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Recht – Wissenschaſt – eorie Standpunkte und Debatten herausgegeben von Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius, Christoph Möllers und Andreas Voßkuhle 8 Sonderdruck aus Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlages
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Die Nicht-Rezeption Hans Kelsens in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre der 1950er und 1960er Jahre

Jan 28, 2023

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Page 1: Die Nicht-Rezeption Hans Kelsens in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre der 1950er und 1960er Jahre

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Recht – Wissenschaft – TheorieStandpunkte und Debatten

herausgegeben von

Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius,Christoph Möllers und Andreas Voßkuhle

8

Sonderdruck aus

Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlages

Page 2: Die Nicht-Rezeption Hans Kelsens in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre der 1950er und 1960er Jahre

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Hans Kelsenund die deutsche Staatsrechtslehre

Mohr Siebeck

Stationen eines wechselvollen Verhältnisses

herausgegeben von

Matthias Jestaedt

Digitaler Sonderdruck des Autors mit Genehmigung des Verlages

Page 3: Die Nicht-Rezeption Hans Kelsens in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre der 1950er und 1960er Jahre

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Matthias Jestaedt, geboren 1961; 2002–2011 Prof. an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, seit 2011 Prof. an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Seit 2006 Leiter der Hans-Kelsen-Forschungsstelle Erlangen/Freiburg.

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung.

ISBN 978-3-16-152396-0ISSN 1864-905X (Recht – Wissenschaft – Theorie)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio-nalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2013 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi-kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Minion gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und ge-bunden.

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Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Matthias JestaedtDer Staatsrechtslehrer Hans Kelsen – Provokateur aus Leidenschaft.Vier Schlaglichter auf ein Jahrhundert wechselvoller Beziehung . . . . . . . . . . . . . 1

I. Die Weimarer Jahre

Thomas Olechowski Hans Kelsen als Mitglied der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung . . . . . . 11

Stefan KoriothKelsen im Diskurs – Die Weimarer Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Christoph MüllerHans Kelsen und Hugo Preuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Diskussion „Die Weimarer Jahre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

II. Die Staatsrechtslehre der ersten Nachkriegsjahrzehnte

Frieder Günther„Jemand, der sich schon vor fünfzig Jahren selbst überholt hatte“.Die Nicht-Rezeption Hans Kelsens in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre der 1950er und 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Ewald WiederinDie Neue Wiener Schule und die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Martin SchulteJuridischer Relationismus – Norbert Achterberg auf Kelsens Spuren . . . . . . . . . 99

Diskussion „Die Staatsrechtslehre der ersten Nachkriegsjahrzehnte“ . . . . . . . 113

Inhalt

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III. Kelsen im Urteil der Nachkriegsgeneration

Podiumsgespräch „Von der Präsenz eines Abwesenden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Ernst-Wolfgang BöckenfördeDiskussionsbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

IV. Posthume Wiederentdeckung Kelsens

Helmuth Schulze-FielitzKonjunkturen der Klassiker-Rezeption in der deutschen Staatsrechtslehre – Vermutungen auch im Blick auf Hans Kelsen . . . . . . . . . . 147

Horst Dreier Die (Wieder-)Entdeckung Kelsens in den 1980er Jahren –Ein Rückblick (auch in eigener Sache) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Diskussion „Posthume Wiederentdeckung Kelsens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

V. Kelsen und die gegenwärtige Staatsrechtslehre

Christoph SchönbergerKelsen-Renaissance? Ein Versuch über die Bedingungen ihrer Möglichkeit im deutschen öffentlichen Recht der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . 207

Ulrike LembkeWeltrecht – Demokratie – Dogmatik. Kelsens Projekte und die Nachwuchswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Oliver LepsiusHans Kelsen und die Pfadabhängigkeit in der deutschen Staatsrechtslehre . . 241

Diskussion „Kelsen und die gegenwärtige Staatsrechtslehre“ . . . . . . . . . . . . . . 267

Foto anlässlich der Staatsrechtslehrertagung in Münster 1926 . . . . . . . . . . . . . 281Tagungsprogramm „Ein schwieriges Verhältnis. Vom Umgang der deutschen Staatsrechtslehre mit Hans Kelsen“ . . . . . . . . . . . 285D ie Tagungsteilnehmer/innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

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„Jemand, der sich schon vor fünfzig Jahren selbst überholt hatte“

Die Nicht-Rezeption Hans Kelsens in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre der 1950er und 1960er Jahre

Frieder Günther

1. Antisemitismus in der Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702. Kelsen als Positivist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723. Kelsen als Emigrant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754. Kelsen als Liberaler und als Pluralist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785. Eine junge nachwachsende Staatsrechtslehrergeneration und Hans Kelsen . . . . . . . . . 80

„[A]ber nun jemanden, der sich schon vor fünfzig Jahren selbst überholt hatte, frisch aufzulegen, geht mir doch gegen den Strich. Ich überlasse Kelsen gern den Brasilianern und sonstigen -ianern.“1 Diese kernigen Worte stammen von dem jungen Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis.2 Er gab zu Beginn der 1960er Jahre zusammen mit Roman Schnur, einem jüngeren Staatsrechtler aus dem Umfeld von Carl Schmitt, beim Luchterhand-Verlag eine politikwissenschaftliche Reihe mit dem Titel „Politica“ heraus.3 Dabei mussten sich die beiden darüber einig werden, welche Autoren für die Reihe ausgewählt werden sollten. Bei diesen Diskussionen stellte sich allerdings bald heraus, dass Hennis und Schnur ganz unterschiedliche Ziele verfolgten. Während Hennis nämlich für die Herausgabe von Werken ak-tueller linksliberaler Autoren, die sich ideell Richtung Westen orientierten, plä-dierte – z. B. Otto Kirchheimer, Ernst Fraenkel und Franz L. Neumann –, favori-sierte Schnur ältere Klassiker der kontinentalen Tradition – wie Jean Bodin, Lorenz von Stein und Carl Schmitt. Als Schnur dann noch einen Aufsatzband von Jürgen Habermas ablehnte und stattdessen die Herausgabe einer Aufsatzsammlung von Hans Kelsen forderte, platzte Hennis buchstäblich der Kragen:

1 Wilhelm Hennis an Roman Schnur, 16.1.1963, in: Bundesarchiv, Koblenz, NL Roman Schnur, N 1472, 127.

2 Zu Hennis vgl. Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundes-republik, München 2008.

3 Vgl. hierzu Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004, S. 221 f.; Dirk van Laak, Ge-spräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993, S. 283.

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„Um nun aber zum Fall Kelsen selbst zu kommen, so kann ich überhaupt nicht verstehen, was eine Sammlung Kelsenscher Aufsätze in einer Reihe zur Politischen Wissenschaft zu tun haben soll. Es ist mir nicht bekannt, daß Kelsen die Politische Wissenschaft irgendwo in der Welt beeinflußt hätte. Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich diesem Mangel nicht nachweine. Der Einfluß von Kelsen auf die deutsche Rechtswissenschaft war schon fa-tal genug. Wenn die Soziologen ihn an die Brust nehmen wollen, so sollen sie das tun. In meinem Fach würde ich nicht mitspielen. […] Ich bin aber darüberhinaus der Meinung, daß gerade auch die historischen Aufsätze von Kelsen, um die es wohl wesentlich gehen wird, wissenschaftlich im Sinne einer philologisch-historischen Methode einer Kritik nicht standhalten. […] Kelsen versteht doch immer nur sich und niemanden sonst. […] Er ist doch vollkommen außerstande, über seinen Schatten zu springen, sieht überall seine Pro-bleme, die nun einmal nicht die der Tradition waren. Wenn der Verlag Luchterhand einen Kelsen-Band bringen will, so ist das seine Sache, aber als Herausgeber würde ich zu einem Kelsen-Band aus wissenschaftlichen, nicht aus ideologischen Gründen meine Einwilligung unter gar keinen Umständen geben.“4

Hennis’ Brief endete sodann mit dem obigen Zitat. Es dürfte nicht überraschen, dass Schnur nach dieser Auseinandersetzung resignierte, sich aus dem Herausge-berkreis der Reihe „Politica“ zurückzog und von dem Münchener Politikwissen-schaftler Hans Maier ersetzt wurde.

