenüber selbst regulierende Preismechanismen koordiniert, ohne dassjemand den Agenten sagen müsste, was sie zu tun haben. – Es ist bemer-kenswert, wie jeder von uns in zwei Welten funktioniert: Wir leben zumeinen in einer Welt des persönlichen Austauschs, der durch Sanktionenund Reziprozität gesteuert wird und der durch ein hohes Niveau an

70

Page 71: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

bewusster Kooperation geprägt ist; zum anderen agieren wir in einerzweiten Welt des unpersönlichen Austauschs über Märkte, die durchsich immer weiter entwickelnde kulturelle Regeln geformt werden. Aufdiesen Märkten führt das Verfolgen des Eigeninteresses zur Maximie-rung der Wohlfahrt, obwohl wir dieses Ergebnis nicht bewusst anstre-ben – wir kooperieren, ohne uns dessen bewusst zu sein. Jede der bei-den Welten bildet ein komplexes, sich selbst regulierendes System, andas wir uns angepasst und zu dessen Entwicklung wir beigetragenhaben. Die Handlungen in beiden Welten werden von Regeln geprägt,die sich über die Zeit herausgebildet und bewährt haben. Wie Hayekbemerkte, werden Regeln der Solidarität (d. h. Reziprozität), mit denen«Gutes zu tun» beabsichtigt wird, das Marktsystem zerstören, falls sieaggressiv für Eingriffe zur «Verbesserung» des Marktergebnisses einge-setzt werden. Ebenso werden die eigensüchtigen Beweggründe, welchedas Verhalten auf Märkten prägen, Familien und kleine Gruppen zer-setzen, wenn sie tel quel in diesen Bereich menschlichen Zusammenle-bens übertragen werden.

Literatur

Hoffman E., McCabe K. and Smith, V.: Behavioral Foundations of Reciprocity:Experimental Economics and Evolutionary Psychology. Economic Inquiry36 (1998), 335–352.

McCabe, K., Rassenti, S. and Smith, V.: Reciprocity, Trust and Payoff Privacy inExtensive Form Experimental Games. Games and Economic Behavior 24(1998), 10–23.

71

Page 72: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 73: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Samuel Bowles und Herbert Gintis

Die Gemeinschaft als

Regelmechanismus

Das «Soziale Kapital» zwischen Markt und Staat

Die Anonymität der globalisierten Welt führt vielerorts zur Besinnung aufdie kleine Gruppe, die Gemeinschaft, in der man sich persönlich kennt undwo weder ökonomische Anreize noch formelle Regeln allein das Zusam-menleben und -wirken bestimmen.

In Amerika hat die Idee des sogenannten «Sozialen Kapitals» dieakademischen Zirkel und die Politiker gleichermassen im Sturmerobert. George Bush rief die amerikanische Öffentlichkeit auf, sichvom Staat ab- und den «1000 Lichtpunkten einer vibrierenden Zivil-gesellschaft» zuzuwenden. Hillary Clinton bemerkte (noch als FirstLady), dass es «ein Dorf braucht, um ein Kind grosszuziehen». UndHarvard-Professor Robert Putnam landete mit seinem «Bowling Alone:the Collapse and Revival of American Community» einen Bestseller, derdas amerikanische Malaise zum Ausdruck zu bringen scheint.

Gute Spielregeln statt guter Bürger

Der Ausdruck «Sozialkapital» meint Vertrauen, die Sorge um die, wel-che einem nahestehen, sowie die Bereitschaft, die gemeinschaftlichenRegeln einzuhalten und jene zu bestrafen, die es nicht tun. Schon klas-sische Denker wie Aristoteles, Thomas von Aquin oder Edmund Bur-ke haben die Bedeutung dieser Eigenschaften für ein gutes Zusam-menleben und ein gutes Regieren anerkannt. Seit Adam Smith nehmenÖkonomen jedoch den Homo oeconomicus, den egoistischen Maxi-mierer materieller Interessen, zum Ausgangspunkt für Fragen der Poli-

73

Page 74: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

tik und der Verfassung. Dadurch wurden Wettbewerbsmärkte, wohldefinierte Eigentumsrechte sowie effiziente und rechenschaftspflichtigeStaaten als Anforderungen an eine gute Regierung betont. Gute Spiel-regeln haben die guten Bürger als Conditio sine qua non einer gutenGesellschaft ersetzt.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden die beiden kon-kurrierenden Lager, die entweder das Laissez-faire oder die zentralePlanung als ideale Form ökonomischer Steuerung propagierten. Bisweit in das 20. Jahrhundert hinein haben sie die Debatte über Insti-tutionen und Politik geprägt. Die beiden Positionen teilten die Annah-me, nur entweder der Markt oder der Staat könne den ökonomischenProzess adäquat steuern und es gebe keine weiteren Möglichkeiten.Eine Mischung aus Wählerorientierung und Gewissen führte aller-dings auch zu weniger dogmatischen Ansätzen zur Lösung drängen-der sozialer Probleme. So brachen insbesondere christdemokratischeParteien und einige Vertreter der Sozialdemokratie in Europa aus derEnge dieser intellektuellen Debatte aus. In der akademischen Weltund unter Ökonomen in einflussreichen Beraterfunktionen (wie z. B.den amerikanischen Architekten des brüchigen postkommunistischenÜbergangs) florierte dagegen die traditionelle Gegenüberstellung vonPlan und Markt. Heute scheinen die einseitigen Stellungnahmenzugunsten einer spontanen Ordnung einerseits oder eines SocialEngineering anderseits veraltet. Viele sind inzwischen überzeugt, dassMarktversagen eher die Regel als die Ausnahme ist und dass die Regie-rungen weder ausreichend informiert noch hinreichend rechen-schaftspflichtig sind, um es korrigieren zu können. Sozialkapital istdaher nicht aus eigenem Verdienst zu Berühmtheit gelangt, sondernweil sich alternative Paradigmen erschöpft haben. Jene links vom Zen-trum fühlen sich zur Idee des Sozialkapitals hingezogen, weil diese dieVorstellung in Frage stellt, klar definierte Eigentumsrechte und kom-petitive Märkte könnten eigensüchtige Motive so erfolgreich füröffentliche Zwecke einspannen, dass Bürgertugenden überflüssig wer-den. Für die Rechte hingegen bringt die Idee das Versprechen, dass beiMarktversagen die Nachbarschaft und Vereine an die Stelle des Staa-tes treten.

74

Page 75: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Die Idee des Sozialkapitals ist deshalb so anziehend, weil selbstbestens gestaltete Märkte und Staaten nicht funktionieren könnten,wenn das Selbstinteresse der Menschen tatsächlich so ausgeprägt wäre,wie es in den ökonomischen Lehrbüchern dargestellt wird. Das effizi-ente Funktionieren sowohl des Austauschs auf Märkten als auch derpolitischen Steuerung setzt vielmehr Vertrauen, sozialen Druck, sichgemäss den Normen der Gruppe zu verhalten, und Sorge für das Wohl-ergehen anderer voraus. Nur so können Märkte und Staaten funktio-nieren, obwohl Verträge und Erlasse nie detailliert genug ausgestaltetund einfach genug durchsetzbar sind, um zwischen vollkommen egoi-stischen Händlern und Bürgern die gewünschten Ergebnisse zu erzie-len.

Vertrauen und Reziprozität

Das tatsächliche Funktionieren von Märkten und Marktanreizen istvon Ökonomen missverstanden worden, weil sie die weit verbreitetenSpielarten uneigennützigen Verhaltens nicht beachtet haben. Ein gutesBeispiel dafür ist die Schwierigkeit, die Arbeitsmarktökonomen haben,wenn sie erklären sollen, warum die Löhne in einer Rezession nicht sin-ken. Geht man davon aus, dass beschäftigte Arbeiter wesentlich bessergestellt sind als sonst vergleichbare arbeitslose Arbeitskräfte, lautet einweiteres Rätsel: Warum «verkaufen» die Arbeitgeber nicht Arbeitsplätzegegen eine Art «Eintrittsgebühr», die sie am ersten Tag der Beschäfti-gung einkassieren? Beide Fragen sind leicht zu beantworten, wenn mandie Bedeutung von Reziprozität und Vertrauen als Grundlagen des Ver-haltens in leistungsorientierten Organisationen einer modernen Wirt-schaft berücksichtigt.

Wie andere modische Ausdrücke hat auch der Ausdruck «Sozi-al kapital» so viele unterschiedliche Verwendungen erfahren, dass wir ihneigentlich zugunsten des präziseren Terminus «Gemeinschaft» fallen las-sen möchten. Unter «Gemeinschaft» verstehen wir eine Gruppe vonLeuten, die direkt, häufig und in vielgestaltiger Weise miteinander inter-agieren. Leute, die miteinander arbeiten, bilden üblicherweise Gemein-schaften in diesem Sinn, so wie etwa manche Wohnquartiere, Freun-

75

Page 76: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

deskreise, professionelle und geschäftliche Netzwerke, «Gangs» oderSportklubs. Das entscheidende Charakteristikum solcher Gemein-schaften sind die persönlichen Beziehungen und nicht etwa die Zunei-gung. Die Herausforderung für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsord-nung besteht heute darin, jene Kombination von Markt, Staat, Familieund Gemeinschaft zu finden, welche bestehende soziale Probleme ambesten lösen kann. Märkte sind attraktiv, weil sie private Informationnützen können. Wenn es daher möglich ist, umfassende Verträge zugestalten und diese auch zu geringen Kosten durchzusetzen, sind Märk-te oft anderen Steuerungsmechanismen überlegen.

Verstreute private Informationen

Der Staat kann eine andere spezifische Klasse von Problemen lösen. Erallein hat die Macht, Menschen zu etwas zu zwingen, das sie sonst nichttun würden. Das Eingreifen des Staates ist etwa dann unentbehrlich,wenn – wie bei Sozialversicherungsprogrammen oder der Finanzierungder Landesverteidigung – die verpflichtende Teilnahme erforderlich ist.Es ist ferner dort gefragt, wo Spielregeln aufgestellt und durchgesetztwerden müssen wie beispielsweise bei der Definition relevanter Eigen-tumsrechte in der Umwelt- und Familienpolitik.

Gemeinschaften wiederum können vor allem Probleme ange-hen, die entstehen, weil nicht alle entscheidenden Einzelheiten in einemdurchsetzbaren Vertrag festgehalten werden können. Die Gemeinschaftkann hier kontrollieren und eingreifen, weil sie auf verstreute privateInformationen zugreifen kann, welche dem Staat, dem Arbeitgeber,Banken und anderen grossen formalen Organisationen oft nicht zurVerfügung stehen. Im Gegensatz zu Markt und Staat fördern und nüt-zen Gemeinschaften Mechanismen, welche von Menschen schonimmer eingesetzt wurden, um ihre gemeinsamen Aktivitäten zu regu-lieren: Vertrauen, Solidarität, Reziprozität, Reputation, persönlicherStolz, Respekt, Rache und Vergeltung.

