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GILLES DELEUZE ∙ FRANCIS BACON
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DELEUZE Francis Bacon v3 - fink.de · Gilles Deleuze FRANCIS BACON: LOGIK DER SENSATION Aus dem Französischen von Joseph Vogl Wilhelm Fink

Aug 16, 2018

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GILLES DELEUZE ∙ FRANCIS BACON

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Gilles Deleuze

FRANCIS BAC ON:LO GIK DER SENSATION

Aus dem Französischenvon Joseph Vogl

Wilhelm Fink

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Titel der französischen Ausgabe:Gilles Deleuze, Francis Bacon – Logique de la sensation

© Editions de Seuil, 2002

Ursprünglich erschien dieser Text im Original 1981 in den Éditions de la Différence. Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 1995 bei Wilhelm Fink. Beide Ausgaben waren

von einem Band mit Abbildungen begleitet, die in dieser Neuausgabe entfallen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung

einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien,

soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-6007-3

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Inhalt

Vorwort .......................................................................................... 7

I. Das Rund, die Bahn ........................................................... 9

II. Anmerkung über das Verhältnis der alten Malerei zur Figuration ................................................. 14

III. Die Athletik ....................................................................... 17

IV. Der Körper, das Fleisch und der Geist, das Tier-Werden ................................................................ 23

V. Zusammenfassende Anmerkung: Perioden und Aspekte bei Bacon ................................. 29

VI. Malerei und Sensation ................................................... 35

VII. Die Hysterie ........................................................................ 43

VIII. Die Kräfte malen .............................................................. 53

IX. Paare und Triptychen ..................................................... 60

X. Anmerkung: Was ist ein Triptychon? ......................... 67

XI. Vor dem Malen: das Gemälde ... .................................... 76

XII. Das Diagramm .................................................................... 86

XIII. Die Analogie ...................................................................... 97

XIV. Jeder Maler resümiert die Geschichte der Malerei auf seine Weise ................................................. 106

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6 Inhalt

XV. Bacons Weg ......................................................................... 118

XVI. Anmerkung über die Farbe ............................................ 127

XVII. Auge und Hand .................................................................. 135

Verzeichnis der Bilder in der Reihenfolge ihrer Erwähnung im Text ........................................................... 143

Ausführliches Inhaltsverzeichnis ......................................... 149

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Vorwort

Jede der folgenden Rubriken betrachtet einen Aspekt von Bacons Ge-mälden in einer Anordnung, die vom Einfacheren zum Komplexeren reicht. Diese Ordnung aber ist relativ und gilt nur hinsichtlich einer allgemeinen Logik der Sensation.

Es versteht sich von selbst, dass in Wirklichkeit alle Aspekte neben-einander koexistieren. Sie konvergieren in der Farbe, in der »Farbemp-findung« als dem Gipfelpunkt dieser Logik. Jeder dieser Aspekte kann als Thema für einen bestimmten Abschnitt in der Geschichte der Ma-lerei dienen.

Die zitierten Bilder sind allesamt mit einer Nummer bezeichnet, unter der man am Ende des Bandes genauere Angaben findet.