Auch wenn sich Hennis letztlich für eine Karriere als Politikwissenschaftler ent-schied, so sind seine Worte – selbst wenn sie besonders scharf formuliert waren – grundsätzlich doch für eine andere Wissenschaftsdisziplin während der 1950er und 1960er Jahre als repräsentativ anzusehen, der Hennis ursprünglich selbst ent-stammte und die im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll: die Staatsrechtslehre. Es gilt zu zeigen, wie die große Mehrheit der bundesdeutschen Staatsrechtslehrer während der 1950er und 1960er Jahre – ähnlich wie Hennis – die wissenschaft-lichen Positionen von Hans Kelsen aufgrund grundlegender Vorbehalte ablehnte.5

Diese These ist allerdings insofern einzuschränken, dass Kelsen als Person in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre durchaus geschätzt und geachtet war. Man rechnete es ihm unter anderem hoch an, dass er sich in der Frage der schuldhaften Verstrickung seiner deutschen Kollegen in der Zeit des Nationalsozialismus von seinem Exil in den USA aus betont zurückhielt.6 Schon 1952 überlegte somit auf Vorschlag von Wolfgang Abendroth der damalige Vorstand der Staatsrechtslehrer-vereinigung, Hans Kelsen trotz seiner Emigration in die USA die Mitgliedschaft

4 Wie Anm. 1.5 Zur Staatsrechtslehre der 1950er und 1960er Jahre allgemein vgl. Michael Stolleis, Staatsbild

und Staatswirklichkeit in Westdeutschland (1945–1960), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 124 (2007), S. 223–245; Oliver Lepsius, Die Wie-derentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: Christoph Gusy (Hg.): Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003, S. 354–394, hier S. 357–390; Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepu-blik, Frankfurt a. M. 2008, S. 31–58; Günther, Denken (Anm. 3).

6 In diesem Sinne vgl. Ulrich Scheuner an Horst Ehmke, 22.5.1958, in: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, Depositum Horst Ehmke, 210.

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in der Vereinigung anzutragen und damit gewissermaßen einen Kontrapunkt zur Wiederaufnahme ehemaliger Nationalsozialisten zu setzen.7 Des Weiteren wurde er zur Staatsrechtslehrertagung von 1961 in Freiburg persönlich eingeladen,8 und von der Tagung in Graz von 1966 erhielt er ein Glückwunschtelegramm anlässlich seines 85. Geburtstages.9

Aber trotz dieser Achtung vor dem wissenschaftlichen Renommee des emigrier-ten Kollegen hielt die breite Mehrheit der bundesdeutschen Staatsrechtslehrer sei-nen methodischen Ansatz für falsch und sah es grundsätzlich nicht als notwendig an, sich mit Kelsens Position überhaupt auseinanderzusetzen. Abgesehen von den Diskussionsbeiträgen und Vorträgen der österreichischen Mitglieder sind in den Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer – mit einer Ausnahme, die später noch behandelt wird – keine einzige Stellungnahme, keine Auseinandersetzung, geschweige denn eine Diskussion über wissenschaftliche Po-sitionen von Kelsen überliefert.10 Folglich muss dieser Beitrag eine Leerstelle behan-deln; er sucht nach Gründen für die ausgebliebene Rezeption des Werkes.

In den 1950er Jahren wurde die Kelsen-Rezeption dadurch verhindert, dass er fünf Eigenschaften und Einstellungen mitbrachte, die mit dem allgemeinen Klima in diesem Zeitraum nicht zu vereinbaren waren: Er war Jude, er war Positivist, er war Emigrant, er war von seiner politischen Einstellung her linksliberal und er vertrat in seiner Rechtslehre eine entschieden pluralistische Grundhaltung. Damit war seine Position nicht kompatibel mit der Grundhaltung, die von der überwie-genden Mehrheit der bundesdeutschen Staatsrechtslehrer vertreten wurde. Dieses Klima sollte sich im Lauf der 1960er Jahre allmählich ändern. Dass es trotzdem in den 1960er Jahren nicht zu einer breiteren Kelsen-Rezeption kam, wird im letzten Teil dieses Beitrags thematisiert werden. Doch zunächst soll es um die Jahre des Wiederaufbaus der Bundesrepublik gehen und wie Hans Kelsen für eine Position stand, die in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre alles andere als mehrheitsfähig war. Die Darstellung wird sich dabei an den genannten Eigenschaften und Einstel-lungen von Kelsen entlangbewegen, die auf Widerspruch stießen, also die weitver-breitete unfreundliche bzw. abwehrende Haltung der Staatsrechtslehre gegenüber Juden, Positivisten, Emigranten, Liberalen und Pluralisten.

7 Vgl. Hans Julius Wolff an Wolfgang Abendroth und Hans Peter Ipsen, 9.4.1952, in: In-ternationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam, NL Wolfgang Abendroth, 556 f.; Abendroth an Ipsen und Wolff, 17.4.1952, in: ebd. Zur Aufnahmepraxis der Staatsrechtslehrer-vereinigung nach 1949 allgemein vgl. Michael Stolleis, Die Vereinigung der Deutschen Staats-rechtslehrer. Bemerkungen zu ihrer Geschichte, in: KritV 80 (1997), S. 339–358, hier S. 346–355.

8 Vgl. Bundesarchiv, Koblenz, NL Hans Peters, N 1220, 81. 9 Vgl. Eröffnung der Tagung am 13. Oktober 1966, in: VVDStRL 25 (1967), S. 1.10 Vgl. VVDStRL 8–29 (1950–1971).

„Jemand, der sich schon vor fünfzig Jahren selbst überholt hatte“

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1. Antisemitismus in der Staatsrechtslehre

Wenn wir nach dem Antisemitismus in der Staatsrechtslehre nach 1945 fragen, be-treten wir ein bislang von der juristischen Zeitgeschichte gemiedenes Feld. Folg-lich kann das Thema hier nur skizziert werden. Zunächst müssen wir davon aus-gehen, dass antisemitische Grundhaltungen in der Weimarer Staatsrechtslehre als mehrheitlich bürgerlich und nationalkonservativ geprägter Wissenschaftsdiszi-plin weitverbreitet waren.11 Egal ob auf religiöser, kultureller oder gar rassistischer Grundlage – die Staatsrechtslehrer konnten bei der Mehrheit der Kollegen antise-mitische Ressentiments voraussetzen, ohne dass dies bei der täglichen Arbeit an der Universität ausdrücklich zur Sprache gebracht werden musste. Dies ergab sich vielmehr von selbst. Bestes Beispiel für einen solchen boshaften Antisemitismus ist eine Passage eines Briefes von Ernst Forsthoff an seinen Lehrer Carl Schmitt aus dem Jahr 1932, in dem Forsthoff Schmitt einen neuen Assistenten vorschlug. Forsthoff nannte dessen Namen Thomas Würtenberger und setzte dahinter in Klammern: „kein Jude“.12 Forsthoff konnte also bei Schmitt – in Übereinstimmung mit seiner eigenen Grundhaltung – stillschweigend von einem tief verwurzelten Antisemi tismus ausgehen und schloss daraus, dass Schmitt einen jüdischen Assis-tenten nie akzeptieren würde. Weiter musste darüber kein Wort verloren werden.