76

Page 77: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Problemlösung im überblickbaren Kreis

Gemeinschaften können Probleme lösen, mit denen weder allein han-delnde Individuen noch Märkte oder Regierungen fertig werden kön-nen. Insofern sind sie ein wichtiger Bestandteil jeder gesellschaftlichenund wirtschaftlichen Ordnung. In manchen Quartieren von Chicagostellen beispielsweise die Anwohner die Jugendlichen zur Rede, die dieSchule schwänzen, stören oder die Wände mit Graffiti beschmieren.Auch engagieren sie sich, um lokale Einrichtungen zu erhalten, wieetwa durch Budgetkürzungen bedrohte Feuerwehren. Quer durch alleChicagoer Quartiere gibt es eine grosse Bandbreite dieser «kollektivenEffektivität». Dabei zeigt sich zum Beispiel: Wo ein hohes Niveau ankollektiver Effektivität besteht, ist die Zahl der Gewaltverbrechen deut-lich geringer. Bemerkenswerterweise wirkt sich die ethnische Heteroge-nität dabei nur wenig nachteilig auf die kollektive Effektivität aus, ganzim Gegensatz zum Ausmass ökonomischer Benachteiligung, zum gerin-gen Anteil an privatem Wohn eigentum und zu anderen Indikatoreneines instabilen Wohnumfelds.

Eine erfolgreiche Genossenschaft

Die japanischen Fischereigenossenschaften der Toyama-Bucht illustrie-ren einen weiteren Aspekt gemeinschaftlichen Problemlösens. Als Reak-tion auf die starken Schwankungen der Fischfänge sowie die hohen undwechselhaften Anforderungen haben sich einige Fischer dazu ent-schlossen, Einkommen, Information und Ausbildung zu teilen. Eine derKooperativen, die seit ihrer Gründung vor 35 Jahren sehr erfolgreich ist,besteht aus der Besatzung und den Kapitänen von sieben Garnelen-schiffen. Die Fischer teilen Einkommen und Kosten, reparieren gemein-sam kaputte Netze und tauschen Information über Ort und Ergiebig-keit der Fanggründe aus. Die älteren Mitglieder geben ihre Erfahrungenweiter, und die gebildeteren jüngeren Mitglieder bringen den anderendie neuen hochtechnologischen Verfahren wie etwa Sonar bei. DasFischen, das Ausladen und der Verkauf des Fangs durch die einzelnenBoote erfolgen gleichzeitig, um die Transparenz der Aufteilung zu ver-

77

Page 78: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

bessern und um ein Abweichen von der Abmachung leichter entdeckenzu können. Die Einkommens- und Kostenteilung der Genossenschafterlaubt es den Booten, in viel riskanteren und ergiebigeren Fischgrün-den zu fischen. Die gemeinsame Ausbildung und Information erhöhtdie Gewinne und senkt die Produktivitätsunterschiede zwischen denBooten.

Die hochgezogene Augenbraue

Diese Beispiele legen nahe, dass Gemeinschaften etwas zustande brin-gen können, woran Markt und Staat scheitern. Denn nur die Mitglie-der einer Gemeinschaft – nicht aber Aussenstehende – besitzen die entscheidenden Informationen über Verhalten, Fähigkeiten undBedürfnisse der anderen Mitglieder. Diese Informationen könnengenutzt werden, um Normen aufrechtzuerhalten oder um effiziente Ver-sicherungseinrichtungen zu schaffen, die nicht von den üblichen Pro-blemen des egoistischen Opportunismus geplagt werden. Eine hochge-zogene Augenbraue, ein nettes Wort, eine Warnung, Tratsch oder Spottkönnen Erfolg haben, wo eine richterliche Anordnung oder ein Vertragversagt. Diese informellen Formen der Verhaltenssteuerung sind beson-ders dann effektiv, wenn sie durch Nachbarn oder Arbeitskollegen erfol-gen, die man als «einen von uns» statt als «einen von denen» ansieht.

Gefährdete Vielfalt

Die gemeinschaftliche Lösung von Problemen ist allerdings nicht ohneNachteile. Erfolgreiche Gemeinschaften sind beispielsweise oft relativklein und homogen, so dass sie keine Vorteile aus Skalenerträgen ziehenkönnen. Auch besteht die Gefahr, dass sie wertvolle Formen der Viel-falt unterbinden. Darüber hinaus beruhen Gemeinschaften oft auf derAusgrenzung von Aussenstehenden, die einem anderem Geschlecht,einer anderen Rasse, einer anderen Religion oder einer anderen Natio-nalität angehören. In solchen Fällen kann eine Gemeinschaft eher denengen Kirchturmhorizont und die Feindseligkeit gegenüber Fremdenfördern, als dass sie das Versagen von Markt und Staat korrigiert.

78

Page 79: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Potenzial für die Cyber-Wirtschaft

Was trägt zum Erfolg des gemeinschaftlichen Ansatzes bei? Mitgliedereiner erfolgreichen Gemeinschaft ernten die Früchte ihres Erfolgs oderMisserfolgs selbst. Funktioniert die Gemeinschaft gut, profitieren auchdie Mitglieder. Die japanischen Fischer, die Matrosen ebenso wie derKapitän besitzen beispielsweise Anteile am Ertrag der Kooperative undpartizipieren daher direkt am Erfolg. Angestellten mit einem fixen Lohnist hingegen eine solche Partizipation am Erfolg nicht möglich. Bei denEinwohnern von Chicago haben die Quartiere, in denen privatesWohneigentum üblich ist, ein viel höheres Niveau an «kollektiver Effek-tivität». Das liegt wahrscheinlich an den Wohnungseigentümern, dievon ihrem Engagement voll profitieren können, weil sich nicht nur ihreLebensqualität bessert, sondern auch der Wert der Wohnungen steigt.Diese Beispiele legen somit nahe, dass die Gemeinschaftsmitglieder imAllgemeinen auch Nutzniesser ihrer Bemühungen sein müssen. ImGegensatz dazu sind dort, wo das Eigentum stark konzentriert ist, dieAnreize für erfolgreiche gemeinschaftliche Lösungen nur schwach odergar nicht vorhanden.

Gemeinschaften gibt es schon viel länger als Staaten und Märk-te. Es wurde häufig angenommen, die ökonomische Bedeutung derInteraktionen von Angesicht zu Angesicht werde dasselbe Schicksalerleiden wie Adelstitel, Schuldtürme und andere traditionelle Regel-und Sanktionsmechanismen. Kontrolle im Rahmen von Gemeinschaf-ten wird jedoch in Zukunft eher mehr als weniger Bedeutung erlangen.Direkte Interaktionen werden in der modernen Cyber-Wirtschaft häu-figer werden, wo informationsintensive Team-Produktion das Fliess -band ersetzt und die wachsende Bedeutung von Pflege, Unterhaltung,Unterricht und anderen schwer messbaren Dienstleistungen die Ära der«gewichtslosen Wirtschaft» einläutet.

Gemeinschaften funktionieren gut, wenn die Aufgaben qualita-tiv sind und schwer durch explizite Verträge erfasst werden können,wenn die Mitglieder die Konsequenzen ihrer eigenen Handlungen imGuten wie im Schlechten zu spüren bekommen und wenn Interessen-konflikte zwischen den Mitgliedern selten sind. Es ist wahrscheinlich,

79

Page 80: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

dass extrem ungleiche Gesellschaften in Zukunft einen Wettbewerbs-nachteil haben werden, weil ihre Struktur der Privilegien und der mate-riellen Belohnungen die Möglichkeit der Regelung und Kontrolle durchGemeinschaft beschränkt, welche mit Blick auf die qualitativen Inter-aktionen, welche die «gewichtslose Wirtschaft» kennzeichnen, so wich-tig sind.

Literatur

Samuel Bowles and Herbert Gintis: The Moral Economy of Community: Structu-red Populations and the Evolution of Prosocial Norms. Evolution andHuman Behavior 19, 1 (January 1998): 3–25.

Ben Craig and John Pencavel: Participation and Productivity: A Comparison ofWorker Cooperatives and Conventional Firms in the Plywood Industry.Brookings Papers: Microeconomics (1995): 121–160.

Ernst Fehr and Simon Gaechter: Cooperation and Punishment. American Econo-mic Review 90, 4 (September 2000).

Jean-Philippe Platteau and Erika Seki: Community Arrangements to OvercomeMarket Failures: Pooling Groups in Japanese Fisheries. University of Namur(1999).

Robert J. Sampson, Stephen W. Raudenbush, and Felton Earls: Neighborhoods andViolent Crime: A Multilevel Study of Collective Efficacy. Science 277,August 15 (1997): 918–924.

80

Page 81: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

V. Geld und Finanzen

Page 82: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 83: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Robert J. Shiller

Paradigmenwechsel in der

Finanzmarktforschung

Marktanomalien als Ausgangspunkt eines neuen Theoriegebäudes

In der Finanzmarktforschung dominiert die Sichtweise, dass in die Preis-bildung alle verfügbaren Informationen einfliessen und Preisänderungennicht prognostizierbar sind. Ökonometrische Analysen lassen allerdingsZweifel an dieser Hypothese aufkommen. Bei den festgestellten Marktan-omalien handelt es sich keineswegs um vernachlässigbare Kuriositäten. Viel-mehr decken diese einen fundamentalen Mangel der herrschenden Theorieauf.

Wissenschaftliche Revolutionen sind mit Paradigmenwechselnverbunden. Paradigmenwechsel zeichnen sich aus durch eine Änderungder fundamentalen Annahmen und Modelle, auf denen die Denkweiseder Forscher beruht. Eine solche Revolution scheint gegenwärtig in derFinanzmarktökonomik im Gange. Das neue Paradigma besitzt bereitseinen Namen: Behavioral Finance.

Das Räderwerk der Finanzmärkte

Behavioral Finance war keine erkennbare akademische Bewegung, alsich vor über zwanzig Jahren damit in Berührung kam. Selbst vor zehnJahren, als ich zusammen mit Richard Thaler von der University ofChicago eine Serie von Konferenzen zu diesem Thema organisierte, wardie Forschungsrichtung noch nicht prominent vertreten. Heutzutagedagegen wird von den Universitäten und privaten Forschungseinrich-tungen eine Vielzahl von Konferenzen, Seminaren und Lehrgängen inBehavioral Finance angeboten.