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KAPITEL I

Das Rund, die Bahn

Ein Rund begrenzt oft den Ort, an dem die Person, d. h. die Figur, sitzt. Sitzt, liegt, kauert oder sonstwas. Dieses Rund, dieses Oval nimmt mehr oder weniger Raum ein: Es kann die Ränder eines Gemäldes überragen, im Zentrum eines Triptychons liegen usw... Oft wird es verdoppelt oder ersetzt durch das Rund des Stuhls, auf dem die Person sitzt, durch das Oval des Bettes, auf dem die Person liegt. Es ist in den Punkten verstreut, die einen Teil des Körpers der Person konturieren, oder in den kreisen-den Linien, die die Körper umschließen. Aber selbst die beiden Bauern bilden eine Figur nur im Verhältnis zu einer Erde, die fest vom Oval eines Topfes eingefasst ist. Kurz, das Gemälde enthält eine Bahn, eine Art Zirkusarena als Schauplatz. Es ist dies ein ganz einfaches Verfahren, das in der Isolierung der Figur besteht. Es gibt andere Verfahren zur Isolierung: die Figur in einen Kubus stellen oder eher in ein Parallelflach aus Glas oder Eis; sie auf eine Schiene, auf eine langgezogene Stange festkleben, gleichsam auf den magnetischen Bogen eines unendlichen Kreises; all diese Mittel – das Rund, den Kubus und die Stange – mit-einander kombinieren, wie in jenen ausladenden und geschwungenen Sesseln bei Bacon. Dies sind Orte, Schauplätze. Jedenfalls verbirgt Ba-con nicht den nahezu rudimentären Charakter dieser Verfahren, trotz der Subtilitäten ihrer Kombinationen. Wesentlich ist, dass sie die Figur nicht zur Bewegungslosigkeit nötigen; im Gegenteil, sie müssen eine Art Fortschreiten, eine Art Sondierung der Figur auf dem Schauplatz oder auf ihr selbst spürbar machen. Dies ist ein Operationsfeld. Das Verhältnis der Figur zu ihrem isolierenden Ort oder Schauplatz defi-niert ein Faktum: Tatsache ist..., was stattfindet... Und die derart isolier-te Figur wird zu einem Bild, zu einem Ikon.

Es ist nicht nur das Gemälde eine isolierte Realität (ein Faktum), es hat nicht nur das Triptychon drei isolierte Tafeln, die man keinesfalls im selben Rahmen vereinigen darf – es ist vielmehr die Figur selber im Gemälde durch das Rund oder das Parallelflach isoliert. Warum? Bacon sagt es immer wieder: um den figurativen, illustrativen, narrativen Cha-rakter zu bannen, den die Figur notwendig besäße, wäre sie nicht iso-

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10 I. Das Rund, die Bahn

liert. Die Malerei kann weder ein Modell wiedergeben, noch hat sie eine Geschichte zu erzählen. Folglich stehen ihr gleichsam zwei mögliche Wege zur Verfügung, um dem Figurativen zu entkommen: auf die reine Form hin, durch Abstraktion; oder auf ein reines Figurales hin, durch Extrahieren oder Isolierung. Wenn sich der Maler an die Figur hält, wenn er den zweiten Weg nimmt, so wird er dies tun, um dem Figura-tiven das »Figurale« entgegenzuhalten1. Die Isolierung der Figur wird die erste Bedingung sein. Das Figurative (die Repräsentation) impliziert nämlich den Bezug eines Bildes auf ein Objekt, das es illustrieren soll; sie impliziert aber auch den Bezug eines Bildes zu anderen Bildern in einem Kompositionszusammenhang, der eben jedem Bild sein Objekt verschafft. Die Narration ist das Korrelat zur Illustration. Zwischen zwei Figuren schleicht sich stets eine Geschichte ein – oder versucht dies wenigstens –, um den illustrierten Zusammenhang zu beleben.2 Isolie-rung ist also das einfachste, notwendige, aber nicht hinreichende Mittel, um mit der Repräsentation zu brechen, die Narration zu zerschlagen, die Illustration zu verhindern, die Figur zu befreien: sich an das Faktum zu halten.

Natürlich ist das Problem komplizierter: Gibt es nicht einen anderen Typ von Beziehungen zwischen Figuren, einen Typ, der nicht narrativ wäre und auf keinerlei Figuration hinauslaufen würde? Verschiedene Figuren, die auf demselben Faktum emporwachsen, ein und demselben einzigartigen Faktum zugehören würden, anstatt eine Geschichte zu erzählen und auf unterschiedliche Objekte in einem Figurationszusam-menhang zu verweisen? Nichtnarrative Beziehungen zwischen Figuren und nicht-illustrative Beziehungen zwischen den Figuren und dem Fak-tum? Immer wieder hat Bacon Figurenpaare hergestellt, die keinerlei Geschichte erzählen. Und mehr noch weisen die separaten Tafeln eines Triptychons einen intensiven Bezug untereinander auf, wenngleich die-ser Bezug nichts Narratives an sich hat. In aller Bescheidenheit räumt Bacon ein, dass es der klassischen Malerei oft gelungen sei, diesen an-deren Typ von Beziehungen zwischen Figuren zu entwerfen, und dass dies wiederum die Aufgabe der künftigen Malerei sei: »Natürlich zeigen

1 J.-F. Lyotard gebraucht das Wort »Figural« als Substantiv und als Gegensatz zum »Figurativen«; vgl. Discours, Figure, Paris 1986.