Als dies von 1933 an politisch opportun war, ließen zahlreiche Staatsrechtsleh-rer die Masken fallen und bauten entschieden antisemitische Passagen auch in ihre wissenschaftlichen Publikationen ein. Diese Passagen müssen als Ausdruck für tief verwurzelte antisemitische Grundüberzeugungen ernst genommen und dürfen nicht lediglich als Anpassung an das nationalsozialistische Regime bagatellisiert werden. Eine breite Mehrheit der Juraprofessoren war der Ansicht, dass sowohl der Einfluss der Juden in der Rechtswissenschaft als auch ihre Zahl unter den Studen-ten zu groß sei und dass nun die Chance genutzt werden sollte, dem aktiv entgegen-zuarbeiten. Dies galt selbst für einen scheinbar so abgelegenen Ort wie Tübingen. Als dort beispielsweise ein jüdischer „Mischling“ anfragte, ob er sich einschrei-ben dürfe, um in Rechtswissenschaft zu promovieren, antwortete der damalige De-kan Georg Eißer, dass dies zwar rechtlich möglich sei. „Ob allerdings cand. jur. Fleischer einen Dozenten finden wird, der ihn zur Promotion annimmt, ist mir mindestens fraglich. Immerhin hat er aber die Möglichkeit, ein Gesuch zur Zulas-

11 Vgl. allgemein z. B. Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frank-furt a. M. 1988, S. 165–225; Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassi-schen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 161–163; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-geschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 495–511.

12 Ernst Forsthoff an Carl Schmitt, 2.7.1932, in: Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926–1974), hg. v. Dorothee Mußgnug / Reinhard Mußgnug / Angela Reinthal, Berlin 2007, S. 44 f., hier S. 44.

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sung einzureichen […].“13 Auch an der Rechtswissenschaftlichen Abteilung in Tü-bingen wartete man nicht nur auf die antisemitischen Maßnahmen von oben, son-dern nahm sie von 1933 an immer wieder in vorauseilendem Gehorsam vorweg.14

Sodann müssen wir davon ausgehen, dass antisemitische Ressentiments 1945 nicht einfach verschwanden, sondern zumindest unterschwellig fortbestanden, selbst wenn sie von nun an öffentlich tabuisiert waren. Es gibt trotzdem Hinweise, die solche fortbestehenden Ressentiments nahelegen, etwa wenn Ernst Forsthoff im Briefwechsel mit Ernst Rudolf Huber seinen Heidelberger Kollegen, den Juden Walter Jellinek, auf bodenlose Weise beschimpfte und regelrechte Terrorisierungs-pläne gegen ihn entwickelte15 oder wenn Rudolf Smend noch 1960 in einem Auf-satz über die juristische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin die Berufung Hermann Hellers 1928 als allein politisch motiviert darstellte, die den bis dahin bestehenden homogenen und einvernehmlichen Geist der Fakultät gestört habe16 – Heller war ein sozialer Aufsteiger, er war Sozialdemokrat und er war vor allen Dingen Jude.

Zusätzlich zu den fortbestehenden antisemitischen Ressentiments dürften auch latente Schuldgefühle der früheren Kollegen gewirkt haben, die in Deutschland

13 Georg Eißer an den Rektor der Universität Tübingen, 9.11.1937, in: Universitätsarchiv Tü-bingen, Fakultätsakten Dekanat Eißer, 189, 16.

14 Vgl. Frieder Günther, Ein aufhaltsamer Niedergang? Die Rechtswissenschaftliche Abtei-lung in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Urban Wiesing u. a. (Hg.): Die Universität Tübin-gen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, S. 178–198, hier S. 181 f.; zudem Michael Stolleis, Ge-schichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissen-schaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, S. 250–299; Anna-Maria Gräfin von Lösch, Der nackte Geist. Die juristische Fakultät der Universität Berlin im Umbruch von 1933, Tübingen 1999.

15 Vgl. z. B. Ernst Forsthoff an Ernst Rudolf Huber, 14.11.1946, Teilabdruck in: Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, Berlin 2011, S. 312, Anm. 56: „Ich [Forsthoff] sagte ihm [Jellinek], daß ich mir weitreichende publizistische Mög-lichkeiten geschaffen habe, daß ich jede Zeile besitze, die er seit 1933 geschrieben hat, daß der Fall Forsthoff zu Ende sei und der Fall Jellinek begonnen habe, daß ich ein verbessertes MG34 auf ihn gerichtet habe, während er nur über einen Vorlader verfüge, daß er heute schon isoliert sei und in der Fakultät allein stehe, daß sogar die Entnazifikatoren ihn eines Tages fallen lassen würden, um die eigene Haut zu retten, daß er sich für einen erledigten Mann halten dürfe, da nur noch der Zeitpunkt des öffentlichen Eklats offenstehe usw. […] Zum Schluß sagte ich ihm, wenn er es wagen sollte, gegen mich oder einen der im Gespräch Genannten auch nur das Geringste zu unternehmen, würde der Nervenkrieg sofort in Schießkrieg übergehen. Alles das hörte er mit geradezu hündischer Beflissenheit an.“

16 Vgl. Rudolf Smend, Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert (1960), in: Ders., Staatsrechtliche Aufsätze und andere Abhandlungen, 3. Aufl., Berlin 1994, S. 527–546, hier S. 542. – Martin Drath erkannte sogleich die gegen Heller gerichtete Tendenz der Passage in Smends Aufsatz und schrieb einen empörten Brief an seinen Lehrer, was die Beziehung zwischen den beiden über Jahre trüben sollte. Vgl. Martin Drath an Rudolf Smend, 9.3.1961, abgedruckt in: Michael Henkel / Oliver W. Lembcke (Hg.), Moderne Staatswissenschaft. Beiträge zu Leben und Werk Martin Draths, Berlin 2010, S. 318–320; zudem Gerd Sälzer, Martin Drath: Ein Bericht über Lebensabschnitte mit vorwiegend hessischem Einschlag und über Draths Verhältnis zu Rudolf Smend, in: ebd., S. 29–122, hier S. 81–83.

„Jemand, der sich schon vor fünfzig Jahren selbst überholt hatte“

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geblieben waren. Man hatte schlicht und einfach gegenüber den zur Emigration Gezwungenen ein schlechtes Gewissen, da man gegen ihre Entlassung zu leise die Stimme erhoben, sie auf dem Weg in die Emigration zu wenig unterstützt und an-schließend den Kontakt gar nicht gesucht oder früh hat abbrechen lassen. Viele hatten zudem die Chance genutzt, die eigene wissenschaftliche Karriere zu be-schleunigen, indem sie auf die leer gewordenen Lehrstühle der vertriebenen Juden aufgerückt waren. Und fast alle hatten mitgemacht, die Leistung der früheren Kol-legen zu verschweigen und, wenn sie einmal zitiert wurden, sie als jüdischen Autor zu kennzeichnen und an den Pranger zu stellen.17

Die Nicht-Beachtung von Kelsen in den 1950er Jahren ist somit auch mit sei-nem Schicksal als Jude zu erklären. Er galt in der Weimarer Zeit als der Prototyp des assimilierten Juden und genau das erschwerte nach 1945 seine Rezeption in Deutschland.

2. Kelsen als Positivist

Es gab durchaus Beispiele für die erfolgreiche Reintegration von Juden in die Staatsrechtslehre nach 1945. Hier ist an erster Stelle Gerhard Leibholz zu nennen, den Rudolf Smend 1947 aus der Emigration nach Göttingen zurückholte18 und der dann von 1951 an als Richter am Bundesverfassungsgericht zu einem der ein-flussreichsten Staatsrechtslehrer der 1950er Jahre werden sollte. Aber Leibholz un-terschied sich von Kelsen in einem entscheidenden Punkt: Er hatte schon in den 1920er Jahren der jungen geisteswissenschaftlich-antipositivistischen Richtung der Staatsrechtslehre angehört, die in der Weimarer Zeit allmählich in den Vor-dergrund gerückt war und nach 1945 die staatsrechtlichen Debatten dominierte. Kelsen haftete hingegen als Kopf der „Wiener Schule“ der Ruf an, einem zugespitz-ten und übertriebenen Formalismus und Positivismus zu folgen, den man zudem noch für die Wehrlosigkeit der Jurisprudenz gegenüber dem Nationalsozialismus verantwortlich machte. Damit zeigen sich hier das Ausmaß, aber auch die Gren-zen der Integrationsbereitschaft gegenüber Juden in der Nachkriegszeit. Während man den einen, der schon in den 1920er Jahren die richtige Gesinnung gezeigt hatte, nach 1945 dankbar reintegrierte, hielt man den anderen aus den fachlichen Debatten heraus.