83

Page 84: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Behavioral Finance bezeichnet eine Strömung innerhalb derFinanzmarktforschung, welche, sozialwissenschaftlich fundiert, das Ver-halten auf Finanzmärkten zu ergründen versucht. Im Gegensatz zu dentraditionellen Wirtschaftswissenschaften werden in ihr speziell Erkennt-nisse aus der Psychologie, aber auch aus der Soziologie, der Anthropo-logie und aus den Politikwissenschaften für die Theorienbildung frucht-bar gemacht. Behavioral Finance ersetzt ein älteres Paradigma, das dieFinanzmarktforschung über vierzig Jahre lang dominiert hat – ein Para-digma, das man als «Finanzmarktökonomik mit rational-optimierendenAgenten» bezeichnen könnte. Der brauchbarste Teil dieses älteren Para-digmas besteht zum einen in der mathematisch präzisen Ausarbeitungoptimaler Strategien für Fragen des Kaufs und Verkaufs von Wertpa-pieren unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit des Eintretensverschiedener Ereignisse und zum anderen in der Entwicklung der sta-tistischen Verfahren zur Schätzung dieser Wahrscheinlichkeiten. DieseElemente sind äusserst nützlich und werden es auch längerfristig blei-ben. Als konstituierend für das ältere Paradigma erweist sich vor allemdie Annahme, dass sich jeder Marktteilnehmer auf Finanzmärktenbereits optimal verhält. Wenn sich aber alle optimal verhalten und ihreWertpapierkäufe und -verkäufe im Lichte sämtlicher verfügbaren Infor-mationen tätigen, dann sind die Marktpreise das Resultat dieser effizi-enten Informationsverarbeitung. Das Paradigma rational-optimierenderAkteure impliziert demnach in letzter Konsequenz das perfekte undpräzise Funktionieren der Finanzmärkte.

Die Hypothese der effizienten Märkte

Die herkömmliche Finanzmarkttheorie führt zur sogenannten Hypo-these der effizienten Märkte. Gemäss dieser Hypothese reflektieren dieMarktpreise von Wertpapieren, die auf liquiden Märkten gehandeltwerden, zukünftige ökonomische Variablen wie die in Zukunft anfal-lenden Dividenden und Gewinne. Wenn daher an einem bestimmtenTag die Aktienkurse steigen, kann dies gemäss dieser Hypothese demUmstand zugeschrieben werden, dass neu auf die Märkte gelangte Infor-mationen nahelegen, dass die zukünftigen Dividenden oder Gewinne

84

Page 85: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

etwas besser ausfallen werden, als noch am Tag zuvor angenommenwurde. Wenn die Aktienkurse an einem bestimmten Tag hingegen fal-len, dann muss dies an einer Eintrübung der Dividenden- und Gewinn-aussichten liegen. Die Hypothese lässt auch vorhersagen, wie die Akti-en märkte auf eine Änderung der zukünftig erwarteten Zinssätzereagieren. Die Preise steigen, sofern die Informationen eine Senkung derZinsen nahelegen (da dadurch der Barwert zukünftiger Dividenden-ausschüttungen steigt) und vice versa.

Die Hypothese der effizienten Märkte impliziert, dass Preisän-derungen zu jedem beliebigen Zeitpunkt nicht vorhersagbar sind. WennPreisänderungen nur durch neue Informationen hervorgerufen werden,dann müssen Prognosen solcher Änderungen zwangsläufig scheitern.Die Effizienzhypothese gilt als Ausgangspunkt für die berühmte Ran-dom-Walk-Theorie der Aktienkurse. Diese Theorie besagt, dass sich dieKurse von Tag zu Tag völlig zufällig und damit vollkommen unvorher-sehbar bewegen. Diese Unvorhersehbarkeit bedeutet nicht etwa, dassdie Kursbewegungen «unsinnig» sind. Laut Theorie ergeben sie einenSinn, da die Bewegungen wie die Ausschläge eines Seismographen inter-pretiert werden können, welcher auf neue Informationen reagiert unddiese verarbeitet. Die Ausschläge erscheinen dem oberflächlichen Beob-achter wie zufällig, weil die meisten von uns nicht über die relevantenInformationen verfügen, welche für die Marktreaktionen verantwort-lich sind.

Die Random-Walk-Theorie der Aktienkurse hat die Wahrneh-mung der Aktienmärkte entscheidend geprägt, seit Burton Malkiels ein-flussreiches Buch «A Random Walk Down Wall Street» 1973 erschie-nen ist. Nun bereits in der 7. Auflage stehend, hat sich sein Buch zurBibel für Aktieninvestoren entwickelt. Auf einen einfachen Nennergebracht, besagt die Random-Walk-Theorie, dass die Investoren demlaufenden Marktpreisniveau keinerlei Beachtung schenken sollten.Stattdessen sollte man stets davon ausgehen, dass auf dem Markt inZukunft dieselbe durchschnittliche Performance wie in der Vergangen-heit erzielt werden kann – plus oder minus eine zufällig schwankendeKomponente, über die nichts ausgesagt werden kann. In den USA soll-ten die Anleger daher durchschnittlich eine Rendite von zwölf Prozent

85

Page 86: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

für dieses und jedes zukünftige Jahr erwarten, handelt es sich dabeidoch um die durchschnittliche historische Rendite auf den US-Märk-ten (nicht inflationsbereinigt). Diese Überlegungen reflektieren dengegenwärtigen Stand des Wissens. Millionen unbekümmerter Investo-ren erwarten eine zwölfprozentige Rendite, obwohl sich der Aktien-markt heute in der Nähe des historischen Hochs befindet.

Die entscheidenden «kleinen» Abweichungen

Die Hypothese der effizienten Märkte und die Random-Walk-Theoriesind mächtige theoretische Konstrukte und würden, wenn sie zuträfen,einen hervorragenden theoretischen Rahmen für die Analyse der Kurs-bewegungen von Wertpapieren abgeben. Statistische Analysen zeigenfreilich die Grenzen dieser Theorie auf. Zwar sind die Tages- oderMonatsschwankungen von Aktienkursen tatsächlich durch kein stati-stisches Modell exakt vorhersagbar. Die statistische Analyse hat jedochauch gezeigt, dass bestimmte wohl definierte Abweichungen der Wert-papierpreise von der Prognose der Effizienzhypothese existieren. DieseAbweichungen werden in akademischen Kreisen als «Anomalien»bezeichnet. Als Beispiel liesse sich anführen, dass die Tages- oderMonatsveränderungen von Akienkursindizes eine gewisse Persistenzbesitzen, d. h., sie haben die Tendenz, sich während einer gewissen Zeitein wenig in einer Richtung zu bewegen. Deshalb sind die Tages- oderMonatsveränderungen der Aktienkurse in einem gewissen Sinne pro-gnostizierbar, wenn man die vorangegangenen Kursveränderungenberücksichtigt.

Die Literatur zu Marktanomalien ist in den letzten zehn Jahrenso umfangreich geworden, dass diese zu einem Gemeinplatz gewordensind. Jungen Wissenschaftern, die versuchen, durch Erweiterung desKatalogs der entdeckten Anomalien wissenschaftliche Lorbeeren zu ern-ten, geht es so wie den Entdeckern neuer Kometen. Sie werden zwar alsKuriosität wahrgenommen, aber letztlich als eine weitere unwichtigeTrivialität abgetan. Die Meinungsverschiedenheiten bestehen heutzu-tage darin, wie man die enorme Informationsflut über Anomalien inter-pretieren und zusammenfassen sollte. Manche Wissenschafter betrach-

86

Page 87: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

ten alle Anomalien als zweitrangige Phänomene, als letztlich unwichti-ge Abweichungen von der Effizienzhypothese, die man entweder igno-rieren oder durch geringfügige Änderungen an der Theorie in dieseintegrieren könne.

Wider das Ad-hoc-Theoretisieren

Der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper hat eine derart unbeküm-merte Vorgehensweise mit Anomalien als «Ad-hoc-Theoretisieren» ver-urteilt. Popper argumentiert, dass man den Komplexitätsgrad einerTheorie auf Grund von abweichender Evidenz nicht dauernd erhöhensollte. Deshalb sollte man Befunde über Anomalien ernst nehmen undherausfinden, inwieweit uns diese Anomalien etwas über den Kern derTheorie sagen können. Diese Auffassung führte schliesslich zur Sicht derBehavioral Finance. Die «kleinen» Abweichungen von der Markteffizi-enz werden als wichtig eingestuft, decken sie doch einen fundamenta-len Mangel des herkömmlichen Paradigmas auf. Die Meinungs -verschiedenheiten bezüglich der Bedeutung von Anomalien für dieTheoriebildung beherrschen derzeit die Disziplin der Finanzmarktfor-schung. Der Streit geht gar so weit, dass manche Wissenschafter dieArbeit der «Gegenspieler» als wertlos und dumm abqualifizieren. Es istzu einer scharfen Trennung der Forschungsstile gekommen, indem bei-spielsweise die unterschiedlichen Forschergruppen beinahe eine unter-schiedliche Sprache sprechen. Dieser Streit kann letztlich als Symptomeines im Gange befindlichen Paradigmenwechsels interpretiert werden.

Die Anfänge der Behavioral Finance können bei keinem Gerin-geren als John Maynard Keynes angesiedelt werden, der im Jahre 1936seine «General Theory of Employment, Interest and Money» publizier-te. Die keynesianische Revolution wird oft als das wichtigste Ereignis inder ökonomischen Dogmengeschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet.Das fundamental Neue an Keynes’ Werk lag in seiner Betonung derUnsicherheit in der Erwartungsbildung, der Rolle des Vertrauens unterGeschäftsleuten sowie in seiner Überzeugung, dass das Verhalten desAktienmarktes eher etwas mit Zuversicht als mit Fundamentalwerten zutun habe. Die einprägsamste Passage aus Keynes’ General Theory (und

87

Page 88: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

wahrscheinlich die am häufigsten zitierten Worte nach «in the long runwe are all dead») ist seine Schönheitskonkurrenz-Geschichte über denAktienmarkt. Keynes verglich darin den Aktienmarkt mit einem Preis-ausschreiben in einer Zeitung, bei welchem die Kandidaten die sechshübschesten Gesichter aus 100 Fotos aussuchen mussten. Es gewannjener Kandidat, dessen Wahl am nächsten beim durchschnittlichenGeschmack lag. Offensichtlich wird man in einem solchen Wettbewerbnicht die Gesichter wählen, die einem selbst am besten gefallen, son-dern diejenigen, von denen man glaubt, dass sie die anderen am schön-sten finden. Eine bessere Strategie wäre gar, diejenigen Gesichter zuwählen, von denen man glaubt, dass die anderen Kandidaten meinen,die anderen fänden sie am schönsten.

Diese Geschichte kann als Metapher für das Verhalten von Inve-storen auf Aktienmärkten angesehen werden. Investoren geht es darum,beim Verkauf einen möglichst guten Preis zu lösen, und nicht darum,die «wahren», auf Fundamentaldaten beruhenden Werte eines Wertpa-piers herauszufinden – genau so wie die Wettbewerbskandidaten nichtihrem eigenen Schönheitsideal folgen, sondern diejenige Wahl treffensollten, von der sie denken, dass sie am ehesten dem Gusto der anderenentspricht. Die Schönheitskonkurrenz-Geschichte deutet auf die Sen-sibilität der Erwartungen hin, die dem Geschehen auf Aktienmärktenzugrunde liegen, aber auch auf die Fragilität des Vertrauens in der Wirt-schaftswelt ganz allgemein.