2 Vgl. David Sylvester, Gespräche mit Francis Bacon, München 1982 (The brutality of fact. Interviews with Francis Bacon, London 1987). Die Kritik am »Figurativen« (das »illus-trativ« und »narrativ« zugleich ist) zieht sich durch dieses Buch, das wir im Folgenden mit der Abkürzung G zitieren werden.

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I. Das Rund, die Bahn 11

viele der bedeutendsten Gemälde, die je gemacht wurden, eine Reihe von Figuren auf einer Leinwand, und natürlich sehnt sich jeder Maler danach, das auch zu tun. Aber [...] die Geschichte, die sich zwischen zwei Figuren abspielt, [beginnt schon] die Möglichkeit dessen zu ver-mindern, was man mit der Malerei selbst tun kann, und das ist eine sehr große Schwierigkeit. Doch jeden Moment kann jemand kommen, der begriffen hat, wie man eine Reihe von Figuren auf der Leinwand unter-bringt«.3 Wie also wird dieser andere Typ von Beziehungen zwischen gepaarten oder unterschiedenen Figuren beschaffen sein? Nennen wir diese neuen Beziehungen matters of fact, im Gegensatz zu intelligiblen Relationen (von Objekten oder Ideen). Selbst wenn man einräumt, dass Bacon dieses Gebiet bereits weitgehend erschlossen hat, so geschah dies unter Gesichtspunkten, die komplexer sind als die, wie wir sie gegen-wärtig betrachten.

Wir sind immer noch beim bloßen Gesichtspunkt der Isolation. Eine Figur ist isoliert auf der Bahn, auf dem Stuhl, dem Bett oder dem Sessel, im Rund oder Parallelflach. Sie nimmt nur einen Teil des Gemäldes ein. Womit also ist der Rest des Gemäldes gefüllt? Eine gewisse Anzahl von Möglichkeiten ist bereits erledigt oder ohne Interesse für Bacon. Was den Rest des Gemäldes ausfüllt, wird keine Landschaft als Korrelat der Figur sein, kein Grund, aus dem die Form hervortreten würde, kein Informelles, Hell-Dunkel, Dicke des Farbauftrags, auf dem sich Schatten abzeichnen, keine Textur, in der sich Variationen abspielen würden. Wir sind jedoch vorschnell. Es gibt nämlich im frühen Werk Landschafts-figuren wie den Van Gogh von 1957; es gibt äußerst nuancierte Texturen wie Figure in a landscape oder Figure study I von 1945; es gibt Dicken und Dichtigkeiten wie in Head II von 1949; und vor allem gibt es jene Periode von vermutlich zehn Jahren, von der Sylvester sagt, sie sei vom Trüben, vom Dunkel und der Nuance dominiert, bevor Bacon zum Präzisen zurückkommt.4 Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass das Schicksal Umwege nimmt, die ihm zuwiderzulaufen scheinen. Denn die Landschaften Bacons sind die Vorbereitung dessen, was später als ein Zusammenhang von schnellen »unwillkürlichen freien Markierungen« erscheinen wird, die die Leinwand schraffieren, insignifikante Striche ohne illustrative oder narrative Funktion: daher die Bedeutung des Gra-ses, der unwiderruflich grasartige Charakter dieser Landschaften

3 G 24-25.4 G 13-14.

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12 I. Das Rund, die Bahn

(Landscape 1952, Study of figure in a landscape 1952, Study of a baboon 1953 oder Two figures in the grass 1954). Was die Texturen betrifft, das Dichte, Trübe und Verschwommene, so bereiten sie schon die große Technik von lokalen Verwischungen mit Lappen, Handfeger und Bürs-te vor, in der der dicke Farbauftrag auf einer nicht-figurativen Zone verstrichen wird. Nun gehören aber gerade die beiden Techniken der lokalen Verwischung und des insignifikanten Strichs zu einem eigenen System, das weder dem der Landschaft noch des Informellen oder des Hintergrunds entspricht (obwohl sie dank ihrer Autonomie fähig sind, als Landschaft oder Hintergrund oder gar dunkel zu »wirken«).