In den ersten Jahren nach 1945 kam es allgemein in der Rechtswissenschaft zu ei-ner Naturrechtsrenaissance, die sich bereits in den Jahren zuvor angekündigt hatte.

17 Dies war von der Tagung „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“, die von Carl Schmitt organisiert worden war, im Jahr 1936 beschlossen worden. Vgl. Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, S. 372–378. Zur Umsetzung der Beschlüsse in Tübingen vgl. Günther, Niedergang (Anm. 14), S. 181 f.

18 Vgl. Manfred H. Wiegandt, Norm und Wirklichkeit. Gerhard Leibholz (1901–1982) – Leben, Werk und Richteramt, Baden-Baden 1995, S. 61–64.

Frieder Günther

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Nach der Erfahrung der Pervertierung des Rechts im Nationalsozialismus sollte zukünftig das bestehende Recht an überpositiven Gerechtigkeitsprinzipien gemes-sen und diesen Prinzipien im Notfall auch untergeordnet werden. Dabei wurde die Wehrlosigkeit der Rechtswissenschaft gegenüber dem gesetzlichen Unrecht des Nationalsozialismus der positivistischen Richtung angelastet. Indem die Juristen „Gesetz für Gesetz“ gehalten haben, so Gustav Radbruch im Jahr 1946, seien sie ge-gen den willkürlichen und verbrecherischen Inhalt der Gesetze wehrlos gewesen.19 Tatsächlich war es aber weniger die positivistische Gesetzgläubigkeit der Juristen gewesen, die das Eindringen nationalsozialistischer Überzeugungen in das Recht ermöglicht hatte, sondern vielmehr die Bereitschaft, die reine positivistische Ge-setzesgläubigkeit hinter sich zu lassen und stattdessen auf überpositive, wertbezo-gene Auslegungsmethoden zurückzugreifen. Die Juristen hatten beispielsweise un-bestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln exzessiv genutzt, um die Ideologie des völkisch-rassistischen Führerstaates in die Gesetzesauslegung mit einfließen zu lassen und damit der gesamten Rechtsordnung gleichsam von heute auf mor-gen eine ganz neue Richtung zu geben. Hierauf zielte etwa das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken von Carl Schmitt aus dem Jahre 1934, der die Entwicklung zum „normativistischen Gesetzesdenken“ denn auch als Resultat des Einströmens des „jüdischen Gastvolkes“ verächtlich machte.20 Indem man aber nach 1945 der Täuschung erlag, dass der tatsächlich in eine Minderheitsposition geratene Positi-vismus für die jüngste Fehlentwicklung im Rechtssystem verantwortlich gewesen sei, umging man eine fundiertere Auseinandersetzung mit der brisanten Frage, wie es zur nationalsozialistischen Infiltrierung der eigenen ju ristischen Arbeit tatsäch-lich kommen konnte. Die sogenannte „Positivismuslegende“ besitzt also eine deut-liche Entlastungsfunktion im Hinblick auf die Verstrickung des Einzelnen in das nationalsozialistische Unrecht. Für Hans Kelsen hatte sie zugleich aber die fatale Konsequenz, dass er als Hauptvertreter des Positivismus in den 1950er Jahren wei-

19 Vgl. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), Baden-Baden 2002; hierzu z. B. Manfred Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Ju-risten wehrlos gemacht, in: Redaktion Kritische Justiz (Hg.): Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats, Baden-Baden 1998, S. 299–322. Vgl. zudem Ernst von Hippel / Alfred Voigt, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, in: VVDStRL 10 (1952), S. 1–73 (mit Aussprache); Joachim Rückert, Zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der juristischen Methodendiskussion, in: Karl Acham / Knut Wolfgang Nörr / Bertram Schefold (Hg.): Erkenntnisgewinne, Erkenntnisver-luste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaf-ten zwischen den 20er und 50er Jahren, Stuttgart 1998, S. 113–165; Kristian Kühl, Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Naturrechtsdenken des 20. Jahrhunderts, in: ebd., S. 605–658, insbe-sondere S. 614–619.

20 Vgl. Carl Schmitt, Nationalsozialistisches Rechtsdenken, in: Deutsches Recht 4 (1934), S. 225–229; Ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (1934), 3. Aufl., Berlin 2006; zudem Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechts-ordnung im Nationalsozialismus, 3. Aufl., Heidelberg 1988, S. 91–322; Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (Anm. 14), insbesondere S. 323–325.

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terhin in die Rolle des Sündenbocks gedrängt wurde und damit zwangsläufig auch über das Jahr 1945 hinaus einen äußerst schweren Stand hatte.

Folglich sah es die bundesdeutsche Staatsrechtslehre generell auch nicht als nötig an, sich mit seiner Theorie der Reinen Rechtslehre auseinanderzusetzen.21 Es gibt allerdings zwei Ausnahmen hiervon, von denen die eine die Dissertation von Horst Ehmke aus dem Jahre 1952 mit dem Titel „Grenzen der Verfassungsänderung“ dar-stellt. Ehmke gehörte, genau wie Hennis, dem Kreis um den Göttinger Staatsrechts-lehrer Rudolf Smend an, der sich bereits in den 1920er Jahren als einer der Protago-nisten der antipositivistischen Richtung hervorgetan hatte. In dessen „Staats- und Verfassungstheoretischem Seminar“ behandelte und diskutierte Ehmke Ende der 1940er Jahre die grundlegenden Texte der deutschen Staats- und Verfassungstheo-rie, da Smend der Überzeugung war, dass sich nur auf dieser Basis die aktuellen staatsrechtlichen Probleme lösen ließen. Ehmkes Dissertation von 1952 ist somit als ein unmittelbares Resultat dieser kritischen Auseinandersetzung der Smend-Schule mit den Klassikern des eigenen Faches anzusehen. Ehmke warf Kelsen in seiner Ar-beit dementsprechend vor, dass dessen Theorie von einer Wirklichkeitsfremdheit und von einem Werterelativismus geprägt sei, die den Erfordernissen der modernen Demokratie nicht gerecht würden. Letztlich zeigte sich hier aus seiner Sicht – ähn-lich wie bei Carl Schmitt – eine Gleichsetzung von Recht und Macht.22

Diese Stellungnahme knüpfte an die Kritik an Kelsen aus der Weimarer Zeit an und entsprach zugleich ganz der generellen Ausrichtung der Smend-Schule wäh-rend der 1950er Jahre. Diese entwickelte durch Anknüpfen und zugleich durch Uminterpretation der Integrationslehre von Rudolf Smend eine zeitgemäße mate-rielle Verfassungstheorie, die auf Rechtsstaatlichkeit, Integration und Wertorien-tierung beruhen sollte. Mit diesem Ansatz entfaltete sie in den folgenden Jahren in der Staatsrechtslehre insgesamt eine ungemeine Wirkung. Nicht formaler Norma-tivismus im Sinne von Kelsen, sondern die Suche nach Verbindendem sollte dabei helfen, die Menschen nach Jahren des Krieges, der Entbehrungen und Vertreibun-gen wieder mit ihrem Staat zu versöhnen und sie zugleich von der Leistungsfähig-keit der parlamentarischen Demokratie zu überzeugen. Dementsprechend propa-gierte die Smend-Schule eine offensive Wertorientierung, der sich auch die Mehr-zahl der anderen Staatsrechtslehrer und 1958 das Bundesverfassungsgericht in der

21 Zu den Abwehrstrategien gegenüber Kelsen allgemein vgl. Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius, Der Rechts- und Demokratietheoretiker Hans Kelsen – Eine Einführung, in: Hans Kelsen: Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, hg. v. Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius, Tübingen 2006, S. VI–XXIX, hier S. XI–XVII; Lepsius, Wiederent-deckung (Anm. 5), S. 369–372; Horst Dreier, Rezeption und Rolle der Reinen Rechtslehre. Festakt aus Anlaß des 70. Geburtstags von Robert Walter, Wien 2001, S. 17–34, hier S. 27–30.