Unglücklicherweise tendieren die meisten Professoren der Wirt-schaftswissenschaften dazu, den wahren Gehalt der keynesianischenTheorie nur in der von Sir John Hicks 1937 formulierten mathemati-schen Gestalt zu sehen: dem sogenannten IS-LM-Modell. Generatio-nen von Studenten wurde beigebracht, dass das IS-LM-Modell dengrundlegenden Inhalt von Keynes’ Theorie erfasst. In den sechzigerund siebziger Jahren haben sich Theoretiker bemüht, Keynes’ Theoriemittels rational-optimierenden Agenten mikroökonomisch zu fundie-ren. Die Schönheitskonkurrenz-Geschichte wurde üblicherweise nurnoch als Bonmot präsentiert. Es brauchte einige Jahrzehnte, bis dieÖkonomen das Zentrale an Keynes’ Theorie zu erkennen begannenund begriffen, dass Psychologen wertvolle Beiträge zur Entwicklung

88

Page 89: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

einer auf Keynes’ Überlegungen basierenden Theorie beizusteuern ver-mögen.

Das Gerede um den Aktienmarkt und die Zentralbankpolitik inder jüngsten Vergangenheit erinnert an Keynes’ Schönheitskonkurrenz-Parabel. In den USA fragt sich männiglich, ob Greenspan die Zinssät-ze weiter senken wird und damit eine Erholung des Aktienmarktes ein-zuleiten vermag. Niemand scheint zu hinterfragen, ob die Erholung desAktienmarktes in Reaktion auf eine Zinssatzsenkung mit der traditio-nellen ökonomischen Theorie überhaupt kompatibel ist. Man gibt sichzuversichtlich, dass die Zinssatzsenkungen das Vertrauen der Investorensteigern werden, und man stützt sich auf diesbezügliche Erfahrungen.Die Verfechter dieser Thesen sind davon überzeugt, dass die Marktteil-nehmer an diesen Wirkungsmechanismus glauben oder zumindest, dassdie Marktteilnehmer denken, dass die anderen so denken. Wenig Auf-merksamkeit wird der Tatsache zuteil, dass die Zentralbank die Zins-senkung vor allem zum Glätten von Konjunkturausschlägen einsetzt,deren Handlungen also primär im Zusammenhang mit der Stabilisie-rung zu sehen sind.

Sich selbst erfüllende Erwartungen

Neuere Forschungsergebnisse aus der Psychologie haben unser Ver-ständnis über das Preissetzungsverhalten von Investoren an Aktien-märkten verbessert. Der Psychologe B. Skinner publizierte 1948 eineArbeit über das Verhalten von Tauben, welches im psychologischen Jargon als «magisches Denken» bezeichnet wird. Skinner führte einExperiment durch, bei dem hungrige Tauben automatisch nur alle fün-f zehn Sekunden mit einem Stück Futter bedient wurden – eine fru-strierend langsame Essgeschwindigkeit für eine hungrige Taube. Skin-ner machte dabei eine bemerkenswerte Beobachtung. Jede Taubeentwickelte ein charakteristisches Verhaltensmuster, das sich über dieZeit verstärkte. Beispielsweise nickte eine Taube ständig mit dem Kopf,eine andere drehte sich dauernd im Kreis. Skinner zog daraus denSchluss, dass jede Taube registriert hatte, dass ein Happen Futter jeweilsnach irgendeiner zufälligen Handlung ausgegeben wurde und dass jedes

89

Page 90: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Mal, wenn diese Handlung wiederholt wurde, sie in den Genuss einesweiteren Brockens Futter kam. Die Tauben folgten in ihrem Verhaltendemnach implizit einer Theorie, in welcher ihre Handlungen als Ursa-che des Auftauchens eines Happens Futter angesehen werden. Die«Theorie» der Tauben wurde von der Evidenz ja auch gestützt, stellteaber letztlich nur eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung dar. Ausdem Verhalten der Tauben lassen sich, so haben Psychologen in der wei-teren Forschung festgestellt, auch Rückschlüsse auf menschliche Ver-haltensweisen machen. Die Marktreaktionen auf Zinssatzsenkungenlassen sich demnach – zumindest für eine Weile – ebenfalls als sichselbst erfüllende Prophezeiung charakterisieren.

Neuere, in der Tradition Skinners stehende psychologische For-schungsarbeiten haben die Rolle, welche das «magische Denken» fürmenschliches Verhalten spielt, weiter ausgeleuchtet. Diese Forschungs-richtung hat die Fragestellungen der Psychologie ausgeweitet aufmenschliche Phänomene wie Selbstüberschätzung, Verzerrung der Auf-merksamkeit, Bedauern, kognitive Dissonanz, das Setzen subjektiverWahrscheinlichkeiten, Verankerung, Glücksspielverhalten sowie kultu-relle und soziale Übertragung. Diese psychologischen Prinzipien sindam Zustandekommen der historisch nach wie vor hohen Aktienkursebeteiligt. Die zukünftigen Bewegungen der Aktienkurse werden sowohlÄnderungen in diesen psychologischen Faktoren als auch Änderungender Dividenden- und Gewinnaussichten sowie der Zinssätze reflektie-ren. Es steht zu erwarten, dass die Anhängerschaft der Behavioral Finan-ce auf Grund der entscheidenden Bedeutung dieser Theorierichtung fürdie Erklärung von Ereignissen in der Finanzwelt weiterhin kräftig wach-sen wird.

Literatur

Shiller R.: Human Behavior and the Efficiency of Financial Markets. Handbook ofMacroeconomics Vol. 1 (1999), 1305–1340.

Shiller R.: Irrational Exuberance. Princeton University Press, Princeton 2000.Shleifer A.: Inefficient Markets. Clarendon Lectures. Oxford University Press,

Oxford 2000.

90

Page 91: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Jean-Robert Tyran

Geldillusion und Geldpolitik

Neue Evidenz zur Auswirkung beschränkter Rationalität

Geldillusion kann für die Wirkungen der Geldpolitik relevant sein, ist abermit der in der makroökonomischen Theorie dominanten Annahme dervollständigen Rationalität nicht kompatibel. Experimente erlauben es zuuntersuchen, unter welchen Bedingungen Geldillusion für die Geldpolitikeine Rolle spielt.

Geldillusion liegt vor, wenn Menschen in ihren wirtschaftlichenEntscheidungen von rein nominalen Grössen beeinflusst werden. AlsBeispiel für das Vorliegen von Geldillusion wird oft angeführt, dass sichArbeitnehmer weniger gegen Reallohnsenkungen zur Wehr setzen,wenn diese mit Nominallohnerhöhungen einhergehen. Eine Reallohn-senkung von beispielsweise 3 % würde von Arbeitnehmern demnach beieiner Inflationsrate von 1 % eher als Affront wahrgenommen als beieiner Inflationsrate von 5 %, weil im ersten Fall der Nominallohn fällt,im zweiten jedoch steigt. Dass der Durchschnittsmensch in nominalenGrössen denkt und sich an ihnen orientiert, erscheint durchaus plausi-bel, da praktisch alle Wirtschaftstransaktionen in Geldgrössen abge-wickelt werden. Zudem ist bei niedrigen Inflationsraten eine nominaleVeränderung ein guter Indikator für eine reale Veränderung. Sich annominalen Grössen zu orientieren, ist daher in diesen Fällen eine kogni-tiv einfache und durchaus brauchbare Faustregel.

91

Page 92: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Annahmen über Geldillusion

Geldillusion ist für die Wirtschaftswissenschaft insbesondere deshalbvon Bedeutung, weil sie eine mögliche Erklärung für nominale Rigi-ditäten liefert. Dieser Ausdruck bezeichnet die träge Anpassung vonnominalen Preisen und Löhnen nach einer Veränderung der Geldmen-ge. Wenn sich nominale Preise und Löhne nicht augenblicklich um denProzentsatz der Geldmengenänderung anpassen, dann beeinflusst Geld-politik reale wirtschaftliche Grössen wie etwa die Beschäftigung. BisEnde der sechziger Jahre war unter Makroökonomen die Annahme,Menschen unterlägen der Geldillusion, weit verbreitet. Man stützte sichdabei auf die Intuition so bedeutender Wissenschafter wie JohnMaynard Keynes oder Irving Fisher, die konjunkturelle Phänomeneunter Bezugnahme auf Geldillusion erklärten. Harte Evidenz, die dieseAnnahme gestützt hätte, lag jedoch nicht vor.

In den frühen siebziger Jahren ergab sich ein scharfer Bruch immakroökonomischen Diskurs. Wirtschaftlichen Akteuren Geldillusionzu unterstellen, galt plötzlich als völlig unwissenschaftlich. So charak-terisierte etwa der spätere Nobelpreisträger James Tobin die Situation1972 wie folgt: «An economic theorist can, of course, commit no grea-ter crime than to assume money illusion.» In den siebziger Jahren setz-te sich die Ansicht durch, dass makroökonomische Phänomene aus -schliesslich unter Bezugnahme auf die Annahme vollständigerRationalität zu erklären seien. Dies bedeutet, dass man jedem Akteurindividuell Rationalität unterstellt und darüber hinaus annimmt, dassalle wissen, dass alle rational sind («common knowledge of rationality»).Dementsprechend wurde nicht nur angenommen, dass niemand derGeldillusion unterliegt, sondern auch, dass dies allgemein bekannt ist.Diese Kehrtwende bezüglich der Annahmen vollzog sich, obschon auchfür die Rationalitätsannahme keine harte Evidenz vorlag. Die sich dar-aus ergebende «Revolution der rationalen Erwartungen» führte prak-tisch zur völligen Tabuisierung von Geldillusion als Gegenstand akade-mischer Forschung.

92

Page 93: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Befragungsstudien …

Dies begann sich erst mit einer 1997 prominent publizierten Befra-gungsstudie der beiden Wirtschaftspsychologen Eldar Shafir und AmosTversky sowie des MIT-Ökonomen Peter Diamond zu ändern. Die Stu-die kommt zum Schluss, dass Geldillusion ein weit verbreitetes Phäno-men ist. Demnach unterliegen nicht nur Arbeitnehmer der Geldillusi-on. Vielmehr können Entscheidungen in praktisch allen Bereichen desWirtschaftslebens von rein nominalen Grössen beeinflusst werden. Die-se Studie vermochte orthodoxe Ökonomen aber nicht von der Bedeu-tung der Geldillusion zu überzeugen, und zwar aus zwei Gründen:Erstens braucht tatsächliches Verhalten unter ökonomischen Anreizennicht deckungsgleich zu sein mit unverbindlichen Antworten in einerBefragungsstudie. Zweitens lassen sich aus individuellen Antwortengewonnene Ergebnisse nicht ohne weiteres aggregieren, da die «Fehler»auf individueller Ebene sich beim Aggregationsprozess gegenseitig neu-tralisieren könnten. Somit könnte die auf einzelwirtschaftlicher Ebenevorhandene Geldillusion auf aggregierter Ebene trotzdem bedeutungs-los sein.

… und Experimente

Die Methoden der experimentellen Wirtschaftsforschung eignen sichausgezeichnet, um diesen Einwänden zu begegnen. In einer von mirgemeinsam mit Ernst Fehr an der Universität Zürich durchgeführtenExperimentalstudie wurden die aggregierten Effekte von Geldillusionuntersucht. In wirtschaftswissenschaftlichen Experimenten können dieTeilnehmer in Abhängigkeit von ihrem Verhalten Einkommen erzielenund sind daher ökonomischen Anreizen ausgesetzt.