Tatsächlich wird der Rest des Bildes systematisch von großen Flächen leuchtender, gleichmäßiger und unbewegter Farbe eingenommen. Dünn aufgetragen und hart, haben sie eine strukturierende, verräumli-chende Funktion. Aber sie liegen nicht unter der Figur, hinter oder jenseits von ihr. Sie liegen strikt daneben oder eher rundherum und werden – ebenso wie die Figur selbst – mit und in einem nahen, taktilen oder »haptischen« Blick erfasst. Es gibt in diesem Stadium kein Tiefen- oder Weitenverhältnis, keine Ungewissheit von Licht und Schatten, wenn man von der Figur zu den Farbflächen übergeht. Selbst der Schat-ten, selbst das Schwarz ist nicht dunkel (»ich habe versucht, die Schatten ebenso präsent zu machen wie die Figur«). Wenn die gleichmäßigen Farbflächen als Grund fungieren, so geschieht dies also dank ihrer stren-gen Korrelation mit den Figuren, so ist dies die Korrelation von zwei Sektoren auf derselben gleich nahen Ebene. Diese Korrelation, diese Ver-bindung ist selbst durch den Schauplatz, durch die Bahn oder das Rund, gegeben, der die gemeinsame Grenze beider, ihre Kontur darstellt. Ba-con sagt dies in einer sehr wichtigen Erklärung, auf die wir oft zurück-kommen werden. Er unterscheidet in seiner Malerei drei Grundelemen-te, nämlich die materielle Struktur, das konturierende Rund, das fertige Bild. Wenn man in Begriffen der Bildhauerei denkt, muss man sagen: das Gerüst, der Sockel, der beweglich sein könnte, die Figur, die mit dem Sockel im Gerüst herumspaziert. Wenn man sie illustrieren müss-te (und in gewisser Hinsicht muss man es, wie in Man with a dog von 1953), so könnte man sagen: ein Trottoir, Pfützen, Personen, die aus den Pfützen steigen und ihren »täglichen Rundgang« machen5.

5 Wir zitieren gleich jetzt den vollständigen Text (G 85): »[...] beim Nachdenken darüber, wie sie als Plastiken aussehen müßten, ist mir plötzlich eingefallen, wie ich sie in der Malerei machen könnte, und zwar viel besser. Es wäre eine Art von dichtgefügtem [engl.: structured] Gemälde, auf dem die Figuren gewissermaßen aus einem Fluß von

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I. Das Rund, die Bahn 13

Was in diesem System mit der ägyptischen Kunst, mit der byzantini-schen Kunst etc. zu tun hat, werden wir wiederum erst später untersu-chen können. Gegenwärtig zählt vielmehr jene absolute Nähe, jene ge-meinsame Präzision der Farbfläche, die als Grund fungiert, und der Figur, die als Form fungiert, und zwar auf derselben nahen Blickebene. Und es ist dieses System, diese Koexistenz von zwei nebeneinanderlie-genden Sektoren, die den Raum abschließt, die einen absolut geschlos-senen und drehbaren Raum bildet, und dies in einem viel höheren Maße, als wenn man mit dem Trüben, Dunklen oder Undeutlichen arbeiten würde. Darum gibt es so viel Verschwommenes bei Bacon, es gibt sogar schon zwei Arten von Unschärfe, die alle beide allerdings jenem System hoher Präzision zugehören. Im ersten Fall wird das Ver-schwommene nicht durch Undeutlichkeit erlangt, sondern im Gegenteil durch die Operation, die »darin besteht, die Deutlichkeit durch Deut-lichkeit zu zerstören«6. So etwa der Mann mit Schweinekopf, Self-portrait von 1973. Oder die Behandlung der Zeitungen, zerknüllt oder nicht zerknüllt: Die Druckbuchstaben sind, wie Leiris sagt, deutlich gezeichnet, und gerade ihre mechanische Präzision selbst sperrt sich gegen ihre Lesbarkeit.7 Im anderen Fall erhält man das Verschwomme-ne durch die Techniken der freien Markierungen oder des Verwischens, die ebenfalls zu den präzisen Elementen des Systems gehören (es wird noch weitere Fälle geben).