22 Vgl. Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung (1953), in: Ders.: Beiträge zur Verfas-sungstheorie und Verfassungspolitik, hg. v. Peter Häberle, Königstein i.Ts. 1981, S. 21–141, hier S. 37–42. Vgl. auch die Schilderung einer Begegnung von Ehmke und Kelsen in Berkeley im Jahr 1958, in: Ders., Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Berlin 1994, S. 32.

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berühmten Lüth-Entscheidung anschloss.23 Diese Wertorientierung war, darauf verweist die frühe Arbeit von Ehmke, ein dezidierter Gegenentwurf zu Kelsens Grundposition, für den dieser Ansatz denn auch reine Ideologie darstellte.24

Eine zweite Ausnahme von der Tendenz, Kelsen einfach zu verschweigen, ist die kritische Auseinandersetzung des damals schon emeritierten Kölner Staatsrechts-lehrers Ernst von Hippel in seiner „Allgemeinen Staatslehre“, die dieser zwar erst 1963 publizierte, die aufgrund ihrer moralisierenden Argumentationsweise aber noch ganz den 1950er Jahren zuzurechnen ist. Von Hippel erblickte im „totalen System“ der Reinen Rechtslehre – neben der „Verleugnung des Ideenbereichs“ und „dem Verlust der Wirklichkeit“ – ein gefährliches Beispiel für die „totale Staatsver-gottung“ und damit für die Affirmation der jeweils herrschenden Machtverhält-nisse. Während also Kelsen in der Zwischenkriegszeit noch „als letztlich staatsver-neinender Liberaler oder gar Anarchist“ angegriffen wurde, mutierte seine Lehre nun bei von Hippel zur „fatalen Legitimation einer jeden effektiven Zwangsord-nung, sei diese auch zutiefst unsittlich“:25

„Die Massenmorde, die Konzentrationslager, die Vertreibungen aus der Heimat, die Folte-rungen, die Tränen der Unschuldigen, die frechen Lügen amtlicher Stellen, all dies ist für Kelsen juristisch einwandfrei, da Staats- und Rechtsordnung, Gesetz und Recht ja iden-tisch sind. Zugleich aber offenbart sich hier erschütternd die praktische Konsequenz einer Staatslehre, die Gut und Böse, Recht und Unrecht nicht mehr unterscheiden kann.“26

3. Kelsen als Emigrant

Emigranten besaßen in der bundesdeutschen Gesellschaft der 1950er Jahre gene-rell keinen guten Ruf. Wenn sie aus politischen Gründen Deutschland verlassen hatten, so wurden sie häufig als Vaterlandsverräter angesehen, die die Zurück-gebliebenen, die in Bombennächten um ihr Leben hatten bangen müssen, im Stich gelassen hatten und die die eigentümliche Situation im Nachkriegsdeutschland nicht wirklich verstehen konnten. Prominenteste Zielscheibe für solche Ressenti-ments war zweifellos Thomas Mann. Aber auch Remigranten, die sich zur Rück-kehr nach Deutschland entschieden, hatten es nicht leicht, sich in der alten Heimat zurechtzufinden und an die alten Netzwerke wieder anzuknüpfen. Ihnen wurden generell Rachegefühle unterstellt; auch gestand man es ihnen nicht zu, das mora-

23 Vgl. Günther, Denken (Anm. 3), S. 159–191; Stefan Korioth, Integration und Bundesstaat. Ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends, Berlin 1990, S. 228–308; Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hg.), Das Lüth-Urteil aus rechtshistorischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2005.

24 Vgl. z. B. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Pro-blematik, Studienausgabe der 1. Aufl. 1934, hg. v. Matthias Jestaedt, Tübingen 2008, S. 25–30.

25 Dreier, Rezeption (Anm. 21), S. 29.26 Ernst von Hippel, Allgemeine Staatslehre, Berlin/Frankfurt a. M. 1963, S. 133–154, Zitat

S. 154.

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lisch bessere Deutschland zu verkörpern. Wie weit die Vorbehalte gingen, zeigt sich darin, dass CDU und CSU noch 1961 bei einer Bundestagswahl mit einem ge-gen das Emigrationsschicksal des Spitzenkandidaten der SPD gerichteten Slogan: „[Willy] Brandt alias [Herbert] Frahm“, die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich bringen konnten.27

Dass Remigranten im Nachkriegsdeutschland nicht mit offenen Armen will-kommen geheißen wurden, bekam auch Hans Kelsen zu spüren. Auf Initiative der britischen Besatzungsmacht wurde er wohl noch im Jahr 1945 aufgefordert, an die Kölner Universität zurückzukehren, wo er 1933 entlassen worden war, was er aller-dings ablehnte.28 Aber abgesehen von dieser einen frühen Initiative wurde Kelsen von keiner bundesdeutschen Universität eine Professur mehr angeboten. Vertrie-bene, Flüchtlinge aus der DDR und aufgrund von Entnazifizierungsverfahren ent-lassene Kollegen wurden den Emigranten bei den Berufungsverfahren schlichtweg vorgezogen, da sie noch über funktionierende Netzwerke verfügten und zudem in Fragen, die die Nation bewegten, als zuverlässiger galten.

Genau in der nationalen Frage hatte sich Kelsen aus Sicht der Kollegen im Zu-sammenhang mit dem Kriegsende als unzuverlässig erwiesen. In einer der ersten Stellungnahmen zur Rechtslage des künftigen besiegten Deutschland hatte er schon Ende 1944 von den USA aus erklärt, dass die Alliierten Deutschland nicht nur be-setzen, sondern gemeinsam – im Sinne eines Kondominiums – die territoriale Sou-veränität übernehmen sollten. Das damalige nationalsozialistische Deutschland sollte damit untergehen und durch eine ganz neue demokratische Staats- und Ver-fassungsordnung ersetzt werden. Eine solche radikale Lösung hatte aus Kelsens Sicht den Vorteil, dass die Verantwortung für die revolutionären Maßnahmen der Al liier ten nicht – wie nach dem Ersten Weltkrieg – auf eine deutsche Regierung zurückfiel und diese damit dauerhaft delegitimierte.29 Diese Ansicht wiederholte er wenig später noch einmal. Mit der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 hätten die Alliierten nun – auch wenn sie Deutschland ausdrücklich nicht annektieren wollten – die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernommen, das Deut-sche Reich sei somit untergegangen und müsse von den Alliierten zu einem späteren Zeitpunkt politisch und ökonomisch wiedererrichtet werden.30 Kelsen argumen-

27 Vgl. allgemein z. B. Marita Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remig-ration nach 1945, München 2001.

28 Vgl. hierzu den Hinweis im Schreiben des Dekans der Kölner Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Hans Carl Nipperdey, an Kelsen, 27.10.1946, in: Hans Kelsen-Institut, Wien, NL Hans Kelsen. Zur Initiative allgemein vgl. Krauss, Heimkehr (Anm. 27), S. 85; Ulrike Cieslok, Eine schwierige Rückkehr. Remigranten an nordrhein-westfälischen Hochschulen, in: Claus-Dieter Crohn (Hg.): Exil und Remigration, München 1991, S. 115–127, hier S. 118–121.

29 Vgl. Hans Kelsen, The International Legal Status of Germany to be Established Immedi-ately Upon Termination of the War, in: The American Journal of International Law 38 (1944), S. 689–694.

30 Vgl. Hans Kelsen, The Legal Status of Germany According to the Declaration of Berlin, in: The American Journal of International Law 39 (1945), S. 518–526.