Die Aufgabe der Teilnehmenden bestand darin, gewissermassenin der Rolle von Firmen, wiederholt nominale Preise zu setzen. Dabeikonnten die Preise jederzeit und kostenlos variiert werden. Die Geld-menge war im Experiment zunächst fix vorgegeben. Zu einem bestimm-ten Zeitpunkt wurden die Teilnehmenden darüber informiert, dass nundie Geldmenge reduziert werde. Hätten alle Teilnehmenden ihre nomi-

93

Page 94: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

nalen Preise augenblicklich angepasst, hätten alle Firmen gleich viel ver-dient wie vor dem Geldmengenschock. Im Experiment konnte manaber beobachten, dass die Preise sich nach einer Geldmengenkontrak-tion nur sehr langsam anpassten, die restriktive Geldpolitik also zu«Wohlfahrtsverlusten» führte.

In weiteren Experimenten wurde die Ursache für diese langsameAnpassung der nominalen Preise studiert. Dabei zeigte sich, dassungleichgewichtige Erwartungen der Schlüssel zum Verständnis sind.Die Preissetzung ist häufig durch «strategische Komplementarität»gekennzeichnet. Darunter versteht man den Umstand, dass eine Firmaeinen Anreiz besitzt, die Preise zu senken, wenn die anderen Firmen ihrePreise senken (und umgekehrt). Firmen haben somit einen Anreiz, «derMasse zu folgen». Wenn ein Unternehmer also erwartet, dass andere Fir-men ihre Preise auf Grund von Geldillusion nicht anpassen werden, hater einen Anreiz, seinen Preis ebenfalls nicht anzupassen. Für eine trägeAnpassung der Preise ist es daher nicht nötig, dass viele Akteure tatsäch-lich der Geldillusion unterliegen. Es genügt vielmehr bereits der Glau-be an weit verbreitete Geldillusion. Ungleichgewichtige Erwartungenund ein sich daraus ergebendes «Herdenverhalten» scheinen auch fürFinanzmärkte von grosser Bedeutung zu sein. So kann es für einen Inve-stor rational sein, eine Aktie zu kaufen, die er selbst für überbewertethält, wenn er erwartet, dass andere Investoren weiterhin kaufen werdenund damit die Kurse in die Höhe treiben.

Weitere experimentelle Untersuchungen erbrachten zwei wichti-ge Ergebnisse in Bezug auf die Wirkungen der Geldpolitik: Erstens kön-nen die realen Wirkungen von antizipierten Geldmengenänderungenerstaunlich lange anhalten. Längerfristig passen sich die Preise jedochso an, dass sich keine dauerhaften realen Effekte der Geldpolitik erge-ben. Zweitens gibt es ausgeprägte Asymmetrien im Preisanpassungs-verhalten nach expansiver und kontraktiver Geldpolitik. Es zeigt sich,dass die realen Wirkungen der Geldpolitik nach einer Kontraktiongross, nach einer Expansion aber eher klein sind.

94

Page 95: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Folgerungen für die Geldpolitik

Selbstverständlich ist bei der Übertragung dieser Ergebnisse auf diepraktische Geldpolitik Vorsicht geboten. Schliesslich ist das Entschei-dungsumfeld einer Zentralbank sehr viel komplexer als dasjenige imExperiment. Unter diesem Vorbehalt ergeben sich dennoch einige Fol-gerungen für die Geldpolitik:

Erstens sollten heftige Geldmengenkontraktionen vermiedenwerden, da der dabei entstehende Wohlfahrtsverlust sehr gross seinkann.

Zweitens könnte bei niedrigen Inflationsraten eine geringfügig zuexpansive Geldpolitik mit weitaus geringeren Kosten verbunden sein alseine geringfügig zu restriktive Geldpolitik.

Drittens dürfte die Hoffnung vergebens sein, durch expansiveGeldpolitik dauerhafte Beschäftigungsgewinne zu erzielen.

Dass die Folgerungen der Wirtschaftswissenschaft (auch) bezüg-lich der Geldpolitik stark von den ihr zugrunde liegenden Annahmenabhängen können, ist unter Ökonomen bekannt. Allerdings gibt es erstin jüngster Zeit eine verstärkte Bereitschaft, dabei psychologischeAspekte zu berücksichtigen. Die Methoden der experimentellen Wirt-schaftsforschung erlauben es hier, empirische Evidenz zur zentralen Fra-ge zu erbringen, unter welchen Bedingungen solche psychologischenAspekte für wirtschaftliche Aggregatphänomene und damit auch für dieGeldpolitik relevant sind.

Literatur

Fehr, E. und Tyran, J.-R.: Does Money Illusion Matter? American Economic Review91 (2001), 1239–1262.

Shafir, E., Diamond, P. und Tversky, A.: On Money Illusion. Quarterly Journal ofEconomics 112 (1997), 341–74.

95

Page 96: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 97: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

VI. Ein realistisches

Menschenbild

Page 98: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize
Page 99: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Kurt Dopfer

Die Rückkehr des

verlorenen Menschen

Wege zum Homo sapiens oeconomicus

Die moderne neoklassische Ökonomie orientiert sich in ihrer mathemati-schen Rigorosität an der mechanistischen Physik. Diese Art der Theorien-bildung geht allerdings teilweise auf Kosten einer empirisch vielgestaltigenFundierung des Homo oeconomicus. Diese Empiriefeindlichkeit wurdebereits in den 1950er Jahren durch führende Ökonomen bemängelt. DieKritik hat durch die in jüngster Zeit mit Verve betriebene Aufdeckung soge-nannter Verhaltensanomalien weiter an Substanz gewonnen.

Die zunehmende Zahl der Arbeiten von experimentellen Öko-nomen seit Beginn der 1990er Jahre verweist auf die Bedeutung einerpsychologischen Fundierung der ökonomischen Theorie. Die Bestre-bungen, den Erkenntnisgehalt der Ökonomie durch ein besseres Ver-ständnis vom Menschen zu erhöhen, sind allerdings keineswegs neu. Ineinem wegleitenden Artikel über «Nationalökonomie und Psychologie»hat W. A. Jöhr im Jahr 1956 auf die Notwendigkeit psychologischerGrundlagen der Ökonomie hingewiesen und einen weiteren Fortschrittin der ökonomischen Theorienbildung in wesentlichem Masse von derIntegration verbesserter psychologischer Annahmen abhängig gemacht.In Deutschland forderte G. Schmölders im Rahmen seiner Studien zurFinanzpsychologie ein «anthropologisches Menschenbild», das – inter-disziplinär ausholend – Psychoanalyse, Biologie, Gehirnforschung, Lin-guistik und Ethologie mit einschliessen sollte. In den USA versuchte G.Katona auf dem Wege von Massenbefragungen die Konsum- und Nach-fragetheorie auf bessere empirische Beine zu stellen. Schliesslich hat derfranzösische Ökonom P. L. Reynaud bereits in seinem 1954 erschiene-

99

Page 100: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

nen Buch über «La psychologie économique» auf die Fortschritte derökonomischen Psychologie der letzten 50 Jahre hingewiesen.

Cartesianische Fallstricke

Die Frage stellt sich, warum die psychologische Fundierung der Öko-nomie ein wiederkehrendes Phänomen ist. Die neoklassische Ökono-mie, die heute das herrschende Paradigma darstellt, hat sich in der zwei-ten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der klassischen Ökonomie gerademit der Absicht getrennt, ein individualistisches Forschungsprogrammeinzuführen. Die jungen Neoklassiker warfen den Klassikern vor, mitsozialen Klassen und Ressourcenaggregaten zu operieren und deshalbunfähig zu sein, das subjektive Wertproblem, und damit das markt-wirtschaftliche Koordinationsproblem, zu lösen. Das Individuum soll-te im Zentrum der Erklärung stehen, und J. A. Schumpeter sprachdaher von einem «methodologischen Individualismus». Wie ist es mög-lich, dass über hundert Jahre neoklassischer Theorieentwicklung nureinen Homo oeconomicus hervorgebracht haben?

Dieses Paradox hängt eng mit dem cartesianischen Weltbildzusammen, das die Neoklassiker aus den Naturwissenschaften über-nommen haben. Der cartesianische Dualismus unterscheidet zwischenMaterie und Geist, die ihren je eigenen «harten» und «weichen» Geset-zen folgen. Entsprechend sind auch die Wissenschaften in zwei Berei-che, die durch das jeweilige Attribut charakterisiert sind, einzuteilen.Die Gründerväter der neuen Doktrin, wie L. Walras, W. Jevons, H.Gossen oder V. Pareto, waren nun der Auffassung, dass nicht nur dieklassische Physik eine harte Wissenschaft sei, sondern dass die Ökono-mie ebenso hart sei wie diese. Es galt also, die Ökonomie auf das Phy-sische, die beobachtbaren und messbaren Ressourcen, zu reduzierenund «weiche» Faktoren zu eliminieren. Pareto schrieb seinem Freund Groce, dass die «Wissenschaft fortschreitet, indem sie Beziehungen zwi-schen menschlichen Konzepten durch Beziehungen zwischen Dingenersetzt», und E. Slutzky forderte, dass wir die ökonomische Theorie«vollständig unabhängig von psychologischen Annahmen und philoso-phischen Hypothesen» machen sollten. Das theoretische Ziel war,

100

Page 101: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Gesetze über die Ressourcenbeziehungen aufzustellen, wobei diese sodeterministisch wie diejenigen der Physik sein sollten. Hier betrat derHomo oeconomicus die theoretische Bühne.

Wertparadoxon gelöst

Den Ausgangspunkt im neoklassischen Modell bildet ein Ungleichge-wicht des subjektiv bewerteten Ressourcenbestandes; durch eine Markt-transaktion wird ein bezüglich Nutzen und Effizienz überlegenesGleichgewicht erreicht. Das Gesetzmässige des Handelns wurdezunächst nutzentheoretisch, dann entscheidungstheoretisch begründet.Die Reihenfolge entspricht der theoriegeschichtlichen Entwicklung,und man könnte, analog zur historischen Schule, von einer alten undjungen neoklassischen Ökonomie sprechen. Die geniale Einsicht derNeoklassiker war, dass es nicht der gesamte, sondern der marginale Nut-zen ist, der Wert und Preis eines Gutes bestimmt. Da das Konzept desmarginalen Nutzens mathematisch der ersten Ableitung entspricht,konnten folglich die Ressourcenbeziehungen «so schön wie in der Phy-sik» formuliert werden.