Fleisch entstünden. Das hört sich an wie ein schrecklich romantischer Einfall, aber ich sehe es sehr formal. – Und was für eine Form würde es haben? – Sie würden wahr-scheinlich auf eine Art von Gerüst stehen [engl.: structure]. – Mehrere Figuren? – Ja, und das wäre vermutlich eine Art Gehsteig, herausgehoben aus seiner naturalistischen Umgebung, aus dem die Figuren sich herausbewegten, als ob sie dem Fleisch entstie-gen, und zwar Figuren, die, wenn möglich, bestimmte Personen auf ihrem täglichen Rundgang darstellen. Ich hoffe Figuren machen zu können, die aus ihrem eigenen Fleisch herauswachsen, mit Melone und Regenschirm, und ich hoffe, sie zu Figuren zu machen, die so ergreifend sind wie eine Kreuzigung.« Und Bacon fügt hinzu (G 110): »Ich hatte an Plastiken auf einer Art von Gerüst gedacht, einem sehr weiträumigen Gerüst, auf dem die Plastiken hin und her gleiten und die Leute sogar nach Belieben die Stellung der Plastik verändern können.«

6 Am Beispiel Tatis, der ebenfalls ein großer Künstler des Flächigen ist, bemerkte André Bazin: »Selten sind die undeutlichen Klangelemente [...]. Im Gegenteil besteht Tatis ganzer Witz darin, die Deutlichkeit mit Deutlichkeit zu zerstören. Die Dialoge sind überhaupt nicht unverständlich, sondern insignifikant, und ihre Insignifikanz wird durch die Präzision selbst offenbart. Dies gelingt Tati durch die Deformierung der Intensitätsbezüge zwischen den Einstellungen [...]« (Qu’est-ce que le cinéma?, Paris 1975, S. 46).

7 Leiris, »Francis Bacon heute», in: Bacon, Picasso, Masson, Frankfurt/M. 1989, S. 14.

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KAPITEL I I

Anmerkung über das Verhältnis der alten Malerei zur Figuration

Die Malerei muss die Figur dem Figurativen entreißen. Aber Bacon macht zwei Gegebenheiten geltend, durch die sich das Verhältnis der alten Malerei zur Figuration oder Illustration von dem der neuen Ma-lerei unterscheidet. Einerseits hat die Fotografie die illustrative und dokumentarische Funktion übernommen, so dass die moderne Malerei diese Funktion, die noch zur alten gehörte, nicht mehr erfüllen muss. Andererseits war die alte Malerei noch durch gewisse »Möglichkeiten der Religion« bedingt, die der Figuration einen pikturalen Sinn gaben, während die moderne Malerei ein atheistisches Spiel ist.8

Es ist jedoch nicht gewiss, dass diese beiden Ideen, die auch Malraux aufgegriffen hat, angemessen sind. Denn die Tätigkeiten stehen in Kon-kurrenz zueinander und begnügen sich weniger damit, jeweils die auf-gegebene Rolle einer anderen zu erfüllen. Man kann sich keine Tätigkeit vorstellen, die die von einer höheren Kunst aufgegebene Funktion über-nehmen würde. Das Foto und selbst der Schnappschuss erheben einen ganz anderen Anspruch als den der Repräsentation, Illustration oder Erzählung. Und wenn Bacon seinerseits von der Fotografie und dem Verhältnis Fotografie/Malerei spricht, so sagt er sehr viel weitreichen-dere Dinge. Zudem scheint die Verbindung zwischen dem pikturalen Element und dem religiösen Gefühl in der alten Malerei ihrerseits schlecht definiert durch die Hypothese einer figurativen Funktion, die bloß durch den Glauben geheiligt würde.