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tierte beide Male von der Position des außenstehenden Emigranten aus, der seine frühere Heimat für moralisch diskreditiert hielt und folglich auch keine Hemmun-gen hatte, das Deutsche Reich zu den Akten zu legen. Auf der Grundlage seiner Ar-gumentation hätten die Besatzungsmächte weitestgehende Handlungsfreiheit be-sessen, um das besetzte Land nach eigenen Vorstellungen neu zu gestalten. Zugleich spiegelt sich in Kelsens Position seine historische Erfahrung wider, da er einen kri-senhaften demokratischen Neuanfang wie nach dem Ersten Weltkrieg in Deutsch-land unbedingt vermeiden wollte.

Dieser Standpunkt stand der Ansicht fast aller Völkerrechtler und Staatsrechts-lehrer in West-Deutschland diametral entgegen.31 Hier besaßen der traditionelle Nationalismus und Etatismus noch ein solches Gewicht, dass ein Untergang des Deutschen Reiches als Rechtssubjekt schlichtweg unvorstellbar war. Außerdem wollte man den Handlungen der Alliierten möglichst enge Grenzen setzen und sah diese folglich – dies ergab sich zwangsläufig aus der Kontinuitätstheorie – an die Haager Landkriegsordnung gebunden. In diesem Sinne äußerten sich die deutschen Völkerrechtler schon 1947.32 Und auch als die Staatsrechtslehrerverei-nigung 1954 in Tübingen über „Den deutschen Staat im Jahre 1945 und seither“ disku tierte,33 war dies die fast einhellige Meinung der versammelten Staatsrechts-lehrer. So griffen beide Referenten, der Würzburger Staatsrechtslehrer August Freiherr von der Heydte und der Tübinger Staatsrechtslehrer Günter Dürig, den Standpunkt Kelsens direkt an. Zunächst erklärte von der Heydte, 1932/33 selbst Privata ssistent Kelsens in Köln, dass sich dessen Untergangsthese aus seiner for-malistischen Staatslehre zwangsläufig ergebe. Aus von der Heydtes Sicht durfte der Staat aber nicht auf ein bloßes Normengerüst reduziert werden.34 Auch Dürig kritisierte in seinem Referat den Standpunkt Kelsens als unhaltbar und diesmal

31 Zur Debatte allgemein vgl. Bernhard Diestelkamp, Rechts- und verfassungsgeschichtliche Probleme zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: JuS 20 (1980), S. 401–405, 481–485, 790–796, JuS 21 (1981), S. 96–102, 409–412, 488–494, hier JuS 20 (1980), S. 481–485; Ders., Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Historische Betrachtungen zur Entstehung und Durchsetzung der Theorie vom Fortbestand des Deutschen Reiches als Staat nach 1945, in: ZNR 7 (1985), S. 181–207; Joachim Rückert, Die Beseitigung des Deutschen Reiches – die geschichtliche und rechtsgeschichtliche Dimension einer Schwebelage, in: Anselm Doering-Manteuffel (Hg.): Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 65–94; Möllers, Leviathan (Anm. 5), S. 34–37; Michael Stolleis, Besatzungsherrschaft und Wiederaufbau deutscher Staatlichkeit 1945–1949, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hg.): Handbuch des Staats-rechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Bd. 1: Historische Grundlagen, Heidelberg 2003, S. 269–312, hier S. 283–287; Ders., Staatsbild (Anm. 5), S. 230 f., 240. Zum nationalistischen und unterschwellig ausgrenzenden Charakter dieser Debatte vgl. Dreier, Rezeption (Anm. 21), S. 27 f.

32 Vgl. besonders die Punkte 1 und 3 der Entschließung der deutschen Völkerrechtslehrer auf der Ersten Hamburger Tagung vom 16. bis 17.4.1947, in: Internationales Recht und Diplomatie 1 (1956), S. 143.

33 Vgl. VVDStRL 13 (1955), S. 6–87 (mit Aussprache).34 Vgl. August Freiherr von der Heydte, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, in: ebd.,

S. 6–26, hier S. 10 f.

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mit der Methode der Reinen Rechtslehre als unvereinbar, da dieser entgegen den Grundsätzen seiner eigenen Theorie allein aus den „reinen Faktizitäten“ den Un-tergang des Deutschen Reiches abgeleitet habe. Aus Dürigs Sicht hatte aber der von ihm selbst konstruierte „objektive Geist“ der Deutschen, der sowohl auf dem Fak-tischen als auch auf dem Normativen beruhe, den deutschen Staat nicht unterge-hen lassen.35 Die einzigen Staatsrechtslehrer, die der Kontinuitätstheorie wider-sprachen, waren hier der Jude und Remigrant Hans Nawiasky sowie der Sozialist Wolfgang Abendroth, der den Fortbestand des deutschen Staates lediglich als eine Fiktion verstand.36

Kelsen schien also an dieser Stelle genau das Vorurteil der fehlenden nationalen Zuverlässigkeit zu bestätigen, das man gegenüber Emigranten genauso wie gegen-über Juden hegte. Dass seine Lehre, wie Michael Stolleis es ausdrückt, außerdem ausgerechnet „von Positivisten und Sozialisten, sowjetzonalen, sowjetischen und französischen Autoren vertreten, daß sie im Nürnberger Prozeß zur Grundlage genommen und in Bayern als Vehikel zur Etablierung der Ländersouveränität auf-gegriffen wurde – all dies konnte sie in den Augen der Mehrheit [auch später] nicht empfehlen.“37 Kelsen stützte die Machtposition der Siegermächte und stellte sich damit außerhalb des national bestimmten Konsenses der Staatsrechtslehre, der durch die Präambel des Grundgesetzes genauso wie durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts38 zusätzlich gestützt wurde.

4. Kelsen als Liberaler und als Pluralist

Was sich schon zuvor angedeutet hatte, war in den 1920er Jahren unübersehbar geworden: Liberale Positionen waren in der deutschen Gesellschaft in die Defen-sive geraten. Das gesamte politische System war von einer deutlichen Entliberali-sierung geprägt, was sich äußerlich schon am Wählerschwund der beiden liberalen Parteien zeigte.39 In der Staatsrechtslehre äußerte sich dies darin, dass positivisti-sche Positionen immer mehr an den Rand gedrängt wurden und die Meinungsfüh-rerschaft in den Debatten von Vertretern der jungen antipositivistischen-geistes-wissenschaftlichen Richtung übernommen wurde. Diese Antipositivisten standen meist politisch weit rechts und nahmen das Weimarer System überwiegend als kri-senhaft und chaotisch wahr. Der Weimarer Parteienstaat war aus ihrer Sicht gerade

35 Vgl. Günter Dürig, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, in: ebd., S. 27–58, insbe-sondere S. 27–32.

36 Vgl. Hans Nawiasky (Diskussionsbeitrag), in: ebd., S. 64–67; Wolfgang Abendroth (Diskus-sionsbeitrag), in: ebd., S. 59–63.