Alte und junge Neoklassik

Es war das Bestreben der Vertreter der alten neoklassischen Schule, denNutzen kardinal zu messen. F. Y. Edgeworth schlug für die Messung desNutzens einen «Hedonometer» vor, bei dem «Utils» auf einer «Nut-zenskala» aufgetragen werden sollten. Man warf diesen Vertretern deralten Neoklassik vor, dass sie einer überholten hedonistischen und uti-litaristischen Psychologie nachhingen; immerhin ist festzuhalten, dasssie versucht haben, die Nutzentheorie empirisch zu fundieren. – Paretostellte die Möglichkeit einer kardinalen Nutzenmessung in Frage undbot auf dem Wege des ordinalen Nutzenkonzepts, dessen typischesWerkzeug die Indifferenzkurven bilden, eine alternative Lösung. Damittrat der Homo oeconomicus als Wahl- und Entscheidungsinstanz insZentrum der Analyse. Das Gesetz menschlichen Handelns wurde nunnicht auf der Nutzen-, sondern auf der Entscheidungsebene gesucht.

101

Page 102: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Pareto unterschied zwischen logischem und nichtlogischem Verhalten,wobei er Ersteres der Ökonomie, Letzteres der Soziologie zuwies. DasGesetz ökonomischen Handelns war in der Folge in der Entschei-dungslogik des Homo oeconomicus angelegt. Die entscheidende empi-rische Annahme war, dass sich der Mensch bei seinen wirtschaftlichenEntscheiden rational verhält. Pareto forderte, dass dieses «Gesetz» expe-rimentell herzuleiten sei. Eine parallele Forderung war, die «weichen»Variablen wie Präferenzen, Institutionen und Technologien – in derklassischen Ökonomie zentrale Erklärungsvariablen – als blosse Cete-ris-paribus-Annahmen aus der ökonomischen Theorie zu verbannen.Die Theorie sollte «rein» sein, nicht verunreinigt durch historische Kon-tingenz.

Als ob es Menschen gäbe

Das physikalistische Theorieverständnis der jungen Neoklassiker führ-te im Zuge der weiteren Theorieentwicklung ab den 1950er Jahren zueiner bedeutsamen methodologischen Wende. Es erfolgte der Übergangzu einem Theorietyp, den man als hypothetico-deduktiv bezeichnet hat.Die Frage in der modernen Ökonomie war nicht mehr, welche empi-risch gehaltvollen Annahmen der Nutzen- und Entscheidungstheorie zueinem theoretischen Ergebnis führen, sondern das Ergebnis wurdeumgekehrt als gegeben angenommen, und die Frage lautete, welcheAnnahmen über den Homo oeconomicus gemacht werden müssen,damit dieser mit dem theoretischen Ergebnis in Übereinstimmunggebracht werden kann. Die wissenschaftliche Aufgabe bestand in dermathematischen Beweisführung im Hinblick auf das postulierte theo-retische Ergebnis. So gelang beispielsweise in den 1950er Jahren dermathematische (nicht empirische) Beweis der Existenz und Stabilitäteines ökonomischen Gleichgewichts. Der ursprüngliche Homo oeco-nomicus hatte in einem hypothetico-deduktiven Modell ausgedient.Das Konstrukt wurde zu einem Erfüllungsgehilfen eines mathemati-schen Modells, und G. Debreu, der für den Existenzbeweis den Nobel-preis bekam, sagte aus gegebenem Anlass, dass der mangelnde Realitätsbezug der Annahmen gerade ihre Nützlichkeit im Theoriebil-

102

Page 103: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

dungsprozess ausmache. In den Naturwissenschaften kennt man nurWenn-dann-Aussagen, bei denen das Wenn zumindest im Prinzipempirisch überprüfbar ist. Man könnte diesen Theorietyp in Gegen -überstellung zum hypothetico-deduktiven als empirico-deduktivenbezeichnen. Die alte und die junge Neoklassik sind empirico-dedukti-ve Theorietypen, während die sogenannte moderne Ökonomie hypo-thetico-deduktiven Charakter besitzt.

Diese knappe theoriegeschichtliche Skizze sollte genügen, umden Stellenwert der gegenwärtigen empirischen und experimentellenArbeiten zu beurteilen. In den 1970er und 1980er Jahren gab es empi-rische Arbeiten von R. Easterlin, B. S. Frey, R. Frank, F. Hirsch, T. Scitovsky u. a., in denen im Rahmen internationaler und intertempo-raler Vergleiche die Zusammenhänge zwischen ökonomischen Varia-blen, wie beispielsweise die Beziehung zwischen Pro-Kopf-Einkommenund Glück oder Wohlbefinden, untersucht wurden. Jeder aufgeschlos-sene Zeitgenosse wird solche kardinale Nutzenvergleiche als Erkennt-nisgewinn verbuchen; doch die junge Neoklassik muss solche Arbeiten(sofern sie im entscheidungstheoretischen Korsett bleibt) als theoreti-schen Rückschritt betrachten.

Die jüngeren Forschungsergebnisse der experimentellen Ökono-mie von Autoren wie S. Bowles, R. Boyd, C. Camerer, E. Fehr, S. Gäch-ter, H. Gintis, J. Henrich, R. McElreath, R. Kahnemann, R. J. Shiller,J.-R. Tyran u. a. beziehen sich auf das kanonische Modell des Homooeconomicus. Sie zielen auf eine empirische Fundierung der entschei-dungstheoretischen Annahmen. Mit diesen Arbeiten hat eine eigentli-che Treibjagd auf Anomalien des Homo oeconomicus eingesetzt. Die-ser ist demnach lange nicht so rational und eigennützig wie imStandardmodell angenommen, denn er lässt sich auch von Kriterien wieFairness, Solidarität, Vertrauen oder reziprokem und nichtreziprokemAltruismus leiten. Der entscheidungstheoretisch orientierte Mikroöko-nom erhält viele statistisch signifikante Antworten auf Fragen, die erimmer schon stellen wollte, aber sich nie getraut hat. Die Ergebnissesind insbesondere für partielle Marktgleichgewichtsmodelle oder gene-rell für Partialanalysen fruchtbar – so z. B. die «Behavioral finance» imRahmen der entscheidungslogisch orientierten «Conventional finance».

103

Page 104: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Der Erkennt nis gegenstand der Volkswirtschaftslehre bezieht sich jedochauch und vor allem auf die Integration der partiellen Theorien. DerModus der Integration orientiert sich paradigmatisch nach wie vor ander allgemeinen Gleichgewichtstheorie. Wir kommen hier ein zweitesMal, nun auf fundamentalere Weise, in die paradoxe Situation, dassempirische Ergebnisse einen theoretischen Rückschritt bedeuten. Esgibt eine empirische Absorptionsfähigkeit einer Theorie, von der –neben der Verfügbarkeit von empirischem Material – ihr Fortschrittabhängt.

Der Homo oeconomicus greift zu kurz

Glanz und Elend der herrschenden ökonomischen Lehre sind eng mitihrer Beschränkung auf den entscheidungstheoretischen Ansatz ver-bunden. Ein Grossteil ökonomisch relevanter Prozesse ist entschei-dungstheoretisch nicht in den Griff zu bekommen. Im Rahmen eines(hypothetico- oder empirico-)deduktiven Gleichgewichtsmodells las-sen sich Prozesse zum Gleichgewicht hin oder vom Gleichgewicht wegtheoretisch nicht auf befriedigende Weise darstellen. Es gibt mikroöko-nomische Versuche auf entscheidungstheoretischer Grundlage, welcheunter Berücksichtigung von Suchkosten gleichgewichtskonvergenteTendenzen modellieren. Aber ein Grossteil des bei diesen Prozessen rele-vanten Verhaltens, vor allem in Bezug auf Kommunikation, ist nichtentscheidungsbezogen. Die Analyse von Prozessen, die von einem öko-nomischen Gleichgewicht wegführen, ist unter der Annahme einesHomo oeconomicus – der ja gemäss Annahme lediglich auf gegebeneGelegenheiten reagiert (wie rational auch immer) – ebenso wenig mög-lich, denn eine Störung des Gleichgewichts bedeutet, dass Gelegenhei-ten gerade geschaffen werden. Damit kommen aber Bestimmungsfak-toren wie Kreativität, Schaffens- und Innovationsfreude oder dieInkaufnahme von Risiken für Neues ins Spiel. In all diesen Fällen greiftder Homo oeconomicus als ein durch deterministische Ressourcen -beziehungen geprägtes Wesen zu kurz.

104

Page 105: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Empirische Absorptionsfähigkeit

Der entscheidungstheoretische Fokus hemmt aber nicht nur die Ent-wicklung des Standardmodells nach innen, sondern erschwert vor allemauch die notwendige Erweiterung des Erkenntnisgegenstandes im Hin-blick auf die Integration langfristiger Erklärungsvariablen. Seit sich dieÖkonomie vor 250 Jahren von der Philosophie emanzipierte, war ihr For-schungsprogramm von zwei zentralen Fragen bestimmt: Wie kommt eszur Selbstorganisation von marktwirtschaftlichen Aktivitäten im Rahmeneiner wissens- und arbeitsteiligen Gesellschaft, und wie entwickelt sich die-ses komplexe System langfristig unter den Bedingungen technologischerund institutioneller Veränderungen? Diese Fragen sind heute aktuellerdenn je, und das Versagen des herrschenden Kanons, darauf befriedigen-de Antworten zu geben, erklärt die lamentierte Krise der Ökonomie. SeitMitte der 1980er Jahre sind im Rahmen der evolutorischen und institu-tionellen Ökonomie theoretische Entwicklungen im Gange, welche ver-suchen, Antworten auf diese Fragen zu geben. So gibt es Forschungs-beiträge von R. Day, G. Dosi, J. Foster, C. Herrmann- Pillath, G.Hodgson, M. Hutter, B. Loasby, R.R. Nelson, J. Potts, H.A. Simon, J. J.Vromen, S.G. Winter, U. Witt u. a. Diese Studien arbeiten mit einemMenschenbild, das dahingehend konzipiert ist, die Fähigkeiten des Men-schen zu assoziativem und prozessualem Denken, welches eine zentraleRolle in der Wissens- und Arbeitsteilung und der Evolution spielt, theo-retisch darzustellen. Die angewandte interdisziplinäre Perspektive, dieErkenntnisse von evolutorischer Psychologie, Ethologie, kognitiver Psy-chologie, Neurophysiologie, experimenteller Ökonomie und anderen For-schungszweigen berücksichtigt, führt in ihrer integralen Schau zum Homosapiens, wie wir ihn aus der Stammes geschichte kennen. Das für die Öko-nomie relevante Menschenbild erscheint so, in seiner analytischen Spezi-fikation, als Homo sapiens oeconomicus. Die Evolutionsökonomie unddas sich in ihrem Rahmen entwickelnde neue Menschenbild haben einegrosse empirische Absorptionsfähigkeit, und weil der Ansatz so einengeeigneten Referenzrahmen für die empirische und experimentelle Öko-nomie darstellt, wäre auch seine theoretische Weiterentwicklung auf demWege einer verbesserten empirischen Fundierung möglich.

105

Page 106: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Literatur

K. Dopfer, (Hrsg.): Evolutionary Economics: Program and Scope. Recent Econo-mic Thought Series, Kluwer Academic Publishers,Boston/Dordrecht/London 2001.

G. Dosi, L. Marengo und G. Fagiolo: Learning in Evolutionary Environments, in:K. Dopfer (Hrsg.), The Foundations of Evolutionary Economics, Cam-bridge University Press, Cambridge UK, erscheint 2002.