Nehmen wir ein extremes Beispiel, das Begräbnis des Grafen Orgáz von El Greco. Eine Horizontale teilt das Gemälde in zwei Teile, in einen unteren und einen oberen, in einen irdischen und einen himmlischen. Und im unteren Teil gibt es zwar eine Figuration oder Erzählung, die das Begräbnis des Grafen wiedergibt, obwohl bereits alle Koeffizienten

8 Vgl. G 29-30 (Bacon fragt, warum Velasquez so nahe an der »Figuration« bleiben konnte. Und er antwortet, dass einerseits die Fotografie nicht existierte; und dass die Malerei andererseits an ein – wenn auch vages – religiöses Gefühl gebunden war).

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II. Anmerkung über das Verhältnis der alten Malerei zur Figuration 15

der Deformation der Körper – und insbesondere der Längsdehnung – am Werk sind. Oben aber, wo der Graf von Christus empfangen wird, geschieht eine irrsinnige Befreiung, eine totale Entfesselung: Die Figu-ren richten sich auf und dehnen sich, verfeinern sich maßlos, schran-kenlos. Allem Anschein entgegen gibt es keine Geschichte mehr zu erzählen, die Figuren sind von ihrer repräsentativen Rolle befreit, sie treten unmittelbar in einen Bezug zu einer Ordnung himmlischer Sen-sationen. Und dies ist es bereits, was eine christliche Malerei im religiö-sen Gefühl gefunden hat: einen spezifisch pikturalen Atheismus, in dem man die Idee buchstäblich nehmen konnte, dass Gott nicht dargestellt werden durfte. Und in der Tat reißen sich mit Gott, aber auch mit Chris-tus, mit der Heiligen Jungfrau und auch mit der Hölle die Linien, Far-ben, Bewegungen von den Ansprüchen der Repräsentation los. Die Figuren richten sich auf oder biegen und verrenken sich, frei von jeder Figuration. Sie haben nichts mehr wiederzugeben oder zu erzählen, da sie sich damit begnügen, in diesem Gebiet auf den bestehenden Code der Kirche zu verweisen. Sie haben nun ihrerseits nurmehr mit himm-lischen, höllischen oder irdischen »Sensationen« zu tun. Man wird alles dem Code unterwerfen, man wird das religiöse Gefühl mit allen Farben der Welt malen. Man darf nicht sagen, »wenn Gott nicht ist, ist alles erlaubt«. Ganz im Gegenteil. Denn mit Gott ist alles erlaubt. Nicht nur in moralischer Hinsicht, da die Gewalttaten und Schändlichkeiten ja stets eine heilige Rechtfertigung finden. Sondern auch – was viel wich-tiger ist – in ästhetischer Hinsicht, weil die göttlichen Figuren von einer freien schöpferischen Arbeit beseelt sind, von einer Phantasie, die sich alles erlaubt. Der Körper Christi wird wahrhaftig von einer teuflischen Inspiration verfolgt, die ihn durch alle »Empfindungsbereiche«, alle »verschiedenen Sensationsebenen« treibt. Zwei Beispiele noch: der Christus von Giotto, der in einen Papierdrachen am Himmel, ein regel-rechtes Flugzeug verwandelt ist und die Stigmata an den Heiligen Fran-ziskus aussendet, während die gestrichelten Linien des Wegs dieser Stigmata gleichsam freie Markierungen sind, mit denen der Heilige die Fäden des Drachen-Flugzeugs bedient. Oder die Erschaffung der Tiere bei Tintoretto: Gott ist wie ein Starter, der das Signal für ein Handicap-rennen gibt, bei dem die Vögel und die Fische als erste loslaufen, wäh-rend der Hund, die Hasen, der Hirsch, die Kuh und das Einhorn warten, bis sie an der Reihe sind.

Man kann nicht sagen, dass das religiöse Gefühl die Figuration in der alten Malerei stützte: im Gegenteil, es ermöglichte eine Befreiung der