37 Stolleis, Besatzungsherrschaft (Anm. 31), S. 286.38 Vgl. z. B. BVerfGE 6, 309 (336).39 Vgl. z. B. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 233–

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nicht in der Lage, die politische Einheit des Volkes zu sichern. Bestimmend wurde für sie stattdessen ein ganzheitliches Denken, das der als Chaos wahrgenommenen Realität vage Heilsvisionen einer alternativen festgefügten, wertgebundenen und harmonischen Ordnung entgegenstellte.40

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es überwiegend zu einer Wiederbelebung der antipositivistischen Weimarer Positionen, die nun allerdings von ihrem anti-parlamentarischen Impetus befreit wurden. Sie wurden so mit der neuen Verfas-sungsordnung des Grundgesetzes kompatibel gemacht; eine grundsätzlich system-kritische Ausrichtung besaßen sie nun also eindeutig nicht mehr. Bestes Beispiel hierfür ist die bereits erwähnte Integrationslehre von Rudolf Smend, die von ihm und seinen Schülern auf normativistische Weise zu einer Theorie des reformfähi-gen bundesdeutschen Verfassungsstaates umgedeutet wurde, ohne allerdings auf die für die 1950er Jahre so wichtigen Begriffe der Integration und der Einheit zu verzichten.41

Das heißt nun freilich nicht, dass die aus Weimar stammenden Positionen da-mit auch generell ihre antiliberale und dezidiert antipluralistische Ausrichtung verloren. Ganz im Gegenteil, die staatsrechtlichen Konzepte, die von der antipo-sitivistischen Richtung vorgedacht worden waren und an die man in den 1950er Jahren anknüpfte, waren von ihrer Grundausrichtung her zumeist konservativ. Im Mittelpunkt stand die Suche nach „haltenden Mächten“ (Hans Freyer), die ein Gegengewicht zur Entpersonalisierung und Entfremdung in der modernen Mas-sengesellschaft darstellen sollten. Traditionelle Werte, Gemeinschaft, Ordnung, ein handlungsfähiger Staat und materielle Rechtsstaatlichkeit waren die zentralen Orientierungspunkte, an denen die Staatsrechtslehrer ihre wissenschaftliche Ar-beit ausrichteten.42

Folglich befanden sich klassisch liberale Positionen in den 1950er Jahren deutlich in der Minderheit. Dies zeigte sich zum einen bei den Debatten zu den Grundrechten, in denen tendenziell die Grenzen des Grundrechtsschutzes ge-genüber den Gemeinschaftsinteressen betont wurden. Auch stellte die Interpre-tation der Grundrechte als Wertordnung ja einen bewussten Gegenentwurf zur liberal-rechtsstaatlichen Grundrechtstheorie dar.43 Auch im Hinblick auf die Dis-kussion um die Wirtschaftsordnung des Grundgesetzes wurden wirtschaftsli-

40 Vgl. an erster Stelle Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Metho-denentwicklung in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechts-wissenschaft im Nationalsozialismus, München 1994; Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (Anm. 14), ins-besondere S. 171–186.

41 Wie Anm. 23.42 Vgl. Günther, Denken (Anm. 3), insbesondere S. 191 f.; allgemein z. B. Axel Schildt / Detlef

Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2009, S. 122–161; Jens Hacke, Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009, S. 17–24.

43 Vgl. Walter Schmidt, Grundrechte – Theorie und Dogmatik seit 1946 in Westdeutsch-land, in: Dieter Simon (Hg.): Rechtswissenschaft in der Bonner Republik. Studien zur Wis-

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berale Standpunkte, die dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft des Bundes-wirtschaftsministers Ludwig Erhard entsprachen, von kaum einem Staatsrechts-lehrer vertreten. Nach den Erfahrungen mit der Weimarer Republik und mit dem Nationalsozialismus sollte die Bundesrepublik aus Sicht der meisten Staatsrechts-lehrer ein starker Staat sein, der sich nicht zurückhielt, um in die Wirtschaft zu in-tervenieren und hier soziale Gerechtigkeit und die Interessen der Gemeinschaft zu wahren.44

Aber auch gegenüber pluralistischen Konzepten hegte die Staatsrechtslehre in den 1950er Jahren noch deutliche Vorbehalte. Zwar setzte sich die Meinung mehr-heitlich durch, dass politische Parteien und Interessenverbände ein wichtiges Ele-ment der modernen Demokratie und der politischen Willensbildung darstellten, zugleich wurde aber auch betont, dass sie sich am Gemeinwohl orientieren müssten und ihr Einfluss nicht überhand nehmen dürfe.45 Somit grenzte noch 1964 der Vor-reiter der Pluralismustheorie in der Bundesrepublik, Ernst Fraenkel, seinen eige-nen Ansatz ausdrücklich von der herrschenden Meinung in der Rechtswissen-schaft ab.46

Hans Kelsen wurde in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre der 1950er Jahre also nicht allein aufgrund von Vorurteilen gegen Juden, Positivisten und Emigran-ten nicht rezipiert, sondern auch weil sein Formalismus und sein Werterelativis-mus genauso wie die politische Grundhaltung, die in seinen Schriften zum Aus-druck kam, mit dem allgemeinen Klima in der Staatsrechtslehre der 1950er Jahre nicht zu vereinbaren waren.

5. Eine junge nachwachsende Staatsrechtslehrergeneration und Hans Kelsen

Das für die 1950er Jahre skizzierte Klima sollte sich in den 1960er Jahren grundle-gend ändern. Nun meldete sich eine neue nachwachsende Generation von Staats-rechtslehrern zu Wort, die mit dem als verkrustet und rückständig wahrgenom-menen Wissenschaftsbetrieb in der Staatsrechtslehre brechen wollte. Die Angehö-rigen dieser jungen, um das Jahr 1930 herum geborenen Staatsrechtslehrer hatten

senschaftsgeschichte der Jurisprudenz, Frankfurt a. M. 1994, S. 188–226; Günther, Denken (Anm. 3), S. 193–195, 202–204.

44 Vgl. Ulrich Scheuner / Adolf Schüle, Staatliche Intervention im Bereich der Wirtschaft, in: VVDStRL 11 (1954), S. 1–152 (mit Aussprache); Günther, Denken (Anm. 3), S. 204–206; zudem Friedrich Kübler, Wirtschaftsrecht in der Bundesrepublik. Versuch einer wissenschaftshistori-schen Bestandsaufnahme, in: Simon, Rechtswissenschaft (Anm. 43), S. 364–389.

45 Vgl. Günther, Denken (Anm. 3), S. 200–202 (mit weiteren Nachweisen); Möllers, Leviathan (Anm. 5), S. 47–50.

46 Vgl. Ernst Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie (1964), in: Ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien, hg. v. Alexander von Brünneck, Frankfurt a. M. 1990, S. 297–325, insbesondere S. 297.

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Nationalsozialismus, Kriegsniederlage und Wiederaufbau auf ganz andere Weise als ihre Lehrer erlebt, so dass nun auch alteingefahrene Vorurteile in den Hinter-grund rückten. Denn während für die Lehrer nach der Erfahrung vom Scheitern der Weimarer Republik noch Fragen nach der Krisenanfälligkeit der parlamenta-rischen Demokratie des Grundgesetzes im Vordergrund gestanden hatten, stellte für die nachwachsende Generation das Grundgesetz schlichtweg die richtige und zugleich alternativlose Antwort auf die jüngste Geschichte dar.47

Angeregt durch ihre Lehrer, erarbeitete sich die junge Generation der Staats-rechtslehrer die theoretischen und methodischen Grundlagen ihres Faches neu. Es wurde gestritten über so grundsätzliche Fragen wie Interpretationsmethoden, die Grundrechtsdogmatik, das Staatsverständnis, das Rechtsstaatsverständnis, das Demokratieverständnis, über das ganz neue Phänomen der Planung und über den immer weiter expandierenden Wohlfahrtsstaat. Ziel der jungen Staatsrechtsleh-rer war es generell, die teilweise noch aus der Zeit des Konstitutionalismus stam-menden Theoreme ihrer Wissenschaftsdisziplin von Grund auf zu überprüfen, sie dann entweder als untauglich zu verwerfen oder sie der sich rasant verändernden Wirklichkeit anzupassen. Auf diese Weise sollte Modernisierung und Fortschritt, an die die Menschen in den 1960er Jahren noch fest glaubten, ermöglicht und zu-gleich mitgestaltet werden.48

Im Gegensatz zur älteren Generation waren unter den jüngeren Staatsrechts-lehrern skeptische Töne gegenüber den politischen Parteien und den Interessen-verbänden nicht mehr zu hören. Staat und Gesellschaft waren aus ihrer Sicht auf vielfältige Weise miteinander verflochten, so dass Parteien und Verbände einen öf-fentlichen Charakter besitzen sollten, wenn sie bei der politischen Willensbildung mitwirkten.49