P. E. Earl: Economics and Psychology: A Survey, Economic Journal, Vol. 100, 1990,S. 718 bis 755.

J. Henrich, R. Boyd, S. Bowles, C. Camerer, E. Fehr, H. Gintis und R. McElreath: InSearch of Homo Economicus: Behavioral Experiments in 15 Small-ScaleSocieties, in American Economic Review, Papers and Proceedings, Vol. 91(2), 2001, S. 73–78.

C. Herrmann-Pillath: Evolutionary Rationality, «Homo Economicus», and theFoundations of Social Order, Journal of Social and Evolutionary Systems,Vol. 17, 1994, S. 41–70.

G. M. Hodgson: Economics and Evolution: Bringing Life Back Into Economics,Polity Press and University of Michigan Press, Cambridge UK und AnnArbor MI 1993.

W. A. Jöhr: Nationalökonomie und Psychologie, in: W. A. Jöhr, Ökonomie im Lich-te der politischen Ethik, Ausgewählte Schriften: H. C. Binswanger, G.Schwarz, K. Schweinsberg (Hrsg.), Mohr Siebeck, Tübingen 2000.

R. R. Nelson und S. G. Winter: An Evolutionary Theory of Economic Change, Har-vard University Press, Cambridge MA 1982.

J. Potts: The New Evolutionary Microeconomics: Complexity, Competence, andAdaptive Behaviour, Edward Elgar, Cheltenham 2000.

J. J. Vromen: The Human Agent in Evolutionary Economics, in John Laurent undJohn Nightingale (Hrsg.), Darwinism and Evolutionary Economics,Edward Elgar, Cheltenham 2001.

U. Witt: Learning to Consume – A Theory of Wants and the Growth of Demand,Journal of Evolutionary Economics, Vol. 11, 2001, S. 23–36.

106

Page 107: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Gerhard Schwarz

Ein Recht auf Unvernunft

Anstelle eines Schlusswortes

Ökonomie und Psychologie verbindet seit langem mehr, als es nach aussenden Anschein hat. Dennoch waren die Versuche, in den Wirtschaftswissen-schaften zu einem realistischeren Menschenbild zu gelangen, lange Zeitwenig erfolgreich, nicht zuletzt wegen methodischer Beschränkungen. Inden letzten Jahren ist es durch Experimente gelungen, das Verhalten derMenschen in Tausch- und Anreizsituationen genauer abzubilden und zuverstehen. Auch diese grössere Realitätsnähe ist indessen nicht ohne Tücken.

Kaum einmal hat eine Artikelserie der Neuen Zürcher Zeitung,die sich mit den Wirtschaftswissenschaften beschäftigt, bei den Lesernund Leserinnen ein so positives Echo gefunden wie die Reihe über psy-chologische Grundlagen der Ökonomie, die in diesem Band präsentiertwird. Versucht man, die vielen Reaktionen in Briefen, Mails undGesprächen etwas zu bündeln und zu interpretieren, drängen sich fürdas Interesse und die Zustimmung zwei Erklärungen auf. Zum einenwirkt die Verbindung der Ökonomie mit der Psychologie insofernanziehend, als alle Menschen über psychologische Alltagserfahrung ver-fügen, während ihnen die Wirtschaftswissenschaft oft fremd erscheint.Die von den Autoren beschriebenen Experimente sind alle leicht nach-vollziehbar. Statt einer Ökonomie der Modelle und Formeln, die aufviele abschreckend wirkt, wird in den Beiträgen dieses Buches eine Öko-nomie präsentiert, die eine Verhaltenswissenschaft ist. In ihrem Mittel-punkt steht der Mensch und sein soziales Verhalten. Dieses wird in derRegel als Tauschprozess interpretiert. All das ist tatsächlich der Kern derÖkonomie. Sie beschäftigt sich zwar hauptsächlich mit der Funktions-

107

Page 108: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

weise von Märkten, aber sie zeichnet sich auch durch ihre spezifischeMethode aus. Diese wird zunehmend in verschiedensten Sozial -wissenschaften angewendet, weil sich Menschen ja nicht grund sätzlichanders verhalten, wenn sie soziale oder politische statt wirtschaftlicheProbleme angehen. Das führt zum häufig zu hörenden Vorwurf desökonomischen Imperialismus.

Der Ökonomie am Zeug geflickt

Zum anderen haben die zustimmenden Reaktionen wohl damit zu tun,dass der psychologische Ansatz dem von vielen verteufelten ökonomi-schen Menschenbild gehörig am Zeug flickt. Das freut all jene, diemonieren, weder handle der Mensch immer rational, noch verfolge erdurchgehend sein eigenes Interesse. Daher sei das ökonomische Ver-haltensmodell in seinen Erklärungen unrealistisch und in seinen nor-mativen Implikationen verheerend. Die Erkenntnis, dass menschlichesVerhalten natürlich wesentlich komplexer ist, als es die Ökonomie ihrenModellen zugrunde legen kann, ist allerdings schon alt. Ihren einfach-sten Ausdruck findet sie im Bemühen, alles, was die Ökonomie nichtzu erklären vermag, in das Reich der Psychologie zu verweisen.Anspruchsvollere Ansätze versuchen, die beiden Fachgebiete in einergewissen Weise zu integrieren.

So haben sich denn, wie Kurt Dopfer darlegt, schon viele Öko-nomen mit Psychologie beschäftigt. John Maynard Keynes hat in der«Allgemeinen Theorie» psychologische Kategorien wie Motive, Erwar-tungen oder Unsicherheit verwendet; Friedrich August von Hayek, derin jungen Jahren zwischen dem Studium der Psychologie und jenem derÖkonomie geschwankt hatte, hat mit «The Sensory Order» ein ganzesBuch zu psychologischen und erkenntnistheoretischen Fragen geschrie-ben; und in der Schweiz hat Walter Adolf Jöhr mit der Lehre vom sozi-alpsychologischen Kernprozess einen originellen Beitrag zur Konjunk-turforschung geleistet. Neu an der modernen Fruchtbarmachungpsychologischer Erkenntnisse für die Ökonomie ist somit vor allem dieexperimentelle Methodik. Die moderne Forschung spekuliert nichtüber Altruismus und Kooperation, sondern basiert auf Laborergebnis-

108

Page 109: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

sen. Gegen diese lassen sich zwar jene Einwände, die man in den Natur-wissenschaften erheben kann, erst recht vorbringen – etwa, dass dieÜbungsanlagen künstlich und auf wenige Faktoren reduziert seien –,aber dennoch stellen die neuen Methoden für die Ökonomie einenFortschritt dar.

«Durchschnittliches» Verhalten

Gleichzeitig leiden viele Beiträge, die sich um mehr Realitätsnähe desökonomischen Menschenbildes bemühen, unter ähnlichen Defektenwie die frühere, zum Teil ideologisch motivierte Kritik an der Ökono-mie. Wie diese richten sie sich, erstens, vielfach gegen ein Zerrbild des«Homo oeconomicus». Dieses ist, wie Gebhard Kirchgässner in seinemunter diesem Titel erschienenen Standardwerk schreibt, wohl in man-chen Lehrbüchern noch zu finden, wird aber nur von wenigen Ökono-men vertreten. Zwar ist der Homo oeconomicus modernerer Lesart,dessen Wurzeln bis in die Klassik reichen – schliesslich war Adam SmithÖkonom und Moralphilosoph –, sehr wohl durch Rationalität undEigennutz gekennzeichnet, aber nicht im Sinne eines blitzschnell ent-scheidenden, vollständig informierten Computers und auch nicht imSinne eines nur den materiellen Egoismus verfolgenden sowie listen-reich den eigenen Vorteil suchenden Menschen. Gemeint sind vielmehrdie Fähigkeit und der Wille, nicht systematisch gegen das eigene Inter-esse zu verstossen, sondern gemäss dem relativen – nicht immer abso-luten – eigenen Vorteil zu handeln. So unrealistisch ist dieses Men-schenbild wohl nicht.

Das Streben nach realitätsgerechten Annahmen birgt, zweitens,die Gefahr, mit Partialanalysen die traditionelle Forschungsstrategie zuverdrängen, ohne an ihre Stelle eine konsistente Alternative im Sinneeiner neuen allgemeinen Theorie zu setzen. Die Nationalökonomiesteht hauptsächlich im Dienste der Wirtschaftspolitik. Diese wird abererst möglich, wenn man weiss, wie die Menschen insgesamt auf Ände-rungen ihres Umfeldes, auf Anreize und Sanktionen, Preiserhöhungenund Regulierungen, reagieren und wie man auf diese Faktoren Einflussnehmen kann. Deshalb geht es der Ökonomie um ein «durchschnittli-

109

Page 110: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

ches» Verhalten, das vielleicht von keinem Einzigen genau so an den Taggelegt wird und das doch in aggregierter Form die gesellschaftliche undwirtschaftliche Realität gut beschreibt. Insofern muss ein sozialwissen-schaftliches Menschenbild in einem gewissen Sinne immer gezieltunrealistisch sein, weil es ja abstrahieren will. Milton Friedman, RalfDahrendorf und andere haben deshalb stets betont, es komme in ersterLinie auf die Erklärungskraft und die Prognosefähigkeit an, nicht so sehrauf die detailgenaue Wirklichkeitsnähe. Genau das leistet das klassischeökonomische Menschenbild recht gut.

Alles am rechten Ort

Darüber hinaus könnte, drittens, die Beobachtung von Anomalien –wie «unvernünftiges» Verhalten – dazu verführen, die Menschen zuihrem «Glück» zwingen zu wollen und das wohlfahrtstheoretisch «Rich-tige» zu verordnen Ein solch paternalistischer Ansatz steht im Gegen-satz zur liberalen Überzeugung, wonach man nur auf die tatsächlichgeäusserten Bedürfnisse abstellen sollte, weil niemand die «wahren»Bedürfnisse kennt – schon gar nicht besser als der Betroffene selbst. Des-halb betont George Loewenstein in seinem Aufsatz, dass sich freie Ent-scheide der Individuen und die Koordination über Märkte nicht durchEffizienz und Wohlstand rechtfertigen lassen, sondern mit dem Eigen-wert der Freiheit. Dieser schliesst das Recht auf «Unvernunft» – und dieVerantwortung für deren Folgen – mit ein.

Damit verbunden besteht, viertens, die wohl grösste Gefahr derpsychologischen Ansätze darin, die Welt der Kleingruppe und die Weltdes unpersönlichen Austauschs zu wenig auseinanderzuhalten. Viel poli-tischer Unsinn ist ja der Übertragung von Regeln der Fairness und derSolidarität, wie sie in der Familie selbstverständlich sind, auf die Gesell-schaft und die anonymen Märkte anzulasten. Wenn man die Emotionund Irrationalität des Menschen, seine Missgunst wie seine Zuneigung,in der ökonomischen Forschung zu stark in den Vordergrund rückt,könnte dies, wie Vernon Smith in seinem Beitrag in Anlehnung an Hayek betont, zu (wirtschafts)politischen Regeln führen, welche dieGrossgesellschaft zerstören, genau wie umgekehrt das eigensüchtige Ver-

110

Page 111: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

halten, das auf anonymen Märkten gilt, jedes Zusammenleben in derkleinen Gruppe und in der Familie auf die Dauer zersetzt.

Der Mensch im Mittelpunkt

Trotz dieser Gefahren machen die psychologischen Ansätze in der Öko-nomie deutlich, dass der Mensch als Individuum Mittel- und Aus-gangspunkt allen ökonomischen Räsonierens sein muss, dass der Homooeconomicus ein Konstrukt ist, das weniger auf Realitätsnähe als viel-mehr auf Erklärungs- und Prognosefähigkeit abzielt, und dass das ökonomische Wissen in vielem unsicher ist. All das könnte zu mehrökonomischer Bescheidenheit und dementsprechend mehr wirtschafts-politischer Zurückhaltung führen. Die psychologischen Grundlagender Ökonomie setzen so hinter Machbarkeitsglauben und -willen deut-liche Fragezeichen.

111

Page 112: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

Die Autoren

Samuel Bowles, 1939, ist Direktor des Bereichs Ökonomie am Santa FeInstitute und seit 1974 Professor für Wirtschaftswissenschaftenan der University of Massachusetts (Amherst). Seine Ausbildungerhielt er an der Harvard University, wo er als Assistenz-Profes-sor und als ausserordentlicher Professor tätig war. Er beschäftigtsich mit den verhaltenstheoretischen Grundlagen der Wirt-schaftsforschung und der Theorie ökonomischer Institutionen,sowie deren Evolution. 2002 erscheint sein Buch «EconomicInstitutions and Behavior: An Evolutionary Approach to Microe-conomics».

Colin Camerer, 1959, ist Professor für Business Economics am Califor-nia Institute of Technology, Pasadena. Er hat seinen PhD in«Behavioral Decision Theory» an der Universität Chicago erwor-ben. Seine Arbeiten beschäftigen sich hauptsächlich mit Risiko -entscheidungen, Spieltheorie und Finanzmärkten, wobei dieexperimentelle Wirtschaftsforschung einen zentralen Bestandteilausmacht. 2002 erscheint sein Werk «Behavioral Game Theory».Camerer ist Mitglied des Herausgeberrates der Zeitschriften«Econometrica», «Quarterly Journal of Economics» und «Gamesand Economic Behavior».

Kurt Dopfer, 1939, ist seit 1980 Professor für Volkswirtschaftslehre ander Universität St. Gallen. Er beschäftigt sich mit evolutorischerÖkonomie sowie paradigmatischen und methodologischen Fra-

112

Page 113: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

gen der Ökonomie, wozu er mehrere Bücher geschrieben undherausgegeben hat, darunter den in sieben Sprachen übersetztenSammelband «Economics in the Future» (1976). Dopfer ist Mit-herausgeber mehrerer Zeitschriften, etwa des «Journal of Evolu-tionary Economics», der «Revue d’Economie Politique» und des«European Journal of History of Economic Thought».

Armin Falk, 1968, hat an der Universität Zürich mit einer Arbeit zumEinfluss sozialer Normen auf die Lohnbildung doktoriert und istdort jetzt als Oberassistent tätig. Seine Hauptinteressen geltender Arbeitsmarktökonomik, der experimentellen Wirtschaftsfor-schung und den Behavioral Economics. Zur Zeit untersucht erden Einfluss unvollständiger Verträge auf die Funktionsweise vonMärkten.

Ernst Fehr, 1956, gehört zu den führenden Ökonomen deutscher Zun-ge. Nach dem Studium und ersten Karriereschritten in Wienlehrt er seit 1994 an der Universität Zürich. Er hat sich mitArbeiten über Konkurrenz, Zusammenarbeit und finanzielleAnreize einen Namen gemacht. Nicht zuletzt die in der Ökono-mie nach wie vor seltene Durchführung von Experimenten hatihm zahlreiche Auszeichnungen (so den Gossen-Preis und dieHicks-Tinbergen-Medaille) und die Ver öffentlichung seinerAufsätze in führenden Zeitschriften eingebracht. Er war 2001Leiter der den «Sozialen und psychologischen Grundlagen desWirtschaftens» gewidmeten Europäischen Wissenschaftstage inSteyr.

Bruno S. Frey, 1941, ist ordentlicher Professor für Sozialökonomie ander Universität Zürich und hat deren Ruf in seinem Fach in alleWelt getragen. Er war und ist dort Mentor zahlreicher jüngererKollegen, die inzwischen in Zürich und anderswo eine akademi-sche Karriere gemacht haben. Seine Arbeiten, die in allen führen-den Zeitschriften veröffentlicht werden, beschäftigen sich mitpolitischer Ökonomie, der Analyse aussermarktlicher Wirt-

113

Page 114: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

schaftsprozesse und der Theorie der Wirtschaftspolitik. Die Uni-versitäten St. Gallen und Göteburg haben ihn mit der Ehren-doktorwürde ausgezeichnet.

Simon Gächter, 1965, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni-versität St. Gallen. Er hat nach Studien in Volkswirtschaftslehreund Philosophie bei Egbert Dierker an der Universität Wien pro-moviert. Anschliessend wechselte er an die Universität Zürich,wo er sich 1999 habilitierte. Seit Oktober 2000 ist er Professorfür Angewandte Mikroökonomie an der Universität St. Gallen.Sein Erkenntnisinteresse richtet sich besonders auf die Entste-hung sozialer Normen, die Bereitstellung öffentlicher Güter unddie experimentelle Ökonomie.

Herbert Gintis, 1940, ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an derUniversity of Massachusetts (Amherst). Seinen PhD. erhielt er1969 an der Harvard University. Sein Buch «Game Theory Evol-ving» (2000) bietet eine Einführung in die Spieltheorie miteinem besonderen Schwerpunkt auf evolutionären und dynami-schen Spielen. Zusammen mit seinem langjährigen Co-AutorSamuel Bowles hat er ausserdem das Buch «Recasting Egalita -rianism: New Rules for Markets, States, and Communities»(1999) geschrieben.

David Laibson, 1966, gehört zur Gilde junger amerikanischer Ökono-men, die ihren formalen Arbeiten ein verfeinertes Menschenbildzugrunde legen. Nach dem Studium der Ökonomie an der Har-vard University bildete sich Laibson an der London School ofEconomics in Ökonometrie und Mathematischer Ökonomieweiter. Der hier abgedruckte Aufsatz basiert auf seiner am Massachusetts Institute of Technology (MIT) verfass ten Disser-tation über Selbstkontrolle. Seit 1998 lehrt Laibson als Profes-sor of Political Economy an der Harvard University. Er hat inzahlreichen renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht.

114

Page 115: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

George Loewenstein, 1955, ist Professor für Volkswirtschaftslehre undPsychologie an der Carnegie Mellon University, Pittsburgh. Sei-nen PhD in Ökonomie erwarb er an der Universität Yale. Zahl-reiche Publikationen im Grenzgebiet von Ökonomie, Psycholo-gie, Recht, Konsumentenverhalten und Medizin zeugen vonseinem interdisziplinären Denken. Seine wichtigsten Arbeitenbeschäftigen sich mit der Psychologie von Entscheidungsfin-dungen über einen längeren Zeitraum. In jüngster Zeit hat er vorallem die Rolle von Emotionen im ökonomischen Verhaltenuntersucht.

Gerhard Schwarz, 1951, ist seit 1994 Leiter der Wirtschaftsredaktionder Neuen Zürcher Zeitung. Zudem nimmt er an der UniversitätZürich einen Lehrauftrag wahr. Seine Ausbildung hat er an derUniversität St. Gallen absolviert, wo er mit einer Arbeit aus demBereich der Entwicklungsländerforschung promoviert hat. In sei-ner journalistischen und publizistischen Arbeit beschäftigt er sichvor allem mit grundsätzlichen Fragen der Wirtschaftsordnung,der Konjunkturpolitik und der Wirtschaftspolitik. Er ist Autorund Herausgeber zahlreicher Bücher sowie Träger des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik.

Robert J. Shiller, 1946, wurde durch seinen Bestseller «Irrational Exu-berance» bekannt, in welchem er auf unkonventionelle Art den1982 einsetzenden Börsenboom an der Wall Street analysierte.Seine populärwissenschaftlichen Ausflüge stossen nicht zuletztdeshalb auf Interesse, weil sie auf solidem wissenschaftlichemFundament gründen. Seine akademische Karriere führte ihn überdas Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er 1972promovierte, zur Yale University. Shiller gehört dem akademi-schen Beirat der Federal Reserve Bank von New York an und istForschungspartner am National Bureau of Economic Research.

Vernon Smith, 1927, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Geor-ge Mason University (Fairfax). Nach dem Abschluss als Elektro-

115

Page 116: Ernst Fehr und Gerhard Schwarz Psychologische Grundlagen ... · Über Vernunft, Wille und Eigennutz hinaus 11 II. Markt und Motivation Bruno S. Frey Die Grenzen ökonomischer Anreize

ingenieur promovierte er an der Harvard University in Ökono-mie. Er hat über 200 Artikel und Bücher zur Kapitaltheorie, zurTheorie der natürlichen Ressourcen und zur experimentellenÖkonomie publiziert und war oder ist Mitherausgeber der «Ame-rican Economic Review», des «Cato Journal» und des «Journal ofEconomic Behavior and Organization». Die Präsidentschaft derPublic Choice Society und ein Ehrendoktorat der Purdue Uni-versity sind zwei von vielen Ehrungen.

Tom Tyler, 1950, ist Professor für Psychologie an der New York Univer-sity und daneben ausserordentlicher Professor an der Law Schooldieser Universität. Er beschäftigt sich mit der Dynamik hierar-chischer Systeme in rechtlichen, politischen und ökonomischenOrganisationen. Die Titel seiner zahlreichen Bücher wie «WhyPeople Obey the Law» (1990), «Trust in Organizations» (1996)oder «Cooperation in Groups» (2000) zeugen von seiner Nähezu ökonomischen und soziologischen Fragestellungen.

Jean-Robert Tyran, 1967, ist Nachwuchsdozent für Volkswirtschaftsleh-re an der Universität St. Gallen. Nach Studien an der UniversitätZürich, der London School of Economics und der University ofArizona (Tucson) promovierte er am Institut für EmpirischeWirtschaftsforschung der Universität Zürich. In seiner For-schung geht er Fragen der Geldillusion, der Institutionenbildungund der Umweltökonomie nach.

Jeromin Zettelmeyer, 1964, hat in Frei burg i. Br., Oxford und BonnVolkswirtschaftslehre, Geschichte und Philosophie studiert.Anschliessend wechselte er ans Massachusetts Institute of Tech-nology (MIT), wo er 1995 in Volkswirtschaftslehre promo vierte.Seit 1994 arbeitet er in der Forschungsabteilung des Internatio-nalen Währungsfonds (IMF). Er beschäftigt sich schwergewich-tig mit Problemen von Transformationsländern und der Reformder internationalen Finanzarchitektur.

116