Während die Lehren von Carl Schmitt und Rudolf Smend noch die 1950er Jahre bestimmt hatten, setzte sich die junge Generation der Staatsrechtslehrer nun auch mit anderen Klassikern der Weimarer Staatsrechtslehre auseinander. Zu diesen gehörten die Antipositivisten Hermann Heller, Erich Kaufmann und Heinrich Triepel.50 Zudem gab es die ersten zaghaften Versuche einer Kelsen-Rezeption. So beriefen sich die beiden aus Tübingen stammenden Verwaltungsrechtler Dietrich Jesch und Hans Heinrich Rupp bei ihren Bemühungen, den parlamentarischen

47 Vgl. Günther, Denken (Anm. 3), S. 211–234.48 Vgl. Günther, Denken (Anm. 3), S. 243–264, 277–283, 295–309.49 Vgl. Konrad Hesse / Gustav E. Kafka, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen

Parteien im modernen Staat, in: VVDStRL 17 (1959), S. 11–117 (mit Aussprache); Gerhard Leib-holz / Günther Winkler, Staat und Verbände, in: VVDStRL 24 (1966), S. 5–124 (mit Aussprache); Günther, Denken (Anm. 3), S. 295–298.

50 Vgl. z. B. Peter Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zu-gleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Geset-zesvorbehalt, Karlsruhe 1962, S. 76–80; Peter Lerche, Stil, Methode, Ansicht. Polemische Bemer-kungen zum Methodenproblem, in: DVBl 76 (1961), S. 690–701; Alexander Hollerbach, Zu Leben und Werk Heinrich Triepels, in: AöR 91 (1966), S. 417–441.

„Jemand, der sich schon vor fünfzig Jahren selbst überholt hatte“

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Gesetzesvorbehalt auf das gesamte Verwaltungshandeln auszudehnen, immer wieder auf die Lehre Hans Kelsens.51 Christoph Schönberger hat darauf hingewie-sen, dass es sich hier – wie häufig bei solchen Rezeptionsvorgängen – im Grunde um ein Missverständnis handelte, Jeschs und Rupps radikale Schlussfolgerungen also mit Kelsen gar nicht zu begründen waren.52 Des Weiteren hatte sich Roman Schnur in seiner Habilitationsschrift über den Gesetzesbegriff, die nie publiziert wurde, auf die Reine Rechtslehre bezogen und war damit in seiner Heidelberger Fakultät auf Widerspruch gestoßen, so dass eine grundlegende Überarbeitung von ihm verlangt wurde. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass sich Schnur mit sei-nem Kummer über den aus seiner Sicht fortbestehenden Antisemitismus unter den Heidelberger Professoren ausgerechnet dem Judenhasser Carl Schmitt anvertraute: „Leider ist es mir nicht gestattet, Kelsen zu zitieren: Kelsen (Jude)“.53

Aber abgesehen von diesen beiden vereinzelten Versuchen kam es auch in den 1960er Jahren nicht zu einer breiteren Kelsen-Rezeption in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre. Dies muss auf den ersten Blick überraschen, da die nun zum Durchbruch kommende pluralistische Grundhaltung mit der Rechtslehre der Wie-ner Schule durchaus kompatibel war. Dass es hierzu trotzdem nicht kam, liegt zu einem großen Teil an dem Netzwerkcharakter der Staatsrechtslehre als Wissen-schaftsdisziplin. Ihre wissenschaftlichen Konzepte und Theorien sind keine genia-len, zeitlosen Entwürfe unabhängiger, großer Einzelpersönlichkeiten, sondern sie entstehen in einem engen Austauschprozess mit Lehrern, Schülern und Kollegen sowie auf der Basis der allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Grundkonstella-tion.54 Die Lehrer der jungen Staatsrechtslehrer, die in den 1960er Jahren auf Pro-fessuren nachrückten, waren nun einmal überwiegend Antipositivisten gewesen und förderten unter ihren Schülern nicht die Auseinandersetzung mit Kelsens Lehre – darauf weist der erwähnte Konflikt von Roman Schnur mit seiner Heidel-berger Fakultät hin. Für die Reine Rechtslehre wirkte es sich hierbei nachteilig aus, dass Kelsen selbst seit Beginn der 1930er Jahre in Deutschland über keine eigene Schülerschaft mehr verfügte, die als Multiplikator seiner Ideen hätte auftreten kön-nen. Außerdem ist von Bedeutung, dass die junge Generation der Staatsrechtsleh-

51 Vgl. Dietrich Jesch, Gesetz und Verwaltung. Eine Problemstudie zum Wandel des Gesetz-mäßigkeitsprinzips, Tübingen 1961; Hans Heinrich Rupp, Grundfragen der heutigen Verwal-tungsrechtslehre. Verwaltungsnorm und Verwaltungsrechtsverhältnis, Tübingen 1965.

52 Vgl. Christoph Schönberger, „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“. Die Entstehung eines grundgesetzabhängigen Verwaltungsrechts in der frühen Bundesrepublik, in: Michael Stolleis (Hg.): Das Bonner Grundgesetz. Altes Recht und neue Verfassung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland (1949–1969), Berlin 2006, S. 53–84, hier S. 79, Anm. 120; zudem Hans Peter Ipsen, Die Verhandlungen von 1949 (Heidelberg) bis 1971 (Re-gensburg), in: AöR 97 (1972), S. 375–417, hier S. 409–413; Günther, Denken (Anm. 3), S. 257–267.

53 Roman Schnur an Carl Schmitt, 18.2.1961, in: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abtei-lung Rheinland, Düsseldorf, NL Carl Schmitt, RW 265, 14332.

54 Vgl. hierzu vor allem den wissenschaftstheoretischen Ansatz von Ludwik Fleck, Entste-hung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. v. Lothar Schäfer / Thomas Schnelle, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1999.

Frieder Günther

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rer den Kampf um die richtigen Werte, der schon die 1950er Jahre geprägt hatte, durchaus mit geradezu missionarischem Eifer fortsetzte – wie beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Schülerkreis um Carl Schmitt zeigte.55 Für diesen Kampf um die Werte war die betont wertrelativistische Theorie von Kelsen natür-lich gänzlich untauglich.

Es bleibt uns aus historischer Perspektive also nur zu konstatieren, dass eine Re-zeption Hans Kelsens in den 1960er Jahren – genauso wie ganz überwiegend bis in die 1980er Jahre hinein – in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre nicht stattge-funden hat, obwohl seine betont liberale und pluralistische Lehre wohl an sich in die Umbruchstimmung der Zeit gepasst hätte. Diese Zeit unterscheidet sich somit grundlegend von den 1950er Jahren, als es aufgrund verbreiteter Vorbehalte Juden, Emigranten, Pluralisten und Linksliberale besonders schwer hatten. Insgesamt ist die ausgebliebene Kelsen-Rezeption ein anschauliches Beispiel, wie das Erbe von Weimar und des Nationalsozialismus noch weit die Geschichte der Bundesrepu-blik durchzogen hat und in diesem Fall erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre durch neue Einflüsse ersetzt wurde. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten unserer Geschichte, dass diese neuen Einflüsse wiederum im Wesentlichen auf der Wei-marer Zeit beruhten, indem sie erneut eine Rezeption, nämlich eine Rezeption von Kelsens Werk aus den 1920er und frühen 1930er Jahren darstellten.56

55 Vgl. Günther, Denken (Anm. 3), S. 264–276, 309–319; Meinel, Jurist (Anm. 15), S. 400–429.56 Diese Kelsen-Rezeption setzte mit der Dissertation von Horst Dreier (vgl. Ders., Rechts-

lehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986) ein und be-gann sich in den 1990er Jahren auszubreiten. Vgl. Lepsius, Wiederentdeckung (Anm. 5), S. 371 f.; Dreier, Rezeption (Anm. 21), S. 30–33.

„Jemand, der sich schon vor fünfzig Jahren selbst überholt hatte“